Sonntag, 30. Juli 2023

Unbewusst und unterbewusst.


aus derStandard.at, 30. 7. 2023                                                                      zuJochen Ebmeiers Realien

"Wichtige Entscheidungen nicht der Intuition überlassen"
Das Unterbewusste verleitet zu Entscheidungen, die oft nicht in unserem Interesse sind, sagt Stefan Kölsch

Interview von Till Hein

STANDARD: Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das sogenannte Unterbewusste. Was darf man sich darunter vorstellen?

Das Unterbewusste ist ein relativ kleiner, aber wichtiger Teil des Gehirns, der evolutionär entstanden ist. Er hat sich bei den Säugetieren aus dem Riechkolben entwickelt – und neben der Verarbeitung von Geruchsreizen sehr bald viele weitere Funktionen übernommen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Kölsch: Das Wittern von Gefahr. Im Grunde ist das Unterbewusste ein Überlebenssystem. Wenn im Urwald plötzlich ein Tiger aus dem Gebüsch springt, ist es wichtig, dass wir unsere ganze Aufmerksamkeit darauf lenken. Das Unterbewusste nimmt in solchen Situationen das ganze Gehirn unter seine Kontrolle, erzeugt starke Angst – und wir fliehen. Heutzutage macht es uns durch diese Funktion blind: mit Sorgen, Ärger und Vorurteilen. Im Urwald ist das Unterbewusste perfekt. In der modernen Welt jedoch legt es uns oft Fallstricke. Denn häufig verleitet es zu Entscheidungen, die längerfristig nicht in unserem Interesse sind.

Stefan Kölsch, "Die dunkle Seite des Gehirns: Wie wir unser Unterbewusstes
 überlisten und negative Gedankenschleifen ausschalten". 
€ 22,50 / 384 Seiten. Ullstein, Berlin 2022

STANDARD: In Ihrem Buch "Die dunkle Seite des Gehirns" berichten Sie etwa von unbewussten "Höllenspiralen". Hört sich bedrohlich an.

Kölsch: Ja. Aber die Auslöser sind oft banal, zum Beispiel ein Zug, der Verspätung hat. Das Unterbewusste fokussiert dann – so wie im Beispiel mit dem Tiger – voll auf diesen negativen Umstand und legt das rationale Denken lahm. Unsere Ahnen durften in solchen Situationen eben nicht erst überlegen: "Klettere ich jetzt auf diese Palme da, um mich in Sicherheit zu bringen? Oder passt die andere Palme besser zu meinem Lendenschurz?" Wer sich da Zeit zur Reflexion nimmt, wird nicht Vorfahre einer Spezies.

STANDARD: Wo liegt heute das Problem?

Kölsch: Das Unterbewusste reagiert übermäßig stark auf negative Reize. Bleiben wir bei der Ansage einer Zugverspätung auf dem Bahnsteig. Noch bevor wir da überhaupt angefangen haben, bewusst die möglichen Folgen abzusehen, bewertet unser Unterbewusstes die Situation blitzschnell und stuft die Verspätung als Katastrophe ein. Sofort erzeugt es die ersten Ärgerimpulse im Gehirn und bereitet das Ankurbeln einer emotionalen Höllenspirale vor. Um zu differenzieren, hat uns die Evolution das Bewusstsein gegeben, gleichsam als raffiniertes "Hilfsprogramm". Trotzdem lassen wir uns oft vom Unterbewussten steuern ...

STANDARD: … und fliehen dann Hals über Kopf, wie vor einem Tiger?

Kölsch: Nicht unbedingt. Das Unterbewusste schürt sehr oft auch Ärger und Wut – denn früher im Urwald war es gegenüber angreifenden Tieren ja oft auch wichtig, Aggression zu zeigen. Wenn wir uns in der modernen Welt über die Zugverspätung ärgern, erkennen wir diese Wut oft nicht als Regung aus dem Unterbewussten und lassen ihr freien Lauf. Schnell kommen dann Gedanken auf wie: "Schon wieder!", "Fürchterlich!", "Typisch!!" – das vermiest unsere Stimmung und ruft immer neue negative Gedanken hervor. Das Unterbewusste hat die Kontrolle übernommen.

STANDARD: Hatte Freud also recht: Wir werden im Alltag oft von Affekten getrieben, die mit unserem rationalen Denken wenig zu tun haben?

Kölsch: Interessant, dass Sie Freud ansprechen. Ursprünglich sollte Die dunkle Seite des Gehirns mit einer Parallele zwischen Sigmund Freud und Christoph Kolumbus beginnen: Kolumbus gilt bekanntlich als der "Entdecker Amerikas" und Freud als der "Entdecker des Unbewussten". In Wirklichkeit aber hat sich Freud mit seiner Sicht auf das Unbewusste etwa so stark getäuscht wie Kolumbus mit der Annahme, dass er einen Seeweg nach Indien entdeckt habe.

STANDARD: Wie meinen Sie das?


Kölsch: Freud sah im Unbewussten in erster Linie einen Hort primitiver sexueller Triebe und Bedürfnisse, deren verklemmte Verdrängung die Ursache für neurotische Störungen sei. Aber viele seiner Mutmaßungen ließen sich wissenschaftlich nicht erhärten, zum Beispiel der berühmt-berüchtigte "Ödipus-Komplex".

STANDARD: Sind die Inhalte des Unterbewussten bei allen Menschen gleich?

Kölsch: Nein. Sie und ich sind zum Beispiel in unterschiedlichen Familien aufgewachsen und haben schon dadurch individuelle Bindungs- und Persönlichkeitsstile entwickelt. Daher unterscheiden sich auch manche unterbewussten Prozesse bei uns. Ein Teil ist angeboren. Etliche unterbewusste Inhalte werden jedoch erworben, insbesondere in der frühen Kindheit.

STANDARD: Sie schreiben, dass das Unterbewusste seine Entscheidungen anhand von sieben simplen Prinzipien trifft. Zum Beispiel?

Kölsch: Risikovermeidung. US-amerikanische Psychologen haben nachgewiesen: Wenn man Testpersonen zum Beispiel wählen lässt zwischen 45 Euro sicher und der Chance, 100 Euro zu erhalten, wenn bei einem Münzwurf "Zahl" herauskommt, dann wählt die Mehrheit unterbewusst die sicheren 45 Euro. Sie tun dies selbst dann, wenn sie diese Lotterie mehrmals hintereinander spielen können. Das ist eine irrationale Entscheidung. Denn die 50-Prozent-Chance auf 100 Euro hat einen Wert von 50 Euro. Man macht da also ein schlechtes Geschäft, wenn man sich auf seine Intuition verlässt. Aber wenn wir die Wahl haben zwischen dem sicheren Spatz in der Hand und der riskanten Taube auf dem Dach, tendiert unser Unterbewusstes zum Spatz in der Hand.

STANDARD: Gerade bei wichtigen, längerfristigen Entscheidungen soll man der Intuition nicht trauen, schreiben Sie. Stattdessen schlagen Sie vor, die Vorteile und Nachteile jeder Option bewusst zu benoten. Aber mal ehrlich, würden Sie Ihre Lebenspartnerin anhand einer solchen Liste aussuchen: Intelligenz, Aussehen, Humor, Reichtum, jeweils auf einer Skala von eins bis zehn – und die Frau mit den meisten Punkten gewinnt?

Kölsch: Man sollte rational abwägen, statt nur kurzfristig interessante Aspekte im Blick zu haben: super Aussehen, guter Sex, solche Dinge? Entscheidend ist doch: Mit welcher Person kann das Leben auch in Krisen und über lange Zeit hinweg erfüllend sein? Ich warne davor, wichtige Entscheidungen ohne bewusstes Nachdenken allein der Intuition zu überlassen, denn dann werden wir rasch von unterbewussten Abwägungen geleitet – und diese sind oft nicht in unserem ureigenen, langfristigen Interesse. Man kann damit beginnen, sich seine eigenen Werte und Interessen bewusst zu machen und dann abzuwägen, welche Option diesen am besten entspricht.

STANDARD: Weiß man so grundlegende Dinge etwa nicht auswendig?

Kölsch: Erstaunlicherweise geraten sie bei sehr vielen Menschen im Alltag oft in Vergessenheit. Ich empfehle daher, eine persönliche Erklärung der eigenen Werte und Ziele niederzuschreiben. Ich selbst habe da neben "Gesundheit" und "Gerechtigkeit" zum Beispiel auch "Musik" notiert. Wenn ich mir den Zettel morgens ansehe, finde ich gleich viel leichter eine Stunde Zeit, um Geige zu spielen
.


Stefan Kölsch (*1968 in Texas) studierte Psychologie und Soziologie. 2000 promovierte er am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. 2010 wurde er Psychologieprofessor an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 lehrt und forscht er an der Universität Bergen in Norwegen.


Nota. - Jeder von uns macht täglich tausende von Handlungen, derer er sich nicht 'bewusst' wird: so wenig, dass sie in seinem Gehirn keinerlei Gedächtnisspur hinterlassen. Atmen wäre anders gar nicht möglich. Das ist unbewusst und soll es bitte bleiben, weil ich sonst vor lauter Überlegen nicht zum Entscheiden käme. Und von all den Dingen, die ich wissentlich tue, kann ich höchstens zehn (oder fünf?) Prozent in meinem Arbeitsspeicher behalten, wenn ich meinen bürgerlichen Alltag bewältigen soll. Den Rest lasse ich tiefer sacken. Entscheidend ist aber:  Wenn ich will, kann ich danach suchen und mich erinnern. Was Stefan Kölsch das Unterbewusste nennt, müsste ich dabei immer wieder mal aus dem Weg räumen: Das nennt man reflektieren.

Freuds 'Unbewusstes' führt dagegen eine autonomes Sein: Je mehr ich darauf reflektiere, um so tiefer versinkt es im Dunkel, aber wenn auch ich keinen Zugang zu ihm habe, hat es doch jeden erdenklichen Zugang zu mir - denn da es mir nie begegnet, kann ich es auch nicht kontrollieren. Und wenn es mich Dinge tun lässt, derer ich mich schämen sollte, kann ich immer sagen: Derda wars. Der Berufsstand der Psychoanalytiker verdient daran seinen Lebensunterhalt.
JE

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