W. Busch zu Philosophierungen; aus Levana, oder Erziehlehre
Die
Idee, von der Kindererziehung eine Wissenschaft zu machen, war ein
spezifisch deutscher Einfall. Er war sicherlich auch dem Umstand
geschuldet, dass die ewig zu spät kommenden Deutschen am Ende des Ancien Régime das Gefühl hatten, erst durch Bildung sich zu einer Nation erheben zu können „wie die andern“.
Aber mehr noch dem Umstand, dass die Idee, durch Kritik die Wissenschaften
überhaupt erst auf den Punkt zu bringen, wo man sie von allen andern
Arten des Meinens und Dafürhaltens zuverlässig unterscheiden kann,
ebenfalls in Deutsch-land aufgekommen ist. Die Kritik der reinen Vernunft hatte
zu allererst den Zweck, die damals aktuellste Form der
Naturwissenschaften, die Newton’sche Physik, lo-gisch zu rechtfertigen
und gegen die Angriffe der dogmatischen Metaphysik abzu-sichern; die
kritische Sichtung des menschlichen Erkenntnisvermögens war dafür
zunächst nur das Mittel. Bis an sein Lebensende hat Kant daran
gearbeitet, einen Übergang von der Kritik zur positiven
Naturwissenschaft zu finden. Demgegen-über sind seine Arbeiten an den
geisteswissenschaftlichen Disziplinen beiläufig und unsystematisch
geblieben. Seine Vorlesungen Über Pädagogik waren denn auch
tatsächlich nichts Eignes, sondern, wie im Lehrplan der Königsberger
Universität vorgeschrieben, lediglich ein Kommentar zu einem fremden
Werk.*
Unter
seinen Anhängern bildete sich ein radikaler Flügel aus, der
„weitergehen“ wollte – weitergehn in der Kritik und im Wissen seinen letzten Grund dingfest
machen; und weitergehen und die vorliegenden wissenschaftlichen
Fächer jetzt schon durch Kritik von den dogmatischen Schlacken reinigen
und im Leben zu wirken.
Das war das Programm des Philosophischen Journals einer Gesellschaft teutscher Gelehrter, die
seit 1795 von dem Philo- sophieprofessor und Theologen Friedrich
Immanuel Niethammer in Jena herausgegeben (und in Neustrelitz gedruckt)
wurde, deren Herausgeberkreis von Anbeginn Johann Gottlieb Fichte,
Friedrich Schiller, Karl Leonhard Reinhold, Salomon Maimon und Wilhelm
von Humboldt angehör-ten. Bereits im zweiten Heft erschien von
Niethammer selbst eine Übersicht der philosophisch-pädagogischen Literatur seit dem Anfang eines Einflusses der kriti-schen Philosophie auf dieselbe (S. 175-192), die im folgenden Heft fortgesetzt wur-de und eine regelmäßige Beschäftigung des Philosophischen Journals mit dem Pro-blem einer pädagogischen Wissenschaft einleitete.
Hier ein Zitat:
„Wenn
also die Theorie der Erziehungskunst auf den Rang einer Wissen-schaft
Anspruch haben soll, deren Evidenz der Evidenz anderer philoso-phischer
Wissenschaften gleich wäre, so müßten sich die pädagogischen Maximen aus
der ursprünglichen Einrichtung der Gemütsvermögen her-leiten lassen. Ob
dies möglich sei oder nicht, läßt sich vor der Untersuchung weder
beweisen noch widerlegen. Es erhellt aber daraus, daß eine solche
Untersuchung möglich sei, welche der Theorie als Propädeutik vorangehen
muß, und der erste Schritt wäre, welche die Theorie tun muß, um zu
eigent-lich wissenschaftlicher Würde zu gelangen.
Wer
sich nur ein wenig mit der Literatur der Pädagogik beschäftigt hat,
wird uns zugestehen müssen, 1) daß die Frage, ob und wie die Pädagogik
als Wis-senschaft möglich sei, noch niemals bestimmt aufgeworfen
worden, und daß demnach auch sogar der erste Schritt zu
wissenschaftlicher Bearbeitung derselben noch zu tun sei; und 2) daß die
unternommenen Versuche, meh-rere pädagogische Maximen nebeneinander zu
ordnen, die Theorie der Er-ziehungskunst deswegen nicht zur Wissenschaft
erheben konnten, weil sie die Zulässigkeit und Richtigkeit dieser
Maximen auf etwas anderes gründe-ten als auf die Einrichtung unserer
Gemütsvermögen.“ Philosophisches Journal, I. Bd., 2. Heft , Neustrelitz 1795; S. 178
Niethammer
selbst ist der Nachwelt nicht als Philosoph und Theologe, sondern vor
allem als Theoretiker der Pädagogik bekannt geblieben, namentlich als
Verfasser der Streitschrift Der Streit des Philanthropinismus und der Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts (1808;
neu: Weinheim 1968) und als Begründer des sog. Neuhumanismus, der
dann das deutsche Gymnasium beherrschte; da hatte er sich von der
kritischen Philosophie aber schon abgewandt.
Und auch Johann Friedrich Herbart
kommt von dort. Er war 1794 als einer der er-sten Studenten zu Fichte
nach Jena geeilt und galt lange als dessen Musterschüler. Viel schneller
und viel radikaler als Niethammer hat er dann mit der kritischen
Phi-losophie gebrochen, aber dem Prinzip, dass eine Wissenschaft als ein
System aus einem Grunde heraus zu entwickeln sei, ist er treu geblieben. Und durchaus in kri-tischem Geist hat er seine Allgemeine Pädagogik (1806) 'praktisch' aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet und nicht 'theoretisch' - wie Niethammer empfohlen hatte - aus der Einrichtung unserer Gemütsvermögen.
Ob er ansonsten seinen systematisch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht ge-worden ist, ist sehr fraglich, aber gewiss nicht hat der lebenslange Feind der Schule verdient, von den selbsterklärten Herbartianern am Ende seines Jahrhunderts zum Begründer des Pauk- und Memoriersystems der preußischen Volksschule verkehrt zu werden. Seit aber Friedrich Daniel Verschleiermacher mit der Beschwörungsfor-mel "Praxis!" schamlos das Standesinteresse der Berufserzieher zum unvorgreifli-chen Rechtsgrund der pädagogischen Tätigkeiten verdunkelt hat, war insbesondere in deutschen Landen an einen wissenschaftlich kritischen Blick auf das, was in Schulen, Heimen und sonstigen Anstalten geschah, ohnehin nicht mehr zu denken. "Wissenschaft von der Erziehung" war von da an ein Arkanum, das dem dienstbar ist, der am Hebel sitzt.
Mit andern Worten, das Programm des Philosophischen Journals ist heute noch so taufrisch wie vor hundertzwanzig Jahren. Wobei sich der Zwiespalt, ob man die Pädagogik theoretisch aus der Beschaffenheit unserer Gemütsvermögen oder prak-tisch aus wohlerwogenen Zwecken ableiten soll, heute womöglich dialektisch auf-lösen lässt.
*) Der Text wurde 1803 wenige Monate vor seinem Tod von Freunden herausgegeben, er selbst konnte schon nicht mehr daran mitwirken. Tatsächlich handelt es sich um Manuskripte zu einer Vorlesungsreihe, die Kant über Jahrzehnte immer wieder gehalten hat – notgedrungen: Preußens König brauchte Pastoren, die das Volk Ehrfurcht vor Thron und Altar lehrten, und so waren alle ordentlichen Professoren gehalten, reihum über Pädagogik zu lesen, was für ihre Studenten ebenso verbindlich war wie für die Lehrer. Vorschrift war auch, sich dabei an bewährte Lehrbücher zu halten. Kant wich in seinem Vortrag gelegentlich von den fremden Kompendien ab und bereicherte sie durch Einschübe aus seinen beliebten Anthropologie-Vorlesungen; z. B.: Rousseau sagt: Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt!
Ob er ansonsten seinen systematisch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht ge-worden ist, ist sehr fraglich, aber gewiss nicht hat der lebenslange Feind der Schule verdient, von den selbsterklärten Herbartianern am Ende seines Jahrhunderts zum Begründer des Pauk- und Memoriersystems der preußischen Volksschule verkehrt zu werden. Seit aber Friedrich Daniel Verschleiermacher mit der Beschwörungsfor-mel "Praxis!" schamlos das Standesinteresse der Berufserzieher zum unvorgreifli-chen Rechtsgrund der pädagogischen Tätigkeiten verdunkelt hat, war insbesondere in deutschen Landen an einen wissenschaftlich kritischen Blick auf das, was in Schulen, Heimen und sonstigen Anstalten geschah, ohnehin nicht mehr zu denken. "Wissenschaft von der Erziehung" war von da an ein Arkanum, das dem dienstbar ist, der am Hebel sitzt.
Mit andern Worten, das Programm des Philosophischen Journals ist heute noch so taufrisch wie vor hundertzwanzig Jahren. Wobei sich der Zwiespalt, ob man die Pädagogik theoretisch aus der Beschaffenheit unserer Gemütsvermögen oder prak-tisch aus wohlerwogenen Zwecken ableiten soll, heute womöglich dialektisch auf-lösen lässt.
*) Der Text wurde 1803 wenige Monate vor seinem Tod von Freunden herausgegeben, er selbst konnte schon nicht mehr daran mitwirken. Tatsächlich handelt es sich um Manuskripte zu einer Vorlesungsreihe, die Kant über Jahrzehnte immer wieder gehalten hat – notgedrungen: Preußens König brauchte Pastoren, die das Volk Ehrfurcht vor Thron und Altar lehrten, und so waren alle ordentlichen Professoren gehalten, reihum über Pädagogik zu lesen, was für ihre Studenten ebenso verbindlich war wie für die Lehrer. Vorschrift war auch, sich dabei an bewährte Lehrbücher zu halten. Kant wich in seinem Vortrag gelegentlich von den fremden Kompendien ab und bereicherte sie durch Einschübe aus seinen beliebten Anthropologie-Vorlesungen; z. B.: Rousseau sagt: Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt!
29. 5. 15
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