Freitag, 5. April 2024

Die Idee zu einer Wissenschaft von der Erziehung war eine deutsche; aber eine kritische.

W. Busch                            zu Philosophierungen aus Levana, oder Erziehlehre

Die Idee, von der Kindererziehung eine Wissenschaft zu machen, war ein spezifisch deutscher Einfall. Er war sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass die ewig zu spät kommenden Deutschen am Ende des Ancien Régime das Gefühl hatten, erst durch Bildung sich zu einer Nation erheben zu können „wie die andern“.   

Aber mehr noch dem Umstand, dass die Idee, durch Kritik die Wissenschaften überhaupt erst auf den Punkt zu bringen, wo man sie von allen andern Arten des Meinens und Dafürhaltens zuverlässig unterscheiden kann, ebenfalls in Deutsch-land aufgekommen ist. Die Kritik der reinen Vernunft hatte zu allererst den Zweck, die damals aktuellste Form der Naturwissenschaften, die Newton’sche Physik, lo-gisch zu rechtfertigen und gegen die Angriffe der dogmatischen Metaphysik abzu-sichern; die kritische Sichtung des menschlichen Erkenntnisvermögens war dafür zunächst nur das Mittel. Bis an sein Lebensende hat Kant daran gearbeitet, einen Übergang von der Kritik zur positiven Naturwissenschaft zu finden. Demgegen-über sind seine Arbeiten an den geisteswissenschaftlichen Disziplinen beiläufig und unsystematisch geblieben. Seine Vorlesungen Über Pädagogik waren denn auch tatsächlich nichts Eignes, sondern, wie im Lehrplan der Königsberger Universität vorgeschrieben, lediglich ein Kommentar zu einem fremden Werk.*

Unter seinen Anhängern bildete sich ein radikaler Flügel aus, der „weitergehen“ wollte – weitergehn in der Kritik und im Wissen seinen letzten Grund dingfest machen; und weitergehen und die vorliegenden wissenschaftlichen Fächer jetzt schon durch Kritik von den dogmatischen Schlacken reinigen und im Leben zu wirken.

Das war das Programm des Philosophischen Journals einer Gesellschaft teutscher Gelehrter, die seit 1795 von dem Philo- sophieprofessor und Theologen Friedrich Immanuel Niethammer in Jena herausgegeben (und in Neustrelitz gedruckt) wurde, deren Herausgeberkreis von Anbeginn Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schiller, Karl Leonhard Reinhold, Salomon Maimon und Wilhelm von Humboldt angehör-ten. Bereits im zweiten Heft erschien von Niethammer selbst eine Übersicht der philosophisch-pädagogischen Literatur seit dem Anfang eines Einflusses der kriti-schen Philosophie auf dieselbe (S. 175-192), die im folgenden Heft fortgesetzt wur-de und eine regelmäßige Beschäftigung des Philosophischen Journals mit dem Pro-blem einer pädagogischen Wissenschaft einleitete.

Hier ein Zitat:

„Wenn also die Theorie der Erziehungskunst auf den Rang einer Wissen-schaft Anspruch haben soll, deren Evidenz der Evidenz anderer philoso-phischer Wissenschaften gleich wäre, so müßten sich die pädagogischen Maximen aus der ursprünglichen Einrichtung der Gemütsvermögen her-leiten lassen. Ob dies möglich sei oder nicht, läßt sich vor der Untersuchung weder beweisen noch widerlegen. Es erhellt aber daraus, daß eine solche Untersuchung möglich sei, welche der Theorie als Propädeutik vorangehen muß, und der erste Schritt wäre, welche die Theorie tun muß, um zu eigent-lich wissenschaftlicher Würde zu gelangen.

Wer sich nur ein wenig mit der Literatur der Pädagogik beschäftigt hat, wird uns zugestehen müssen, 1) daß die Frage, ob und wie die Pädagogik als Wis-senschaft möglich sei, noch niemals bestimmt aufgeworfen worden, und daß demnach auch sogar der erste Schritt zu wissenschaftlicher Bearbeitung derselben noch zu tun sei; und 2) daß die unternommenen Versuche, meh-rere pädagogische Maximen nebeneinander zu ordnen, die Theorie der Er-ziehungskunst deswegen nicht zur Wissenschaft erheben konnten, weil sie die Zulässigkeit und Richtigkeit dieser Maximen auf etwas anderes gründe-ten als auf die Einrichtung unserer Gemütsvermögen.“ Philosophisches Journal, I. Bd., 2. Heft , Neustrelitz 1795; S. 178

Niethammer selbst ist der Nachwelt nicht als Philosoph und Theologe, sondern vor allem als Theoretiker der Pädagogik bekannt geblieben, namentlich als Verfasser der Streitschrift Der Streit des Philanthropinismus und der Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts (1808; neu: Weinheim 1968) und als Begründer des sog. Neuhumanismus, der dann das deutsche Gymnasium beherrschte; da hatte er sich von der kritischen Philosophie aber schon abgewandt.

Und auch Johann Friedrich Herbart kommt von dort. Er war 1794 als einer der er-sten Studenten zu Fichte nach Jena geeilt und galt lange als dessen Musterschüler. Viel schneller und viel radikaler als Niethammer hat er dann mit der kritischen Phi-losophie gebrochen, aber dem Prinzip, dass eine Wissenschaft als ein System aus einem Grunde heraus zu entwickeln sei, ist er treu geblieben. Und durchaus in kri-tischem Geist hat er seine Allgemeine Pädagogik (1806) 'praktisch' aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet und nicht 'theoretisch' - wie Niethammer empfohlen hatte - aus der Einrichtung unserer Gemütsvermögen.

Ob er ansonsten seinen systematisch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht ge-worden ist, ist sehr fraglich, aber gewiss nicht hat der lebenslange Feind der Schule verdient, von den selbsterklärten Herbartianern am Ende seines Jahrhunderts zum Begründer des Pauk- und Memoriersystems der preußischen Volksschule verkehrt zu werden. Seit aber Friedrich Daniel Verschleiermacher mit der Beschwörungsfor-mel "Praxis!" schamlos das Standesinteresse der Berufserzieher zum unvorgreifli-chen Rechtsgrund der pädagogischen Tätigkeiten verdunkelt hat, war insbesondere in deutschen Landen an einen wissenschaftlich kritischen Blick auf das, was in Schulen, Heimen und sonstigen Anstalten geschah, ohnehin nicht mehr zu denken. "Wissenschaft von der Erziehung" war von da an ein Arkanum, das dem dienstbar ist, der am Hebel sitzt.

Mit andern Worten, das Programm des Philosophischen Journals ist heute noch so taufrisch wie vor hundertzwanzig Jahren. Wobei sich der Zwiespalt, ob man die Pädagogik theoretisch aus der Beschaffenheit unserer Gemütsvermögen oder prak-tisch aus wohlerwogenen Zwecken ableiten soll, heute womöglich dialektisch auf-lösen lässt.

*)
Der Text wurde 1803 wenige Monate vor seinem Tod von Freunden herausgegeben, er selbst konnte schon nicht mehr daran mitwirken. Tatsächlich handelt es sich um Manuskripte zu einer Vorlesungsreihe, die Kant über Jahrzehnte immer wieder gehalten hat – notgedrungen: Preußens König brauchte Pastoren, die das Volk Ehrfurcht vor Thron und Altar lehrten, und so waren alle ordentlichen Professoren gehalten, reihum über Pädagogik zu lesen, was für ihre Studenten ebenso verbindlich war wie für die Lehrer. Vorschrift war auch, sich dabei an bewährte Lehrbücher zu halten. Kant wich in seinem Vortrag gelegentlich von den fremden Kompendien ab und bereicherte sie durch Einschübe aus seinen beliebten Anthropologie-Vorlesungen; z. B.: Rousseau sagt: Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt!

29. 5. 15

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