Ich weiß aber nicht, ob es ohne die Nazi-Barbarei dazu gekommen wäre,
dass die Vorstellung, dass allen Menschen die gleichen Rechte zukommen,
im Grundgesetz explizit zur verpflichtenden Grundlage unseres
politischen Handelns gemacht wor-den wäre. Es war ja auch eine Folge des
Holocaust, dass es 1948 zur Erklärung der Menschenrechte kam und so
Menschenwürde und Menschenrechte Eingang nicht nur in die deutsche
Verfassung gefunden haben. Joachim Gauck
"Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa zufolge sprechen
sich 68 Prozent der Deutschen für eine deutliche Erhöhung der
Militäraus-gaben aus. Bei Anhängern der Grünen sind es Dreiviertel der
Befragten. Die geringste Zustimmung erteilten AfD-Anhänger."
Bei den deutschen Wählern ist offenbar eine bedeutsame Umgruppierung im Gan-ge. Deren größtes Hindernis bleiben die deutschen Parteien.
Das
menschliche Gehirn ist in vielen Bereichen für die Wissenschaft noch
immer ein Rätsel. Deutsche Forscher haben nun einen weiteren Mechanismus
entschlüsselt.
Wissenschaftler der Charité – Universitätsmedizin Berlin haben eine neue Entdeckung über unser Gehirn gemacht – und damit eine jahrzehntealte Annahme widerlegt.
Gedanken fließen in eine Richtung statt in Schleifen
Bisher
ging man davon aus, dass die Nervenzellen (Neurone) in der menschlichen
Großhirnrinde ähnlich wie bei Mäusen verschaltet seien und ihre Signale
in Schleifen fließen würden. Wie sich nun jedoch herausstellt, fließen
Informationen beim Menschen stattdessen in eine Richtung. Das mache die
Informationsverarbeitung beim Menschen leistungsfähiger und effizienter,
heißt es dazu in einer Pressemitteilung der Charité.
Um
zu dieser Erkenntnis zu gelangen, untersuchte das Forscherteam
besonders rare Proben: 23 Menschen, die sich aufgrund einer Epilepsie
einer neurochirurgischen Operation an der Charité unterzogen hatten,
stellten ihr Hirngewebe zur Verfügung. Mithilfe modernster Technik – der
sogenannten Multipatch-Technik – konnten die Forscher Signalflüsse in
den Gehirnproben beobachten, und zwar so lange, bis die Zellen außerhalb
des Körpers ihre Aktivität einstellten.
Komplexere Hirnrinde – andere Informationsverarbeitung
Wie
die Forscher in ihrer im renommierten Fachmagazin "Science"
veröffentlichten Studie berichten, ist die menschliche Hirnrinde nicht
nur deutlich größer als die der Maus, sondern auch komplexer. Nur ein
kleiner Bruchteil der Neurone führe ihnen zufolge wechselseitige
Dialoge. "Beim Menschen fließen die Informationen stattdessen vorrangig
in eine Richtung, sie kehren nur selten direkt oder über Schleifen an
den Ausgangspunkt zurück", so Dr. Yangfan Peng, Erstautor der Studie.
Wussten Sie schon?
Weniger
als fünf Millimeter dick ist die Großhirnrinde, eine der wichtigsten
Strukturen für die menschliche Intelligenz. Zwanzig Milliarden
Nervenzellen verarbeiten hier, in der äußersten Schicht des Gehirns,
unzählige Sinneswahrnehmungen. In der Hirnrinde planen wir Handlungen,
hier sitzt unser Bewusstsein.
Dass
dieser vorwärts gerichtete Signalfluss Vorteile für die
Datenverarbeitung mit sich bringt, konnten die Wissenschaftler anhand
einer Computersimulation belegen. Das Ergebnis hierbei: Das menschliche
Netzwerk arbeitete im Gegensatz zur Maus effizienter und konnte mehr
Informationen speichern.
Nota. Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.JE
Karl Kraus hätte sich lautstark dagegen gewehrt, einen Eintrag im Journalistikon
zu erhalten. Er sah sich selbst keineswegs als Journalist, sondern im
Gegenteil als zentralen Kritiker des Journalismus, dem er die Schuld an
allen Übeln seiner Gegenwart in Wien um 1900 und der für ihn erwartbaren
Zukunft gab – vom Verlust der Vorstellungskraft über den Weltkrieg und
den Aufstieg des Nationalsozialismus bis zum Untergang der modernen
Welt. Aber gilt Kraus nicht als typischer, ja idealer → Journalist?
Ist er nicht immer noch ein Vorbild für Journalisten (und weniger
Journalistinnen), die sich als besonders eigenständig und urteilsstark
empfinden? Das Rätsel lässt sich aufklären durch die historische
Unterscheidung eines Journalisten bzw. einer Journalistin, die
Angestellte eines Medienunternehmens sind, und eines Publizisten bzw.
einer Publizistin, die im Sinn der Aufklärung ihre eigenen Medien
herausgeben und sich als Akteurinnen und Akteure der → Öffentlichkeit
verstehen. Biografisch gesehen, entwickelte sich Kraus von einem
Journalisten zu einem Publizisten, und zwar einem der wichtigsten der
europäischen Moderne.
Herkunft
Karl Kraus wurde am 28. April 1874 in der Stadt Jičín geboren, die
damals zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte und heute im
Norden Tschechiens liegt. Er war das neunte Kind von Jacob und Ernestine
Kraus, einer jüdischen Familie, die 1877 nach Wien zog, in die Haupt-
und Residenzstadt des habsburgischen Kaisers. Sein Vater war ein
Fabrikant, der Papiertaschen produzierte – der ‚Sackl-Kraus‘, wie er im
Wiener Dialekt genannt wurde. Karl besuchte in Wien die Schule und tat
sich schon im Gymnasium mit journalistischen, literarischen und
schauspielerischen Versuchen hervor. Seine erste Veröffentlichung ist
eine Rezension von Gerhart Hauptmanns naturalistischem Drama Die Weber, die im April 1892 – kurz vor der Matura bzw. dem Abitur – in der Wiener Literatur-Zeitung erschien. Es folgte eine umfassende feuilletonistische Publikationstätigkeit in der deutschsprachigen Presse.
Kraus studierte an der Universität Wien, zunächst Rechtswissenschaft,
später Germanistik und Philosophie, schloss seine Studien aber nie ab.
Er war regelmäßig im Wiener Café Griensteidl anzutreffen, wo auch die
Literaten des ‚Jungen Wien‘ verkehrten. Von dieser Gruppe
impressionistischer Autoren distanzierte sich Kraus in mehreren
satirischen Texten, am deutlichsten in der Broschüre Die demolierte Literatur von 1897. Kraus erhielt prestigeträchtige Angebote, als angestellter Feuilletonist zu arbeiten, u. a. von der Neuen Freien Presse,
der wichtigsten deutschsprachigen Zeitung der Österreich-Ungarischen
Monarchie. Er entschied sich jedoch, eine eigene Zeitschrift zu gründen
und herauszugeben: Die Fackel erschien zum ersten Mal am 1. April 1899 in Wien und dann weitere 921 Mal auf insgesamt 22.578 Seiten bis zum Tod des → Herausgebers im Jahr 1936, der ab 1911 auch ihr einziger Autor war. Man kann also mit gutem Recht sagen, dass Die Fackel
das Lebenswerk von Karl Kraus ist. Es steht seit 2007 in einer an der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Online-Ausgabe zur freien Nutzung im Volltext zur Verfügung.
Die Fackel Der Titel ist Programm: Kraus stellte sich in die Tradition der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, wollte nicht news „bringen“, sondern vielmehr „umbringen“ (Die Fackel,
Nr. 1, April 1899, Jg. 1, S. 1), was im Journalismus in Wien um 1900 in
seinen Augen schieflief. Es waren zunächst v. a. die Korruption und die
Vermischung von → Nachrichten und Meinungen, die er an seinen publizistischen Pranger stellte. Die Fackel
berichtete in diesem Sinn kaum über kulturelle und soziale Ereignisse
an sich, sondern kritisierte, wie die Wirklichkeit in der medialen
Wiedergabe verfälscht wurde. „Ich habe Erscheinungen vor dem, was ist“,
heißt es dazu treffend am Beginn des → Essays „Untergang der Welt durch schwarze Magie“, der im Dezember 1912 in der Fackel
erschien. Was Kraus damit meinte, sind die Realitätskonstruktionen der
Medien, die uns heute als selbstverständlich gelten und vielfach
wissenschaftlich untersucht wurden. Er wollte diese Konstruktionen bzw. →
Manipulationen
aber im ethischen Sinn nicht hinnehmen und erinnerte die Journalistinnen
und Journalisten beharrlich daran, dass sie von den Leuten bezahlt
wurden, um Informationen zu liefern, recherchierte Fakten, auf deren
Grundlage die Leserinnen und Leser ihre eigenen Urteile bilden können
sollten. In diesem Essay, dem „Untergang der Welt durch schwarze Magie“,
nämlich jener der Druckerschwärze, brachte Kraus seine Pressekritik auf
den Punkt: „Die Zeitung ruiniert alle Einbildungskraft: unmittelbar, da
sie, die Tatsache mit der Phantasie servierend, dem Empfänger die
eigene Leistung wegnimmt; mittelbar, indem sie ihn unempfänglich für die
Kunst macht und diese reizlos für ihn, weil sie deren Oberflächenwerte
weggenommen hat.“ (Die Fackel, Nr. 363–365, Dezember 1912, Jg. 14, S. 4)
Diese Passage ist kaum verständlich, ohne den Bezug zur
Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants herzustellen. Für Kant war die
„Einbildungskraft“ das Bindeglied zwischen den empirischen Daten und den
Verstandesbegriffen, ohne das keine Urteilsbildung möglich, oder besser
gesagt, vorstellbar ist. Gut hundert Jahre, nachdem Kant seine
Erkenntnistheorie formuliert hatte, warf Kraus dem Journalismus vor, das
menschliche Vermögen eigenständiger Realitätskonstruktion zu
beschädigen, indem Fakten und Meinungen, Information und Interpretation
in der Berichterstattung ständig vermischt würden. Im negativen Sinn
vorbildlich für diese Vermischung galt ihm der Leitartikel und das → Feuilleton,
die sich künstlerischer Mittel bedienten, z. B. rhetorischer Figuren
oder szenischer Darstellung, um die Subjektivität und den
Unterhaltungswert der Texte zu betonen. Als journalistische Methode
verstanden, führe diese Art der Berichterstattung dazu, dass die
Menschen ihre Fantasie und damit die Fähigkeit verlieren würden,
selbstständig zu denken und zu handeln.
Die letzten Tage der Menschheit Wer die Tragweite der Kraus’schen → Medienkritik
begreift, versteht auch, wie er zu dem hyperbolischen Schluss kommen
konnte, dass die Presse schuld am Weltkrieg und später am
Nationalsozialismus sei. Mit dem Ersten Weltkrieg setzte er sich in
seinem bekanntesten Werk auseinander, dem offenen Drama Die letzten Tage der Menschheit, das von 1915 bis 1919 in der Fackel
und 1922 in einer überarbeiteten Fassung als Buch erschien. In der
Buchausgabe umfasst die „Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog“
220 Szenen mit hunderten Figuren bzw. Stimmen, die oft dokumentarischen
Charakter haben, also auf Zitate (zumeist aus der Presse) zurückgehen,
die Kraus in diesem polyphonen Werk montierte. „Die unwahrscheinlichsten
Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden;
die grellsten Erfindungen sind Zitate“ (Kraus 1922: VII), heißt es im
Vorwort der Buchausgabe von Die letzten Tage der Menschheit,
die sich – entgegen fast der gesamten zeitgenössischen Publizistik – von
Anfang an gegen den Krieg und das „technoromantische Abenteuer“
wandten, als das ihn viele Journalistinnen und Journalisten empfanden.
Dritte Walpurgisnacht Nach dem Ende des Weltkriegs und dem Zusammenbruch der
Habsburgermonarchie trat Kraus für die Erste Republik in Österreich ein
und verbündete sich zeitweise mit der Sozialdemokratie und ihrer Presse,
v. a. der Wiener Arbeiter-Zeitung. Er erkannte und benannte
die Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus allerdings früh und
wurde selbst Opfer von antisemitischen Angriffen in Boulevardzeitungen.
1933 verfasste Kraus in Wien einen rund 300-seitigen Essay über die
nationalsozialistische ,Machtergreifung‘ in Deutschland, der auf
bedrückende Weise dokumentiert, was von Anfang an wissen konnte, wer das
Zeitgeschehen aufmerksam verfolgte, nämlich dass der
Nationalsozialismus auf „Vernichtung“ hinauslief. Das meinte Kraus wohl
mit dem viel zitierten ersten Satz dieses Textes: „Mir fällt zu Hitler
nichts ein“ (Kraus 1989: 12).
Der Titel des Essays gibt Aufschluss über seine Machart, denn die Dritte Walpurgisnacht
verwebt dokumentarische Zitate, die v. a. aus der zeitgenössischen
Presse stammen, mit Zitaten aus der klassischen Literatur, u. a. Goethes
Faust, in dessen beiden Teilen die Walpurgisnächte als
mythologische bzw. irrationale Einschübe fungieren. 1933 sah sich Kraus
mit einer „dritten“ Walpurgisnacht konfrontiert, in der die technischen
Mittel der Moderne auf Basis einer Blut-und-Boden-Ideologie gegen die
Prinzipien der Aufklärung gewandt wurden. Gegen Ende des Textes schreibt
Kraus die Verantwortung dafür wieder der Presse zu: Die
Nationalsozialisten hätten nun „die Höhle bezogen, als die das gedruckte
Wort der Altvordern die Phantasie der Menschheit hinterlassen hat“
(Kraus 1989: 308). Der Vorwurf lautet, mit anderen Worten, dass der
Journalismus die Urteilsfähigkeit der Menschen ruiniert und dem
autoritären Regime des Nationalsozialismus so den Weg gebahnt habe.
Tod
Aus persönlichen und inhaltlichen Gründen entschied sich Kraus gegen die Publikation der Dritten Walpurgisnacht, die erst postum 1952 erschien. Stattdessen veröffentlichte er in der Fackel vom Oktober 1933 sein letztes Gedicht:
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte. (Die Fackel, Nr. 888, Oktober 1933, Jg. 35, S. 4)
Das Gedicht bezieht sich inhaltlich auf die nationalsozialistische
‚Machtergreifung‘ und gibt indirekt Aufschluss über die Gründe, warum
die Dritte Walpurgisnacht unveröffentlicht blieb. Die Mittel
der Satire und der Polemik, die Kraus zeitlebens in seinem Schreiben
angewandt hatte, erschienen ihm offenbar nicht mehr angemessen für das,
was 1933 in Deutschland geschah: „Kein Wort, das traf“. Durch die Wahl
des ,vers commun‘ – eines jambischen Zehn- oder Elfsilbers mit einer
Zäsur nach der zweiten Hebung und einem Endreim – stellte Kraus aber
eine historische Verbindung zum Humanismus her und ließ die Hoffnung
anklingen, dass mit dem „Wort“ die als ‚logos‘ verstandene Vernunft nur
„entschlafen“ sei und irgendwann wieder aufwachen könnte. Er sollte die
Erfüllung dieser Hoffnung nicht mehr erleben. Karl Kraus starb am
12. Juni 1936 an einem Herzinfarkt und wurde in einem Ehrengrab auf dem
Zentralfriedhof in Wien beerdigt.
Literatur:
Djassemy, Irina: Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“: Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Würzburg [Königshausen & Neumann] 2002.
Fischer, Jens Malte: Karl Kraus: Der Widersprecher. Wien [Zsolnay] 2020.
Ganahl, Simon: Ich gegen Babylon: Karl Kraus und die Presse im Fin de Siècle. Wien [Picus] 2006.
Ganahl, Simon: Karl Kraus und Peter Altenberg: Eine Typologie moderner Haltungen. Konstanz [Konstanz University Press] 2015.
Prager, Katharina (Hrsg.): Geist versus Zeitgeist: Karl Kraus in der Ersten Republik. Wien [Metroverlag] 2018.
Prager, Katharina; Simon Ganahl (Hrsg.): Karl Kraus-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Berlin [Metzler] 2022.
Timms, Edward: Karl Kraus: Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874–1918: Eine Biographie. Übers. v. Max Looser u. Michael Strand. Frankfurt a. M. [Suhrkamp] 1999.
Timms, Edward: Karl Kraus: Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes. Übers. v. Brigitte Stocker. Weitra [Bibliothek der Provinz] 2016.
Sehen lernen, was den westlichen Blick auf die Welt bestimmt:
Philippe Descolas vergleichende Anthropologie des Bildes ist ein großer
Wurf.
Von Peter Geimer
Als
der französische Anthropologe Philippe Descola in den Siebzigerjahren
die indigene Kultur der Achuar im Amazonas studierte, machte er eine
Erfahrung, die bereits sein Lehrer Claude Levi-Strauss
beschrieben hatte: Die Kategorien, in denen die Achuar dachten und die
Welt beschrieben, unterschieden sich so grundsätzlich von den
Erwartungen des Wissenschaftlers, dass er einen Teil seiner eigenen
Denktradition vergessen musste, um sie zu verstehen. Eine Unterscheidung
zwischen Natur und Kultur existierte im Denken der Achuar ebenso wenig
wie Bereiche namens „Technik“, „Religion“ oder „Geschichte“. Wollte er
dieses andere Denken auch nur ansatzweise verstehen, musste der Reisende
in der Fremde zuerst sich selbst fremd werden.
Diese Erfahrung
verarbeitete Descola später in seiner berühmten Studie „Jenseits von
Natur und Kultur“ – einer anthropologischen Neuvermessung der Welt, die
den Vergleich mit Michel Foucaults
„Ordnung der Dinge“ nicht scheuen musste. Wo Foucault sich allerdings
auf drei Jahrhunderte des westlichen Denkens konzentrierte, entwirft
Descola eine Ontologie im globalen Maßstab.
Ein geistbegabtes Wesen namens „Mensch“
Die Flughöhe ist hoch, und von dort oben
betrachtet geraten manche Nuancen und Details in den Hintergrund. Dafür
aber werden großflächige Strukturen erkennbar, die ein geographisch und
historisch dicht in Bodennähe operierender Blick nicht erfassen kann.
Descola spricht von verschiedenen „ontologischen Filtern“, die darüber
entscheiden, ob die Welt, in der man sich bewegt, der Ordnung des
Animismus, des Totemismus, des Analogismus oder des Naturalismus
entspricht. Einzig die Denktradition des Naturalismus, die Descola der
westlichen Welt seit dem Mittelalter zuordnet, unterscheidet kategorisch
zwischen geistbegabten Wesen namens „Mensch“ auf der einen,
nichtmenschlichen Wesen auf der anderen Seite.
Die ganz anders
organisierte Welt des Totemismus sieht eine solche Trennung nicht vor.
Menschen, Tiere und Pflanzen gehören einem gemeinsamen Prototyp an –
etwa der Klasse des Adlers –, da sie bestimmte Eigenschaften teilen. Auf
dieser Basis entwickelt Descola in seinem neuen großen Buch eine
vergleichende Anthropologie des Bildes. Wenn „die Weisen der
Identifikation“, so der Autor, „tatsächlich die strukturierende Funktion
besitzen, die ich ihnen zuschreibe, dann muss es möglich sein, sie auch
in den Bildern zu finden“.
Nach den ein wenig abgeebbten Debatten um den iconic turn
liegt mit Descolas Buch nun nicht weniger als der Entwurf einer neuen
Bildtheorie vor. Descola teilt die Grundannahme der Bildwissenschaften,
wonach visuelle Evidenz sich grundsätzlich von der Logik der Schrift
unterscheidet. Statt vom „Bild“ spricht der Autor aber lieber von
„Figuration“ – ein Begriff, der die Vergegenwärtigung des Dargestellten
ebenso einschließen soll wie seine Verankerung in einer bestimmten
Ontologie. Wie die um 1900 unternommenen Versuche einer
„Weltkunstgeschichte“ zeigen, laufen universalistische Entwürfe leicht
Gefahr, die eigene Kultur als verbindliche Norm zu betrachten.
Wasser, Düne, Opossum und Pflaumenbaum
Einer solchen Gleichschaltung entgeht
Descola schon dadurch, dass er den Begriff der „Kunst“ gar nicht erst
verwendet. Für den Versuch seiner globalen Anthropologie erweist sich
eine Fokussierung auf den Sonderfall der Kunst als wenig hilfreich. Die
schematische Darstellung eines Sees, die ein Mitglied des australischen
Clans der Manggalili auf eine Baumrinde gemalt hat, mag auf den ersten
Blick als künstlerisches Abbild einer Landschaft gelten. Wie Descola
zeigt, repräsentiert das Schema aber keine existierende Topographie,
vielmehr kommt die Landschaft erst durch die innere Verwandtschaft der
in ihr lebenden Wesen zustande.
Der
europäischen Tradition, die Verwandtschaft vor allem durch
morphologische Ähnlichkeiten herstellt, muss der totemistische Impuls,
Wasser, Düne, Opossum und Pflaumenbaum aufgrund ihrer gemeinsamen
Eigenschaften als einheitliche Klasse zu begreifen, befremdlich
erscheinen. Die ganz anders strukturierte Welt des Animismus beschreibt
Descola am Beispiel der asymmetrischen Gesichtsmasken der Ureinwohner
Alaskas. Indem sie ein halb geschlossenes und ein weit geöffnetes Auge
zeigen, vereinen die Masken die Sichtweise des Jägers mit derjenigen der
Beute. Das Tragen der Maske lässt den Jäger das Terrain überblicken.
Zugleich bewirkt es, dass umgekehrt auch die Tiere mit ihm in Verbindung
treten können: im Auge des Jägers erblickt das Tier sich selbst und
erkennt, ob dieser „es wert ist, ihm den eigenen Körper zum Geschenk zu
machen“.
Die Möglichkeit einer anderen Lesart
Die Lektüre des Buches verlangt danach,
bekannte Beschreibungsmuster zu vergessen – nicht allein im Blick auf
die Weltentwürfe der anderen, sondern ebenso auch im Blick zurück auf
die eigene Kultur. Wie der Weltreisende muss er bereit sein, sich seiner
Bildung ein Stück weit zu entfremden. Denn Descola abstrahiert in den
Kapiteln zur europäischen Kunst von beinahe allen Voreinstellungen des
tradierten kunsthistorischen Diskurses: ästhetische Norm, Intention des
Künstlers, Wanderung von Stilen und Motiven, Sozialgeschichte,
Provenienz der Bilder. Stattdessen gilt die Aufmerksamkeit der
Sichtbarmachung jener ontologischen Grundierung, die den westlichen
Naturalismus zusammenhält: der Entwurf einer Welt, die von einem
„menschlichen Subjekt gebildet wird, indem es sie von seinem Standort
aus beobachtet“.
Dass
es im Holland des siebzehnten Jahrhunderts Menschen gab, die
Schalentiere, Zinnbecher und Früchte malten, erscheint nach der Lektüre
des Buches ebenso erstaunlich wie der Versuch, in einem gemalten Porträt
das Wesen eines Menschen einzufangen. Die immer wieder als Zäsur
beschriebene Erfindung der Zentralperspektive erscheint in einem anderen
Licht, wenn Descola die Detailbegeisterung flämischer Maler als
Ausdruck derselben Grundeinstellung zur Welt beschreibt: der Gewohnheit,
die sichtbare Welt als Gegenpart zur eigenen Innerlichkeit zu
betrachten. Auch manche Meistererzählungen der Avantgarde sehen nach
ihrer anthropologischen Durchleuchtung überraschend anders aus: im
Register Descolas ist Mondrian mit seinem Willen zur Abstraktion Teil
derselben Welthaltung, von der er sich vermeintlich verabschiedet.
Das Buch wird
hierzulande – spätestens mit seiner Übersetzung – eine interessante
Diskussion auslösen. Foucaults intellektuellem Unternehmen ähnelt es
auch darin, dass es ein Leichtes sein wird, dem Autor vorzurechnen,
welche Spezialstudien er nicht zur Kenntnis genommen hat. Aber darum
geht es eben gar nicht. Descola verfügt über exzellente Kenntnisse der
kunsthistorischen Literatur. Vor allem aber besteht der Einsatz seines
Buches ja gerade darin, den bewährten Zugängen der Kunstgeschichte die
Möglichkeit einer anderen Lesart an die Seite zu stellen. In der
Flughöhe des Anthropologen kommt sich manches überraschend nahe, was
bislang getrennt erschien. Ebenso schärft sich aber dort, wo man
Ähnlichkeiten sah, der Blick für Differenzen. Wenn das Denken nicht auf
Dauer in sich selbst kreisen soll, sind große Entwürfe wie derjenige
Descolas unverzichtbar.
Philippe
Descola: „Les formes du visible“. Une anthropologie de la figuration.
Éd. du Seuil, Paris 2021. 848 S., Abb., br., 35,– €.
Nota. -Von Mentalitätsgeschichte war noch keine Rede, als Diltheys Brieffreund Paul Gf. Yorck seine Fragmente Bewußtseinsstellung und Geschichte zu Papier brachte, selbst der Ausdruck Geisteswissenschaft war noch brandneu. Zu Populari-tät haben sie es nie gebrach, sie wurden erst 1956 postum bei Niemeyer in Nürn-berg veröffentlicht.
Doch durch Diltheys Vermittlung sind sie über Norbert Elias, Bernhard
Groethuysen und Alexandre Koyré schulbildend geworden.
Der
kulturanthopologische Ansatz von Lévy-Strauss hat ganz andere Quellen,
aber er kam viel später, und was er der 'geistesgeschichtlichen'
Richtung verdankt, sollten die Cultural anthroplogists selber erwägen. Denn sie sind nicht die Monopolherren dieses Terrains und nicht einmal seine Entdecker.
Feldforschung
ist etwas anderes als Quellenstudium. Doch schon Gf. Yorck war
aufgefallen, dass sich der Unterschied zwischen orientalisch-antiker und
modern westlicher Bildung nicht auf bestimmte items- und seien es noch so viele - be-schränkt, sondern modal die gesamte Welt- und Lebensauffassung betrifft, was er mit "Bewusstseinsstellung" umschreibt. Okular nennt er die Verständnisweise der alten Griechen und Inder, die etwas zu verstehen meinten, sobald sie es in ein Bild fassen konnten, während der vernünftige Westler seit Descartes alles verräumlichen müsste, um, wie man heute treffend formuliert, damit "umgehen" zu können. (Die dazwischenliegenden Jahrhunderte römischer Klerikalität nennt er fein pointiert das "christlich-antike Amalgam".)
Die Frage ist nicht ("ontologisch"), ob daseinerichtige
Unterscheidung ist, und gar, obdieeineoderdieandereWeltsicht ontologisch"richiger"sei. Sondern das Gewahr-werden des Unterschiedes
selbst macht augenfällig, dass ein solches Urteil gar nicht möglichist, weil jeder Urteilende notwendig in der einen oder andern "Bewusst-seinsstellung" selbst befangen ist.
Das
ist das wissenslogische Kernproblem aller vergleichenden
Kulturwissenschaft und gehört zum täglich Brot des Quellenstudiums wie
der Feldforschung. Und es ist nicht eine Weltsicht so gut wie die andere
Weltsicht. Nämlich nicht in der Welt, der der Wissenschaftler
angehört, und darum kann er sich nicht nach Gusto für die eine oder die
andere "entscheiden".
Privat für sich allein mag ers versuchen, aber er riskiert wie Gauguin ein graues Wunder. Dem Rezensenten jedoch scheint es zu genügen, wenn wir unser moder-nes Bild von der Welt, das vom „menschlichen Subjekt gebildet wird, indem es sie von seinem Standort
aus beobachtet“, mit einem Kessel Buntes garnierten. Als ich in der FAZ
seinen Bericht aufschlug, hoffte ich, auf genau solches Material zu
sto-ßen. Das ist er mir schuldig geblieben, und so müsste ich Descolas
dickleibiges Buch selber lesen. Doch das hat er mir auch nicht
schmackhaft gemacht. JE, 7. 4. 22
Vernunft ist kein schöner Götterfunken, sondern kühl und klar.
Nota. Das
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36 Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören, denn du vermagst nicht ein einziges Haar schwarz oder weiß zu machen. 37Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.
15 Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest!16 Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.
Das
Missverständnis, Vernunft sei nicht nur trocken, sondern auch lau und
lang-weilig, kommt daher, dass sie eines Tages als Gegnerin des Glaubens
auftrat. Da hatten es die buchstabenfrommen Pharisäer auf einmal
leicht: Mutter aller Fana-tismen sei die biblische Offenbarung - und der
Dreißigjährige Krieg, der Europa erst zu dem gemacht hat, was es heute ist, gab davon ein schreckliches Zeugnis.
Glauben mag jeder, was er mag, und mit allem Eifer, den er dafür übrig hat; doch wenn die Offenbarung fortfiel, gab es kein Maß mehr.
Man musste sich also einigen.
Da
gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: den Schacher, den die Pharisäer
Konsen-sus nennen, und der scharfe Schluss aus geprüften Dingen. Vernunft istnurdasletz-tere, das erstere ist der goldene Mittelweg oder auch Eine Hand wäscht die andre.
Helmut Börsch-Supan hatte Recht: Die Entscheidung für die Schlossattrappe war die Bankrotterklärung der zeitgenössiscchen Architektur. Da konnte man ihm nur Recht geben, aber so war es wenigstens ehrlich: Wir sind nicht fähig, an der Stelle, wo das Schloss stand, einen sowohl ästhetisch als historisch angemessenen Ersatz zu schaffen. Die Schlossattrappe war eine Notlösung, aber wir hatten keine bessere.
Inzwischen ist das Ding "fertig", nachdem der elende Ostflügel so flach dasteht, wie der Architekt ihn ausgedacht hat. Fix und fertig, darf man sagen, seit der Zank sich auf sein gehöriges Niveau eingependelt hat: Inschriften auf der Kuppel, die von öffentlichem Platz aus gar nicht lesbar sind, und jüdische Propheten, die zwar nicht richtig christlich sind, aber eben auch weder schwarz noch gelb oder doch wenig-stens weiblich.
Es ist nicht einmal eine Notlösung. Gegen einen modernen Neubau sprach: Wer immer ihn entwerfen durfte - spätestens nach zwanzig Jahren hätten die Spatzen vom Dach geschrien: Das Ding muss wieder weg!
Die Welt schrieb gestern über Das gefährliche Lügenproblem der KI. Zugleich nimmt das hin-und-her Mußmaßen darüber, wie weit KI an unsere natürliche In-telligenz heran reichen wird oder auch darüber hinaus, nicht ab. Beides zusammen-gesehen, setzt uns ein Licht auf. Noch niemals war nämlich einer besorgt über die Eventualität, dass künstliche Intelligenz eines Tages die... Vernunft neu erfinden und uns da überflügeln könnte.
Wo ist der Nexus? KI kann unbefangen lügen wie gedruckt, weil sie keine kritische Instanz eingebaut hat. Ohne Kritik gibtesaberkeine Vernunft. Präziser gesagt, Ver-nunft ist kritisch. Das bedeutet, dass sie prinzipiell fähig und willig ist, jeder mögli-chen Frage auf den Grund zu gehen.
Was aber ist derGrund?Es ist die allererste Voraussetzung, an der ein Denkvor-gang ansetzen und aus der er heraus-schließen muss.
Was es ist, das er voraussetzen muss, müssen wir dabei gar nicht wissen. Wir müs-sen aber voraussetzen, dass es unter allen möglichen Bedingungen gilt.
Was Geltung ist im Unterschied etwa zu Sein, kann die Maschine nicht wissen. Denn jeder noch so mikrologische Akt, den sie unternehmen kann, beruht auf Geltungen, die ihr einprogrammiert sind. Wenn das System sie prinzipell in Frage stellen würde, könnte es seinem Programm nicht folgen - könnte es nicht funktio-nieren.
Es ist so: Vernunft ist kritisch, oder sie ist nicht. Da gibt es keine halben Sachen.
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