Freitag, 26. Mai 2023

Erworbenes Gehirngeschlecht?

      zu Männlich,  zu Jochen Ebmeiers Realien,zu Levana  zu öffentliche Angelegenheiten
aus derStandard.at, 13. 5. 2023                                                                   Ein MRI-Scan eines normalen Gehirns. Bei Vergleichen von fast 8.000 solcher Bilder zeigten sich Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und bestimmten Hirnunterschieden                    

UMSTRITTENE UNTERSCHIEDE
Größere soziale Ungleichheit zwischen Geschlechtern zeigt sich auch bei Hirnscans
Große soziale Unterschiede lassen sich auch an den Gehirne von Frauen ablesen, behauptet eine neue Studie. Ähnliches wurde bei armen Kindern in den USA beobachtet


Es ist schon wieder ein paar Jahre her, dass Bücher über die Unterschiede von männlichen und weiblichen Gehirnen boomten. Die US-amerikanische Neurowissenschafterin Louann Brizendine löste vor knapp zwei Jahrzehnten mit Büchern wie "Das weibliche Gehirn: War-um Frauen anders sind als Männer" einen regelrechten Boom aus, angeborene Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht mehr in nur in den Hormonen oder den Genen zu su-chen, sondern im Gehirn.

Solche Ansätze übersahen aber erstens, dass Gehirne eine enorme Plastizität aufweisen und ihre Entwicklung zweitens stark von Umweltfaktoren abhängt. In Ländern, wo die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern größer ist, haben Frauen beispielsweise ein höhe-res Risiko, neurologisch zu erkranken, also etwa früher unter Demenz zu leiden. Letzteres zeigte sich beispielsweise in China, wo Frauen auch stärker von den Risikofaktoren Bewe-gungsmangel und Analphabetismus betroffen sind.

Fast 8.000 Magnetresonanzbilder

Wie ein internationales Forscherteam um Nicolas Crossley (Pontificia Universidad Católica de Chile) nun behauptet, lassen sich die Folgen starker sozialer Unterschiede zwischen den Geschlechtern auch an stärkeren Unterschieden in den Gehirnen festmachen. Diesen Schluss würde die vergleichende Auswertung von fast 8.000 Magnetresonanzbildern menschlicher Gehirne aus 29 Ländern zulassen, schreiben Crossley und sein Team im Fachblatt "PNAS".



Laut diesen Analysen waren in Ländern mit weitgehender Gleichstellung der Geschlechter (gemessen unter anderem am Gender Inequality Index) so gut wie keine Unterschiede zwi-schen den Gehirnen von Männern und Frauen zu beobachten. In Ländern mit größerer Ungleichheit war jedoch die Dicke der rechten Seite der Großhirnrinde bei Frauen geringer.

Doch taugt dieser Befund tatsächlich als Beweis, dass sich soziale Ungleichheit sogar in den Gehirnen zeigt? Die Autorinnen und Autoren selbst gestehen gewisse Unsicherheiten der Interpretation ein, liefern immerhin mögliche Hypothesen zur Erklärung ihrer Beobachtun-gen. So werden jene Regionen des Kortex, bei denen die Unterschiede festgestellt wurden, mit Widerstandsfähigkeit gegenüber Widrigkeiten assoziiert. Beobachtet wurde auch, dass diese Regionen bei (posttraumatischem) Stress oder Depressionen dünner werden.

Obwohl die Forschenden keinen kausalen Zusammenhang herstellen, hoffen sie doch, mit ihren Ergebnissen Argumente für politische Maßnahmen zur Verringerung der Ungleich-heit zu liefern.

Dazu befragte Kolleginnen und Kollegen, die nicht an der Studie beteiligt waren, äußern sich eher zurückhaltend. So etwa meinte die Neurowissenschafterin María Ruz (Universität Granada) gegenüber der spanischen Tageszeitung "El País", dass die Korrelation zwischen einer geringeren Kortexdicke und Erfahrungen körperlicher Gewalt nur sehr schwer zu belegen sei. Und Zweifel wird auch angemeldet, ob dokumentierte Unterschiede in den Gehirnen tatsächlich ein stärkeres "politisches" Argument liefern.

Unterstützung durch US-Studie

Indirekte Unterstützung bekommt die neue Untersuchung aber durch eine rezente Studie aus den USA. Forschende um David Weissman (Harvard University) werteten dafür die Daten der Adolescent Brain Cognitive Development Study (ABCD-Studie) aus, konkret: von mehr als 10.000 Jugendlichen aus 17 Bundesstaaten, die sich in ihren Lebenshaltungs-kosten und ihrer Politik zur Armutsbekämpfung unterscheiden.

Erste Analysen der ABCD-Daten hatte ergeben, dass Kinder aus Familien mit geringerem Einkommen im Vergleich zu Kindern aus Familien mit höherem Einkommen ein geringeres Volumen des Hippocampus aufweisen, der eine entscheidende Rolle für das Gedächtnis und das emotionale Lernen spielt.

Bei weiteren Auswertungen, deren Ergebnisse Anfang Mai im Fachblatt "Nature Communications" erschienen, zeigte sich nun, dass bei Kindern zwischen neun und elf Jahren die Unterschiede in der Gehirnentwicklung und der psychischen Gesundheit in jenen Bundesstaaten deutlich geringer waren, die ein stärkeres soziales Sicherheitsnetz bieten und geringere sozioökonomische Unterschiede aufweisen. (tasch)


Nota. - Immer wieder hört man Lob und Preis ob der anscheinend grenzenlosen Plastizität unseres Gehirns. Fällt irgendwo eine Gehirnregion aus, kann meist die entsprechende Regi-on auf der gegenüberliegenden Hirnseite einspringen; aber selbst ganz verschiedene Zell-gruppen in der näheren oder weiteren Umgebung können das!

Das ist ein systematisch gar nicht zu überschätzender Beitrag zum Thema Nature vs. Nur-ture - und übrigens, weil politische Brauchbarkeit ja anscheinend gefragt ist, zur derzeitigen Trans-Debatte. Aber, wie auch beim Thema Epigenetik, keine Sache der positiven, sondern der negativen Determination: Wenn durch lebensgeschichtliche Faktoren eine Stelle im Kortex unterentwickelt blieb, kann eine bestimmte normale Entwicklung nicht eintreten. Zu den schädigenden lebensgeschichtliche Faktoren kann die Zugehörigkeit zu einer sozial benachteiligten Gruppe - Frauen in China, arme Kinder in den USA - Auswirkungen auf deren ontogenetische Ausprägung haben.

Vergesst alles, was Ihr über erworbene und angeborene Geschlechtsunterschiede je zu wissen glaubtet: Es kann ebensogut auch genau andersrum sein. Zwar in aller Regel Darwin, aber wo der nicht hinreicht, kann vielleicht Lamarck einspringen. Halali, die Saison ist eröffnet.
JE



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