Montag, 24. Juli 2023

Hören.


 aus spektrum.de, 24. 7. 2023                                                                                        zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien

Was hast du gesagt?
Schwerhörige bemerken meist lange nicht, dass sie andere schlecht verste-hen – und wenn, tragen sie ungerne Hörhilfen. Dabei ist das nicht nur wichtig, um wieder unbeschwert am sozialen Leben teilzuhaben, Hörgeräte verringern auch das Risiko für Demenz.


von Frederik Jötten

Eine mittelgradige Schwerhörigkeit beginnt bei einem Hörverlust von 40 dB. Dies entspricht etwa den Grundgeräuschen in Wohngebieten. Die betroffene Person kann erst Töne mit einer Schallintensität von 40 bis 60 dB hören. Hochgradige Schwerhörigkeit entsteht bei mindestens 60 dB. Dann kann ein Gesprächspartner bei normaler Sprechlautstärke nicht mehr gehört werden

»Sprecht lauter!«

... Ein grundsätzliches Problem: Menschen, die einen Hörverlust erleiden, merken davon lange nichts. »Ein Hörverlust entwickelt sich in der Regel schleichend, so dass die Betroffenen diese Einschränkung nicht bemerken«, sagt die Fachärztin für Phoniatrie und Leiterin der entsprechenden Abteilung an den SLK-Kliniken Heilbronn. »Meistens ist das auch der Grund, warum Betroffene denken, die anderen seien schuld.« Das hat die HNO-Ärztin selbst in der Familie erlebt. Es fiel ihr über Jahre auf, dass ihr Vater immer schlechter hörte, wenn sie mit ihm sprach. Doch er verweigerte einen Hörtest und behauptete stattdessen, dass die anderen Familienmitglieder nuscheln würden. Ein Phänomen, das viele Angehörige von Schwerhörigen kennen – und das in der Anatomie und Physiologie des Hörens begründet ist.

Wie sich Schall in Sprache wandelt

Im Ohr werden Töne schrittweise in elektrische Impulse verwandelt. Das ist die Sprache, die das Gehirn versteht und verarbeiten kann. Zunächst lässt der Schall das Trommelfell schwingen, dann wird diese Bewegung über die Gehörknöchelchen auf die Hörschnecke (Cochlea) übertragen. Es ist gefüllt mit einer Flüssigkeit, der »Endolymphe«, die als Reaktion auf die Schwingung des Trommelfells Wellen schlägt und so feine Härchen bewegt, die sich auf der Oberfläche der so genannten Haarzellen befinden. Dabei liegen je drei Lagen äußere Haarzellen über einer Lage innere Haarzellen. »Die äußeren Haarzellen verstärken leise Geräusche und dämpfen laute«, sagt Annette Limberger. Die inneren Haarzellen dagegen sind die eigentlichen Hörzellen, die die Impulse direkt an das Gehirn weiterleiten. Sie sind in der Hörschnecke so angeordnet, dass die hohen Frequenzen an der Schneckenbasis und die tiefen Frequenzen an der Schneckenspitze wahrgenommen werden.



Wie hören funktioniert | Querschnitt durch das menschliche Ohr mit Cochlea.

»Das ist wie bei Orgelpfeifen, es gibt jeweils Zellen für bestimmte Tonhöhen«, erklärt Mark Praetorius, Professor für Otologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die räumliche Abfolge der Haarzellen bestimmt, wie die Schwerhörigkeit fortschreitet. »Man kann sich das vorstellen wie in einem Hochhaus mit Teppichboden im Treppenhaus«, sagt Annette Limberger. »Unten müssen alle drüber laufen, da nutzt sich der Teppich am schnellsten ab, oben bleibt er länger in gutem Zustand.« Übertragen auf die Hörschnecke bedeutet das: Über die Zellen am Anfang, die für hohe Frequenzen zuständig sind, rauschen alle Schallwellen hinweg. Sie verschleißen daher zuerst. »Schwerhörigkeit beginnt deshalb meistens damit, dass Menschen die leise gesprochenen und hochfrequenten Konsonanten wie S und F nicht mehr wahrnehmen«, sagt sie. Gleichzeitig werden laute Geräusche von Schwerhörigen als sehr unangenehm empfunden. Das hängt ebenfalls mit dem verloren gegangenen Verstärker- und Dämpfeffekt der äußeren Haarzellen zusammen. Für Schwerhörige klingt es also tatsächlich so, als ob alle um sie herum nuscheln würden. Dies kann also ein Warnsignal sein, dass eine Schwerhörigkeit eingetreten ist. ...

Warum so wenige Schwerhörige ein Hörgerät tragen

Doch die Skepsis gegenüber Hörgeräten ist groß. Viele, die an Schwerhörigkeit leiden, nutzen keine Hörhilfe. In einer groß angelegten Studie der Universitätsmedizin Mainz wurde das Hörvermögen von rund 5000 Personen untersucht. Es stellte sich heraus, dass über alle Altersstufen hinweg 35 Prozent der Menschen schwerhörig waren. Dabei hörten rund 41 Prozent der Teilnehmenden auf mindestens einem Ohr schlecht, etwa 29 Prozent auf beiden Ohren. Bei den Probanden zwischen 55 und 59 Jahren fand sich bei rund 17 Prozent eine Schwerhörigkeit, während es bei den 75- bis 79-Jährigen schon 71 Prozent waren. Entscheidend aber: Nur 7 Prozent der Teilnehmenden hatten auch ein Hörgerät. Die Unterversorgung ist also eklatant. Die meisten Menschen, die eine Hörhilfe bräuchten, haben keine. ...

Gut hören ist gut fürs Gehirn

Doch wie kann man nahestehende Personen überzeugen, sich beim Hören unterstützen zu lassen? Mark Praetorius zieht den Vergleich zu anderen Hilfsmitteln, wenn der Körper Hilfe benötigt: »Wenn man eine Beinprothese braucht, dann wartet man damit auch nicht bis ins hohe Alter«, sagt er. »Stattdessen versucht man, sich möglichst früh daran zu gewöhnen, so dass der Umgang damit normal wird.« Das empfehlen die Audiologen auch für das Hörgerät. Ein Argument, das womöglich viele überzeugt: »Ich zeige schwerhörigen Patienten, welches Demenzrisiko sie ohne Hörgerät haben – dann willigen die meisten ein, eines auszuprobieren«, sagt Annette Limberger. »Viele merken dann erst, wie viel ihr Leben schon durch den Hörverlust verloren hatte.« Schwerhörigkeit ist neben Depression der wichtigste bekannte Risikofaktor für das Auftreten von Demenz. Eine groß angelegte Studie aus 2023 hat zudem erstmals gezeigt, dass ein Hörgerät die Gefahr für eine Demenzerkrankung tatsächlich maßgeblich verringern kann. Die Forschenden werteten Daten von mehr als 400 000 Menschen im Alter zwischen 40 bis 69 Jahren aus, die über ihr Hörvermögen Auskunft gaben und anfangs noch keine Demenz hatten. Etwa drei Viertel der Teilnehmenden waren dabei nicht schwerhörig. Ein Viertel klagte über einen Hörverlust, von dem mehr als ein Zehntel ein Hörgerät trug. Im Schnitt wurden die Angaben der Personen rund zwölf Jahre später wieder ermittelt. Dabei kam heraus: Schwerhörige Menschen ohne Hörgerät hatten ein um 42 Prozent erhöhtes Risiko, eine Demenz zu bekommen, als solche, deren Hörvermögen normal ist. Trugen Schwerhörige dagegen ein Hörgerät, glich das Risiko dem von normal hörenden Menschen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

                                                          aus Levana, oder Erziehlehre Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so ...