Donnerstag, 11. Mai 2023

"Gründerkrach" vor hundert Jahren.


aus welt.de, 11. 5. 2023                                                                        Holzstich nach einem Gemälde von Christian Ludwig Bokelmann, Zusammenbruch einer Volksbank                                                                                                                            zu öffentliche Angelegenheiten

GRÜNDERKRACH
Der große Crash, von dem sich Deutschland kaum erholte
Im Mai 1873 war der Boom vorbei: Das junge deutsche Kaiserreich rutschte in eine Wirtschaftskrise. Die Folgen des „Gründerkrachs“ blieben lange spürbar – unter anderem befeuerte die Rezession den Antisemitismus beträchtlich.

von Philip Cassier

Alles, was Menschen zum ersten Mal erleben, hat das Potenzial, große Verunsicherung hervorzurufen. Das gilt umso mehr, wenn die die Ereignisse unvorhergesehen eintreten. Insofern betrachten manche Analytiker den Wirtschaftseinbruch, der 1873 das Kaiserreich ereilte, aus einer eingeengten Perspektive. Ja, es hatte bereits vorher Rezessionen gegeben – und es sollten Probleme folgen, die den „Gründerkrach“ an Wucht weit übertrafen. Doch für viele Zeitgenossen muss sich das Geschehen nach Jahren des Booms apokalyptisch angefühlt haben. Sonst wären die Reaktionen und die Suche nach Schuldigen nicht derartig heftig ausgefallen.

Das Ausgangs-Niveau für den Crash war hoch: Schon seit Ende der 1850er-Jahre wuchs die Wirtschaft weltweit. Die fortschreitende Industrialisierung und das schnelle Bevölkerungswachstum sorgten für volle Auftragsbücher vor allem im Eisenbahn- und Maschinenbau, in der Stahl- und Textilindustrie, in der Bauwirtschaft sowie bei Betreibern von Kohleminen.

Dies galt gerade für Deutschland. Bereits seit 1866, als Otto von Bismarck nach dem Sieg über Österreich den „Norddeutschen Bund“ ins Leben rief, hatte das Auswirkungen aufs Investitionsklima. Man glaubte an die Zukunft und legte sein Geld in Aktiengesellschaften an, die hohe Dividenden auf die Wertpapiere ausschütteten. Dieser Optimismus wuchs nach dem Sieg über Frankreich stark weiter, der das neue Kaiserreich unter preußischer Führung nach sich zog. An Kohle wurde beispielsweise im Jahr vor der Reichsgründung mehr als 26 Millionen Tonnen gefördert – das waren 114 Prozent mehr als 1860.

Auch die Roheisenproduktion lag 1871 mit 1,5 Millionen Tonnen um 50 Prozent höher als 1866. Hinzu kamen neue Geschäftsfelder wie die Chemieindustrie – und zu allem Überfluss jene fünf Milliarden Goldfrancs, die Frankreich als Kriegsverlierer an Reparationen zahlen musste. Zwischen 1871 und 1873 verdoppelten sich die Aktienkurse der Berliner Börse, in einer „Gründerwelle“ entstanden mehr als 900 Aktiengesellschaften und knapp 100 Banken, die ihren Investoren fantastische Profite ermöglichten.

Ein Symbol für diese Zeit war Heinrich Quistorp. Der Sohn eines preußischen Beamten brachte es in Rekordzeit auf 30 Unternehmen. Dabei half ihm sicher auch sein Charisma: Als „groß, breitschultrig und stark“, beschrieben ihn Zeitgenossen, „mit rotem, gesundheitsstrotzendem Gesicht und lachenden Augen, jovial und lebenslustig, derb und zupackend und gutmütig.“ Lange war er als Bauentwickler des neuen Berliner Stadtteils Westend als aufrechter Geschäftsmann der halbstaatlichen Preußischen Bank geachtet.


Was vom Kaiserreich heute noch in Deutschland steckt

Allerdings kamen ihm nach 1871 die Verlockungen der neuen Zeit dazwischen. Quistorp gründete seine „Vereinsbank“, dazu Feilen-, Tabak-, Papier-, Waggon-, Fass-, Werkzeug-, Bau-, Fuhr-, Pferde-, Eisenbahn-, Brauerei-, Dampfschiff-, Bergbau- und Hüttengesellschaften. Stets steckte er das eingesammelte Kapital seiner Aktiengesellschaften unverzüglich ins nächste Unternehmen. 1871 schüttete er eine Dividende von 15 Prozent, ein Jahr später sogar von 19 Prozent aus. Seiner Frau und sich spendierte er eine Villa, die manche Zeitgenossen entfernt an Schloss Neuschwanstein erinnerte.


All dies brachte keine Warnungen hervor, dass ein solches Konstrukt in sich zusammenfallen konnte; zusätzlich zu der Tatsache, dass Menschen sich gern blenden lassen, gab es eben keine Erfahrungen mit dem, was gerade passierte. Die wenigen Stimmen, die beim allgemeinen Jubel nicht mitmachen, blieben weitgehend ungehört. Eduard Lasker etwa, der Sprecher der wirtschaftsfreundlichen Nationalliberalen im Reichstag, bezeichnete die Börse als „eine Akademie für die straflose Umgehung der Gesetze“. Manchen Börsianer überkamen ebenfalls Zweifel, die ganze Angelegenheit konnte ja nur funktionieren, solange das Publikum an einen immerwährenden Boom mit hohen Kursgewinnen glaubte.

Als die Alarmzeichen langsam ins Bewusstsein von mehr und mehr Zeitgenossen vordrangen, war es zu spät. Seit Ende April 1871 kursieren Gerüchte darüber, ein Einbruch der Börse in Paris stehe bevor. Doch nicht in Frankreich, sondern in Wien crashte am 9. Mai 1873 zuerst eine Bank. An diesem „Schwarzen Freitag“ folgen ihr 120 österreichische Unternehmen in den Konkurs. Der Radau im Börsensaal war derartig, dass zahlungsunfähige Finanzjongleure über die Hintertreppe vor ihren erbosten Gläubigern flüchten mussten: „Gründer und Gründerbanken wurden mit allen Flüchen beladen, welche die deutsche Sprache auf dem Lager hat“, berichtete die „Deutsche Zeitung“ am 9. Mai 1873.

Symbol einer Epoche – doch im Gründerkrach wusste Reichskanzler Otto von Bismarck zunächst keinen Ausweg

Einmal gelang es der österreichischen Regierung noch, die Lage zu beruhigen, indem sie einen Hilfsfonds auflegte. Aber am 18. September 1873 meldete in New York die Bank Jay Cooper & Company Bankrott an. Sie hatte sich mit Eisenbahnprojekten übernommen. Nun brach Panik aus, die New Yorker Börse musste zum ersten Mal in ihrer Geschichte schließen. Und Deutschland bekam die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise gerade wegen der völlig überhitzten Zuversicht zuvor deutlich zu spüren.

In Berlin geriet Anfang Oktober die Quistorp’sche Vereinsbank schwer unter Druck. Zwei Wochen später musste der Unternehmer für die Bank und seine anderen Firmen Konkurs anmelden. Es folgte ein Dominoeffekt: Bald waren 700 der jüngst etablierten 900 Aktiengesellschaften am Ende, von den Maklerbanken musste die Hälfte aufgeben. Der Kurswert der überlebenden AGs halbierte sich fast von 4,5 auf 2,4 Milliarden Reichsmark. Zinsen für Kredite stiegen dagegen stark. Unternehmen konnten ihre Waren kaum mehr losschlagen und mussten Abgestellte entlassen. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf 20 Prozent, das allgemeine Lohnniveau sank beträchtlich. Bis 1879 stagnierte die Weltwirtschaft, bis in die 1890er-Jahre hinein blieb ihr Wachstum schwach.

Und natürlich schlug nach 1873 die große Stunde der rückwärtsgewandten Propheten. So ereiferte sich der Journalist Otto Glagau, der zuvor offenkundig ganz eifrig profitiert hatte, nachdem das System von Heinrich Quistorp in sich zusammengefallen war: „Die Börse, welche sonst Niemandem, nicht einmal sich selber traut, hielt Quistorp für den leibhaftigen Bruder Grund-Ehrlich. Seine Werthe wurden von den Banquiers in der besten Absicht ihren solidesten Kunden als ‚hochfeine‘ Capital-Anlage empfohlen und mit Vorliebe von dem schlichten Bürgersmann genommen.“

Glagau war es auch, der nach dem Gründerkrach mit Gestalten wie Wilhelm Marr den Antisemitismus schürte. Juden vertraten im Kaiserreich oft liberale Positionen. Der Hintergrund war simpel: Noch 1790 hatten 90 Prozent von ihnen unterhalb der Armutsgrenze gelebt, 100 Jahre später hatten es 90 Prozent von ihnen geschafft, oberhalb dieser Grenze zu existieren. Dabei hatten die herrschenden Kräfte die Juden nach Kräften schikaniert; in er preußischen Verwaltung beispielsweise waren sie so gut wie nicht zu finden.


Eugen Karl Duehring, 12. Januar 1833 - 21. September 1921, Philosoph, Nationaloekonom und Mitbegruender des Rassenantisemitismus im Deutschen Kaiserreich


In seinem Alterswerk „Von Bismarck zu Hitler“ schrieb Sebastian Haffner, die meisten Zeitgenossen hätten die Bismarck-Jahre nicht als sonderlich glückliche Zeit erlebt. Wie viel davon dem Gründerkrach zuzurechnen ist, lässt sich nicht genau bestimmen. Eine Ironie bleibt es allemal, dass Bismarck selbst zum Opfer von Stammtisch-Antisemiten wurde: Auf dem Höhepunkt der Krise machten sie dem Kanzler seine Verbindungen zu dem deutsch-jüdischen Bankier Gerson von Bleichröder zum Vorwurf.

Bleichröder








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