Dienstag, 11. Juli 2023

Immersion - ein maschinelles Kunstkriterium.

 Love Parade
aus scinexx.de                                                                                                                               zu Geschmackssachen

Künstliche Intelligenz erkennt Hit-Potenzial von Songs
Neuronale Daten und maschinelles Lernen identifizieren Hits mit 97 Prozent Trefferquote


Hit oder Flop? Ob ein Popsong das Zeug zu einem Hit hat, lässt sich an der neurophysio-logischen Reaktion der Zuhörenden ablesen, wie eine Studie enthüllt. In ihr konnten For-schende mit einer Treffsicherheit von 97 Prozent vorhersagen, welche von den Testper-sonen gehörten Musikstücke Hits sind. Dazu maßen sie bestimmte neurophysiologische Parameter und kombinierten diese Daten anschließend mit maschinellem Lernen. Der Ansatz könnte Streamingdiensten, Radiosendern und Co. zukünftig helfen, ihren Nutzern passende Musikstücke zu präsentieren.

Jeden Tag werden tausende neuer Songs veröffentlicht. Streamingdienste und Radiosender stehen also vor der Qual der Wahl, welche davon sie ihren Nutzern präsentieren sollen. Bis-herige Techniken, um die Beliebtheit von Musikstücken vorherzusagen, basieren beispiels-weise auf Nutzerbefragungen und formalen Merkmalen der Musik. Allerdings haben sie eine geringe Trefferquote. Das liegt unter anderem daran, dass Musik mehr ist, als die Summe ihrer formalen Merkmale: Sie kann große Gefühle auslösen, Gänsehaut verursa-chen und in unserem Gehirn ein ganzes Feuerwerk an Signalen hervorrufen.

Genau deshalb fällt es vielen Menschen schwer, auf einer vorgegebenen Skala zu bewerten, wie gut ihnen ein Song gefällt – zumal die Empfindungen beim Hören stets von der aktuellen Stimmung abhängig sind.

Neurophysiologische Immersion als Prognose-Tool

Als Alternative experimentieren Forschende damit, die Hirnströme und die physiologischen Reaktionen der Musikhörenden zu analysieren. Diesen Ansatz hat sich auch ein Team um Sean Merritt von der Claremont Graduate University in Kalifornien zunutze gemacht. Für ihre Messung verwendeten die Forschenden ein kommerziell erhältliches, nicht invasives Gerät, das die Nervenaktivität und Herzfrequenz misst.

Über diese Messwerte lässt sich die Aktivität des parasympathischen Nervensystems ableiten und damit auch, wie stark im Gehirn bestimmte Neurotransmitter wie Oxytocin und Dopamin ausgeschüttet werden. Dies erlaubt Rückschlüsse darüber, wie sehr sich Nutzer gedanklich und emotional in ein Musikstück oder eine virtuelle Umgebung hineinversetzen, die sogenannte Immersion. „Die neurophysiologische Immersion kombiniert Signale, die mit Aufmerksamkeit und emotionaler Resonanz in Verbindung gebracht werden“, erklären Merritt und seine Kollegen.

24 Songs im Test


Das Team nutzte dieses Messverfahren, um die neurophysiologischen Reaktionen von 33 Testpersonen auf 24 aktuelle Songs zu messen, die von einem Musik-Streaming-Dienst bereitgestellt wurden. 13 der Songs hatten über 700.000 Aufrufe und wurden vom Streamingdienst somit als Hits klassifiziert, elf hatten sich mit wenigen zehntausend Aufrufen als Flops erwiesen. Die Stücke stammten aus vielfältigen Genres, darunter, Rock, Hip-Hop und Elektro-Tanzmusik (EDM).

Zusätzlich befragten die Forscher ihre Testpersonen danach, wie gut ihnen das jeweilige Stück gefiel, ob sie es bereits vorher kannten und ob sie es noch einmal hören oder weiterempfehlen würden. Um Verzerrungen zu vermeiden, bezogen sie in die Analyse nur Lieder ein, die der jeweiligen Person unbekannt waren.

97 Prozent Trefferquote

Im Einklang mit früheren Studien zeigte sich, dass die von den Nutzern angegebenen subjektiven Präferenzen nicht aussagekräftig waren: „Bei unbekannten Liedern war das selbstberichtete Gefallen für Hits und Flops statistisch identisch“, schreibt das Team. Die neurophysiologischen Daten der Testpersonen dagegen waren aufschlussreicher. „Durch die Anwendung von maschinellem Lernen auf neurophysiologische Daten konnten wir Hits nahezu perfekt identifizieren“, berichtet Merritts Kollege Paul Zak.

Das Geheimnis dahinter: Je mehr Immersion ein Musikstück auslöst, desto wahrscheinlicher wird es zum Hit. Nach einer Trainingsphase mit synthetischen Daten, die die Forscher auf Basis der echten Messdaten erstellt hatten, war der Algorithmus in der Lage, Hits mit einer Trefferquote von 97 Prozent vorherzusagen. Bei Anwendung auf die 24 echten Lieder klassifizierte er fast alle korrekt – abgesehen von einem Flop, den er als Hit einstufte.

Emotionale Reaktion entscheidend


„Dass die neuronale Aktivität von 33 Personen vorhersagen kann, ob Millionen von anderen Menschen neue Songs gehört haben, ist ziemlich erstaunlich“, sagt Zak. „Nichts, was auch nur annähernd so genau ist, wurde jemals zuvor gezeigt.“ Bisherige Versuche, die Hittauglichkeit von Songs mithilfe von neurologischen Parametern zu ermitteln, kamen auf maximal 50 Prozent Trefferquote, wie das Team berichtet.

Die Wissenschaftler führen die hohe Prognosegenauigkeit ihrer Methode darauf zurück, dass sie sowohl die Aufmerksamkeit als auch die emotionale Reaktion der Testpersonen erfasst. „Emotionen kennzeichnen den subjektiven Wert einer Erfahrung“, erklären sie. „Unsere Analyse deutet darauf hin, dass emotionale Reaktionen auch mitbestimmen, welche Songs ein Hit werden.“ Einschränkend weisen die Forscher darauf hin, dass sie den Algorithmus bislang nur an 24 echten Songs getestet haben. Sie gehen aber davon aus, dass sich ähnlich gute Ergebnisse auch für andere Musikstücke erzielen lassen.


Werkzeug für Streamingdienste und Co.

Aus Sicht der Forscher könnte sich die Technik zukünftig als wertvolles Hilfsmittel für Streamingdienste und Radiosender erweisen. Auch individuell angepasste Empfehlungen seien denkbar. „Wenn in Zukunft tragbare neurowissenschaftliche Technologien, wie die, die wir für diese Studie verwendet haben, alltäglich werden, könnte dem Publikum auf der Grundlage seiner Neurophysiologie die richtige Unterhaltung geboten werden“, so Zak. (Frontiers in Artificial Intelligence, 2023, doi: 10.3389/frai.2023.1154663)

Quelle: Frontiers
6. Juli 2023
- Elena Bernard/ NPO

Nota. - Die Maschine beurteilt natürlich nicht den künstlerischen Wert der Stücke, sondern ihre Marktchancen. Ihre Algorithmen verzeichnen Erfahrungswerte, nämlich welche Ingre-dienzien zusammenkommen müssen, um von einer größtmöglichen Publikumsquote geli-ked zu werden. Insofern teilt sie uns nichts mit über ästhetische Qualitäten, aber viel über den momentan herrschenden Geschmack. Je länger die untersuchten Zeiträume und je wei-ter die Weltgegenden sind, umso mehr Vermutungen über DEN Geschmack können sie veranlassen - unter Umständen auch die, dass es einen solchen gar nicht gibt. 

Das bleibt abzuwarten. Nämlich welche Ingredienzien wann und wo bei wem neurophy-siologische Immersion auszulösen geeignet sind. Diese ist nun festgestellt als der Stoff des Gefallens. Als nächstes wäre zu prüfen, ob das nur für Popmusik zutrifft oder auch auf anderen ästhetischen Feldern. 
JE


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