Sonntag, 28. April 2024

"Formen der Sichtbarkeit".

Maske aus Alaska                              
aus FAZ.NET, 5. 4. 2022
                                                zu  Jochen Ebmeiers Realien, zu Geschmackssachen

Philippe Descola
Vertraute Kunst in fremdem Licht
Sehen lernen, was den westlichen Blick auf die Welt bestimmt: Philippe Descolas vergleichende Anthropologie des Bildes ist ein großer Wurf.  

Von Peter Geimer

Als der französische Anthropologe Philippe Descola in den Siebzigerjahren die indigene Kultur der Achuar im Amazonas studierte, machte er eine Erfahrung, die bereits sein Lehrer Claude Levi-Strauss beschrieben hatte: Die Kategorien, in denen die Achuar dachten und die Welt beschrieben, unterschieden sich so grundsätzlich von den Erwartungen des Wissenschaftlers, dass er einen Teil seiner eigenen Denktradition vergessen musste, um sie zu verstehen. Eine Unterscheidung zwischen Natur und Kultur existierte im Denken der Achuar ebenso wenig wie Bereiche namens „Technik“, „Religion“ oder „Geschichte“. Wollte er dieses andere Denken auch nur ansatzweise verstehen, musste der Reisende in der Fremde zuerst sich selbst fremd werden.

Diese Erfahrung verarbeitete Descola später in seiner berühmten Studie „Jenseits von Natur und Kultur“ – einer anthropologischen Neuvermessung der Welt, die den Vergleich mit Michel Foucaults „Ordnung der Dinge“ nicht scheuen musste. Wo Foucault sich allerdings auf drei Jahrhunderte des westlichen Denkens konzentrierte, entwirft Descola eine Ontologie im globalen Maßstab.

Ein geistbegabtes Wesen namens „Mensch“

Die Flughöhe ist hoch, und von dort oben betrachtet geraten manche Nuancen und Details in den Hintergrund. Dafür aber werden großflächige Strukturen erkennbar, die ein geographisch und historisch dicht in Bodennähe operierender Blick nicht erfassen kann. Descola spricht von verschiedenen „ontologischen Filtern“, die darüber entscheiden, ob die Welt, in der man sich bewegt, der Ordnung des Animismus, des Totemismus, des Analogismus oder des Naturalismus entspricht. Einzig die Denktradition des Naturalismus, die Descola der westlichen Welt seit dem Mittelalter zuordnet, unterscheidet kategorisch zwischen geistbegabten Wesen namens „Mensch“ auf der einen, nichtmenschlichen Wesen auf der anderen Seite.

Philippe Descola: „Les formes du visible“. Une anthropologie de la figuration.
Philippe Descola: „Les formes du visible“. Une anthropologie de la figuration.

Die ganz anders organisierte Welt des Totemismus sieht eine solche Trennung nicht vor. Menschen, Tiere und Pflanzen gehören einem gemeinsamen Prototyp an – etwa der Klasse des Adlers –, da sie bestimmte Eigenschaften teilen. Auf dieser Basis entwickelt Descola in seinem neuen großen Buch eine vergleichende Anthropologie des Bildes. Wenn „die Weisen der Identifikation“, so der Autor, „tatsächlich die strukturierende Funktion besitzen, die ich ihnen zuschreibe, dann muss es möglich sein, sie auch in den Bildern zu finden“.

Nach den ein wenig abgeebbten Debatten um den iconic turn liegt mit Descolas Buch nun nicht weniger als der Entwurf einer neuen Bildtheorie vor. Descola teilt die Grundannahme der Bildwissenschaften, wonach visuelle Evidenz sich grundsätzlich von der Logik der Schrift unterscheidet. Statt vom „Bild“ spricht der Autor aber lieber von „Figuration“ – ein Begriff, der die Vergegenwärtigung des Dargestellten ebenso einschließen soll wie seine Verankerung in einer bestimmten Ontologie. Wie die um 1900 unternommenen Versuche einer „Weltkunstgeschichte“ zeigen, laufen universalistische Entwürfe leicht Gefahr, die eigene Kultur als verbindliche Norm zu betrachten.

Wasser, Düne, Opossum und Pflaumenbaum

Einer solchen Gleichschaltung entgeht Descola schon dadurch, dass er den Begriff der „Kunst“ gar nicht erst verwendet. Für den Versuch seiner globalen Anthropologie erweist sich eine Fokussierung auf den Sonderfall der Kunst als wenig hilfreich. Die schematische Darstellung eines Sees, die ein Mitglied des australischen Clans der Manggalili auf eine Baumrinde gemalt hat, mag auf den ersten Blick als künstlerisches Abbild einer Landschaft gelten. Wie Descola zeigt, repräsentiert das Schema aber keine existierende Topographie, vielmehr kommt die Landschaft erst durch die innere Verwandtschaft der in ihr lebenden Wesen zustande.

Der europäischen Tradition, die Verwandtschaft vor allem durch morphologische Ähnlichkeiten herstellt, muss der totemistische Impuls, Wasser, Düne, Opossum und Pflaumenbaum aufgrund ihrer gemeinsamen Eigenschaften als einheitliche Klasse zu begreifen, befremdlich erscheinen. Die ganz anders strukturierte Welt des Animismus beschreibt Descola am Beispiel der asymmetrischen Gesichtsmasken der Ureinwohner Alaskas. Indem sie ein halb geschlossenes und ein weit geöffnetes Auge zeigen, vereinen die Masken die Sichtweise des Jägers mit derjenigen der Beute. Das Tragen der Maske lässt den Jäger das Terrain überblicken. Zugleich bewirkt es, dass umgekehrt auch die Tiere mit ihm in Verbindung treten können: im Auge des Jägers erblickt das Tier sich selbst und erkennt, ob dieser „es wert ist, ihm den eigenen Körper zum Geschenk zu machen“.

Die Möglichkeit einer anderen Lesart

Die Lektüre des Buches verlangt danach, bekannte Beschreibungsmuster zu vergessen – nicht allein im Blick auf die Weltentwürfe der anderen, sondern ebenso auch im Blick zurück auf die eigene Kultur. Wie der Weltreisende muss er bereit sein, sich seiner Bildung ein Stück weit zu entfremden. Denn Descola abstrahiert in den Kapiteln zur europäischen Kunst von beinahe allen Voreinstellungen des tradierten kunsthistorischen Diskurses: ästhetische Norm, Intention des Künstlers, Wanderung von Stilen und Motiven, Sozialgeschichte, Provenienz der Bilder. Stattdessen gilt die Aufmerksamkeit der Sichtbarmachung jener ontologischen Grundierung, die den westlichen Naturalismus zusammenhält: der Entwurf einer Welt, die von einem „menschlichen Subjekt gebildet wird, indem es sie von seinem Standort aus beobachtet“.

Dass es im Holland des siebzehnten Jahrhunderts Menschen gab, die Schalentiere, Zinnbecher und Früchte malten, erscheint nach der Lektüre des Buches ebenso erstaunlich wie der Versuch, in einem gemalten Porträt das Wesen eines Menschen einzufangen. Die immer wieder als Zäsur beschriebene Erfindung der Zentralperspektive erscheint in einem anderen Licht, wenn Descola die Detailbegeisterung flämischer Maler als Ausdruck derselben Grundeinstellung zur Welt beschreibt: der Gewohnheit, die sichtbare Welt als Gegenpart zur eigenen Innerlichkeit zu betrachten. Auch manche Meistererzählungen der Avantgarde sehen nach ihrer anthropologischen Durchleuchtung überraschend anders aus: im Register Descolas ist Mondrian mit seinem Willen zur Abstraktion Teil derselben Welthaltung, von der er sich vermeintlich verabschiedet.

Das Buch wird hierzulande – spätestens mit seiner Übersetzung – eine interessante Diskussion auslösen. Foucaults intellektuellem Unternehmen ähnelt es auch darin, dass es ein Leichtes sein wird, dem Autor vorzurechnen, welche Spezialstudien er nicht zur Kenntnis genommen hat. Aber darum geht es eben gar nicht. Descola verfügt über exzellente Kenntnisse der kunsthistorischen Literatur. Vor allem aber besteht der Einsatz seines Buches ja gerade darin, den bewährten Zugängen der Kunstgeschichte die Möglichkeit einer anderen Lesart an die Seite zu stellen. In der Flughöhe des Anthropologen kommt sich manches überraschend nahe, was bislang getrennt erschien. Ebenso schärft sich aber dort, wo man Ähnlichkeiten sah, der Blick für Differenzen. Wenn das Denken nicht auf Dauer in sich selbst kreisen soll, sind große Entwürfe wie derjenige Descolas unverzichtbar.

Philippe Descola: „Les formes du visible“. Une anthropologie de la figuration. Éd. du Seuil, Paris 2021. 848 S., Abb., br., 35,– €.

 

Nota. - Von Mentalitätsgeschichte war noch keine Rede, als Diltheys Brieffreund Paul Gf. Yorck seine Fragmente Bewußtseinsstellung und Geschichte zu Papier brachte, selbst der Ausdruck Geisteswissenschaft war noch brandneu. Zu Populari-tät haben sie es nie gebrach, sie wurden erst 1956 postum bei Niemeyer in Nürn-berg veröffentlicht. Doch durch Diltheys Vermittlung sind sie über Norbert Elias, Bernhard Groethuysen und Alexandre Koyré schulbildend geworden. 

Der kulturanthopologische Ansatz von Lévy-Strauss hat ganz andere Quellen, aber er kam viel später, und was er der 'geistesgeschichtlichen' Richtung verdankt, sollten die Cultural anthroplogists selber erwägen. Denn sie sind nicht die Monopolherren dieses Terrains und nicht einmal seine Entdecker.

Feldforschung ist etwas anderes als Quellenstudium. Doch schon Gf. Yorck war aufgefallen, dass sich der Unterschied zwischen orientalisch-antiker und modern westlicher Bildung nicht auf bestimmte items - und seien es noch so viele - be-schränkt, sondern modal die gesamte Welt- und Lebensauffassung betrifft, was er mit "Bewusstseinsstellung" umschreibt. Okular nennt er die Verständnisweise der alten Griechen und Inder, die etwas zu verstehen meinten, sobald sie es in ein Bild fassen konnten, während der vernünftige Westler seit Descartes alles verräumlichen müsste, um, wie man heute treffend formuliert, damit "umgehen" zu können. (Die dazwischenliegenden Jahrhunderte römischer Klerikalität nennt er fein pointiert das "christlich-antike Amalgam".)

Die Frage ist nicht ("ontologisch"), ob das eine richtige Unterscheidung ist, und gar, ob die eine oder die andere Weltsicht ontologisch "richiger" sei. Sondern das Gewahr-werden des Unterschiedes selbst macht augenfällig, dass ein solches Urteil gar nicht möglich ist, weil jeder Urteilende notwendig in der einen oder andern "Bewusst-seinsstellung" selbst befangen ist.

Das ist das wissenslogische Kernproblem aller vergleichenden Kulturwissenschaft und gehört zum täglich Brot des Quellenstudiums wie der Feldforschung. Und es ist nicht eine Weltsicht so gut wie die andere Weltsicht. Nämlich nicht in der Welt, der der Wissenschaftler angehört, und darum kann er sich nicht nach Gusto für die eine oder die andere "entscheiden". 

Privat für sich allein mag ers versuchen, aber er riskiert wie Gauguin ein graues Wunder. Dem Rezensenten jedoch scheint es zu genügen, wenn wir unser moder-nes Bild von der Welt, das vom „menschlichen Subjekt gebildet wird, indem es sie von seinem Standort aus beobachtet“, mit einem Kessel Buntes garnierten. Als ich in der FAZ seinen Bericht aufschlug, hoffte ich, auf genau solches Material zu sto-ßen. Das ist er mir schuldig geblieben, und so müsste ich Descolas dickleibiges Buch selber lesen. Doch das hat er mir auch nicht schmackhaft gemacht.
JE, 7. 4. 22

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