Sonntag, 16. Juli 2023

Ist Rhythmus der Stoff des Ästhetischen?

Francis Difronzo, nothing starts tomorrow, part5                                                                                                                zu Geschmackssachen
                        
Unter dem Titel Das Gefühl für Maß und Verhältnis brachte die Neue Zürcher Zeitung am 12. 12. 2009 einen Beitrag des schweizer Kulturhistorikers Dr. Peter Meyer aus Zollikofen. Er vertritt die Auffassung, der - spezifisch menschliche - Sinn für das Ästhetische stamme entwicklungsgeschichtlich aus dem Erleben des Rhythmus; nämlich "das ganzheitliche Er-lebnis stofflich-formaler Spannung und Harmonie".

"Ein Geschenk der Evolution steht am Anfang aller Kunst: der Rhythmus-Sinn. Darin wurzelt unsere Fähigkeit, Mass, Form und Proportion als ästhetische Gestalten sinnlich wahrzunehmen und lustvoll zu erleben. Das Erfahren und Erfinden rhythmischer Formbe-ziehungen ist ein Urtrieb, zu dessen Befriedigung wir uns in das Abenteuer Kunst stürzen.

Es ist wohl übertrieben zu glauben, wir seien alle Künstler, wie es uns Beuys weismachen wollte, aber etwas scheint an dieser merkwürdigen Behauptung dennoch dran zu sein, wenn auch vielleicht nicht in dem Sinn, wie es Beuys gemeint hatte. Mehr in unserem Leben, als wir denken, hat nämlich mehr mit Kunst zu tun, als wir denken. Mit Kunst, sage ich, nicht mit dem Kunstwerk, das wir oft unbedacht mit Kunst gleichsetzen, obwohl das Kunstwerk doch nur die stoffliche Manifestation eines zugrundeliegenden Prinzips Kunst ist, dessen Vorhandensein und Wirken wir gar nicht einmal wahrnehmen könnten, wenn wir nicht in gewisser Weise dafür prädisponiert wären. Und zwar – das Wort muss heraus – genetisch prädisponiert! Ich weiss nur zu gut, dass viele das für Unsinn halten. Sie behaupten, dass unsere Kunstkompetenz ausschliesslich eine Sache der Herkunft, des gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes und der darin herrschenden Konventionen sei. Das will ich gar nicht bestreiten, wenigstens nicht, solange es bloss um das Wie der Kunst geht. Wagen wir aber die Frage, weshalb und aus welchem Antrieb wir denn überhaupt etwas wie Kunst betrei-ben, dann finden wir auf die Frage kaum eine andere Antwort als die, dass wir wohl gene-tisch dazu ausgestattet, also prädisponiert sein müssen.

...Immer wieder wird das Schöne auch mit dem Ästhetischen gleichgesetzt. Das Ästhetische ist aber etwas anderes. Vereinfacht könnte man vielleicht sagen, dass das Ästhetische in der besonderen Art des Umgangs mit dem Schönen liegt, und das heißt natürlich, dass auch das weniger Schöne, möglicherweise auch das Hässliche in das ästhetische Spiel mit einbezogen werden können. Das Schöne wird in dieser Betrachtungsweise zum ästhetischen Sonderfall, der auf einer imaginären ästhetischen Werteskala zuoberst steht. Doch ist auch das Hässli-che Teil des Ästhetischen, bloß steht es am anderen Ende der Skala. Das Ästhetische ist also nicht dadurch charakterisiert, dass es sich an den Bereich des Schönen hält, sondern dass es aus Schön und Hässlich ein interessantes ästhetisches Spannungsfeld erzeugt, das die axiologischen Unterschiede vergessen macht."

Thomas Anshutz, Stahlarbeiter, Mittagspause 

 André Devambez, Der Angriff, 1902/3


Luís Falero, Fausts Traum

cy twombly,  untitled 1985, 3

Johannes Bosboom, Dom zu Trier

Gerhard Richter, 4 Panes of Glass 1967.

Jacques-Louis David, Marats Tod.

Nota. - Ich bin ja auf der Suche nach dem Ursprung des spezifisch-Ästhetischen, weil es wohl das ist, was uns Menschen von den Tieren spezifisch unterscheidet. Aus heiterm Him-mel wird es kaum gefallen sein, denn dafür hat es in unserer Gattungsgeschichte viel zu lange gedauert, bis es sich zu identifizierbarer Gestalt herausgearbeitet hat. Es ist nicht "emergiert", sondern wird sich wohl auf älteren Grundlagen gebildet, aus älterem Material aus gebildet haben. Ich sage es, wie ich es meine: Es ist mit dem "Geist", der seinerseits als Kompensation für die verlorenen Selbstverständlichkeiten unserer früheren Umweltnische aufgetreten ist, selber entstanden - als der 'Teil', der sich zu nichts Nützlichem gebrauchen ließ; und erst wieder zu den verdienten Würden kam, als der eingetretene materielle Über-fluss das Menschenleben aus der selbstverschuldeten Knechtschaft von Nutz und Zwek-ken freigesetzt hat.

Und dass es dem Autor gelungen ist, von der unnützen Seite des Geistes auf das "anima-lisch Triebhafte" zurückzukommen, lässt keine evolutionistischen Wünsche offen.

 JE, 16. 10. 13

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