Donnerstag, 13. Oktober 2022

Wissenschaft und Moral und Recht.

aus spektrum.de, 8. 10. 2022                                                                                                        zu öffentliche Angelegenheiten

von Matthias Warkus

Als der Genter Chemieprofessor August Kekulé 1861 einmal an seinem Schreibtisch einnickte, erschienen ihm im Traum tanzende Kohlenstoff- und Wasserstoffatome sowie ein Ouroboros, eine mythische Schlange, die sich kreisförmig krümmt und in den eigenen Schwanz beißt. Der Traum, so hat Kekulé zumindest behauptet, brachte ihn zur entscheidenden Einsicht in die ringförmige Struktur des Benzolmoleküls – einer der großen Durchbrüche in der Geschichte der organischen Chemie.

Diese Anekdote war früher populärer als heute, aber Sie kennen sie vielleicht auch noch aus dem Chemieunterricht. Sie kann als beispielhafte Geschichte eines wissenschaftlichen Einfalls gelten. Andere legendäre Erzählungen sind mehr oder minder vergleichbar: Archimedes von Syrakus, der die Badewanne zum Überlaufen bringt (»Heureka!«) oder Isaac Newton, der den Apfel fallen sieht. Kekulés Geschichte ist aber deswegen so interessant, weil sie sich im Reich des Traums, der Fantasie und des Fantastischen abspielt. Von einer Schlange zu träumen hat nichts mit der Praxis chemischen Experimentierens zu tun.

Einfälle kann man auch ganz spontan haben, ohne Badewannen, Äpfel oder Träume. Ein geflügeltes Wort in der philosophischen Wissenschaftstheorie ist, dass es reichen kann, einfach morgens einen besonders guten Kaffee zu trinken oder sich gedankenverloren zu rasieren. Der springende Punkt, der aus einem Einfall Wissenschaft macht, ist nicht, dass man ihn überhaupt hat, sondern dass man versucht zu begründen, warum an der Idee etwas dran ist.

Nach dem einflussreichen Wissenschaftstheoretiker Hans Reichenbach (1891–1953) unterscheidet man zwischen dem so genannten Entdeckungskontext (context of discovery) und dem Begründungskontext (context of justification) einer Theorie. Das eine hat mit dem anderen nach klassischer Vorstellung nichts zu tun: Auf eine Theorie kommt man halt irgendwie, und sei es im Traum – die Begründung ihrer Geltung ist etwas ganz anderes. Um zu überprüfen, ob die These vom ringförmig konfigurierten Benzol haltbar ist, versucht man nicht, Kekulés Einschlafsituation zu reproduzieren, in der Hoffnung, dass dann wieder der Ouroboros auftaucht. Stattdessen begründet man aus dem bereits vorhandenen Chemiewissen heraus, wie das mit dem Ring funktionieren könnte. Oder man benutzt zum Beispiel ein Röntgendiffraktometer, um experimentell »nachzuschauen«.

Mit dem Unterschied zwischen Entdeckungs- und Begründungskontext hat sich die Wissenschaftstheorie seit etwa 1930 intensiv beschäftigt, unter anderem, um ihren eigenen Gegenstandsbereich genauer abzustecken. In der Regel geht man nämlich davon aus, dass es für das Entdecken von Theorien keine Gesetzmäßigkeiten gibt und es auch keinen methodischen Vorschriften genügen muss: Es ist sozusagen ein anarchischer und moralfreier Prozess, und eine Theorie darf nie danach bewertet werden, wie genau sie entdeckt wurde. Für das Begründen von Theorien hingegen gibt es methodische Vorschriften – beispielsweise die Regeln, nach denen mathematische Beweise geführt werden, oder die verschiedenen Vorschläge dafür, nach welchen Kriterien konkurrierende theoretische Erklärungen für experimentelle Messungen in den Naturwissenschaften verglichen werden sollten.

Ganz allgemein spricht man in der Philosophie – auch außerhalb der Wissenschaftstheorie – statt von Entdeckungs- und Begründungskontext von Genese und Geltung. Bei philosophischen Erkenntnissen lässt sich häufig genauso wie bei anderen wissenschaftlichen Theorien zwischen dem Weg ihres Zustandekommens und dem Weg ihrer Begründung unterscheiden. Die Vorstellung, dass die Genese gar keine Rolle spielen und es lediglich um die Begründung, die Geltung gehen sollte, steht jedoch nicht unwidersprochen. Berühmt ist beispielsweise die Kritik Friedrich Nietzsches (1844–1900) an geltungsbasierten Vorstellungen von Moral. Für ihn entscheidet sich, vereinfacht gesagt, der Wert eines moralischen Urteils an seiner Genese: daran, welche Art von Person auf welche Weise und mit welchem geschichtlichen Hintergrund zu diesem Urteil gekommen ist.


Nota. - Lieber Herr Warkus, ein moralisches Urteil ist weder die Entdeckung eines Natur-gesetzes noch die Überprüfung der Gründe, aus denen es Geltung gebietet. Moralische Urteile haben keine Gründe. Sie gelten qua Einfall und sind evident. Es wird so 'entdeckt', als ob es immer schon gegolten habe. Und wenn sein Entdecker ein Ehrenmann ist, wird er spätestens nach Ermahnung einräumen, dass es wegen des Vorgangs seiner 'Entdeckung' lediglich für ihn selber 'gilt'. 

Sollte er dennoch der Versuchung nicht widerstehen, seinem Gewissen - so nennt man das nämlich - subjektübergreifende Geltung zuzuschreiben, würde man ihn nicht ehrenhaft, sondern anmaßend und größenwahnsinnig nennen. 

Er hätte stattdessen nach Gründen suchen können, weshalb auch andere und womöglich alle Menschen seinem Urteil folgen sollten. Auf deren Gewissen kann er freilich nicht bau-en, denn es ist ihres und er kann es nicht kennen. Aber er könnte im gesunden Menschen-verstand nachsuchen und finden, dass es für jedermann von Vorteil wäre, wenn alle seinen Rat beherzigten. Er könnte sagen: Es ist ein Gebot der sozialen Klugheit, aus meiner Ge-wissensentscheidung ein allgemeingültiges Gesetz zu machen. 

Bliebe nur noch, den legitimierten Gesetzesgeber von der Vernünftigkeit seiner sozialen Erwägungen zu überzeugen. Da ginge es dann um Politik, und die fragt nach dem Recht für alle und nicht nach dem Gewissen der Einzelnen; das überlässt er den Konfessionen, und die sind im Rechtsstaat Privatsache.
JE

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