Montag, 31. Juli 2023

Der Gegenstand der Naturwissenschaft ist nicht natürlich.

                                                      aus An der Grenze der Naturwissenschaft

Die Kritik an der Künstlichkeit der Gegenstände experimenteller Naturwissenschaft kam gleichzeitig mit der Einführung des experimentellen Verfahrens durch Fr. Bacon auf. In ihren Laboren quälten, folterten und verstümmelten die Forscher die lebendige Natur, und deren abgezwungene Auskünfte seien so unverlässlich wie die Geständnisse eines Angeklag-ten unter der Tortur.

Freilich war das ein emphatisches Bild von der Natur und kein reduktionistisches; doch Bilder sind sie beide.

Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften wurde von Wilhelm Dilthey systematisiert, und umgangssprachlich tut sie bis heute gute Dienste. Aber erkenntnislogisch ist sie irreführend, wie bereits Diltheys neukantianische Zeitgenossen vermerkten: Der Ge-genstand der Naturwissenschaften ist vom systematisierenden Geist des Forschers intenti-onal entworfen, und indem er sich mit ihm befasst, befasst er sich - in zweiter Instanz - ebenso mit 'dem Menschen' wie in erster Instanz die Geisteswissenschaften. Nicht nach ihren Gegenständen, sondern nach ihren Erkenntniswegen müssten die Wissenschaften unter-schieden werden: in solche, die ("nomothetisch") allgemeine Gesetze für mannigfal-tige Phänomene aufstellen; und solche, die ("idiographisch") einzelne Phänomene umfas-send beschreiben wollen.  

Jede Forschung verfährt nomothetisch, wenn und indem sie sich mathematischer Formeln bedient. Was mathematisch dargestellt wird, wird als Gesetz dargestellt. Allerdings hat nicht die Natur die Mathematik hervorgebracht. Vielmehr hat ein mathematisches Weltbild das hervorgebracht, was wir heute unter Natur verstehen; es ist ein Zirkel.

Wenn H.-J. Rheinberger den Gegensatz von Natur- und Kulturwissenschaften irgendwie übersteigen will, kann ihm das immer nur nach dieser einen Seite hin gelingen: Im 'Natur-gegenstand' steckt immer schon mehr Kultur, als im Kulturereignis natürlicher Stoff...

Kommentar zu: Der Gegenstand der Naturwissenschaft ist nicht natürlich., 26. 12. 20

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Sonntag, 30. Juli 2023

Unbewusst und unterbewusst.


aus derStandard.at, 30. 7. 2023                                                                      zuJochen Ebmeiers Realien

"Wichtige Entscheidungen nicht der Intuition überlassen"
Das Unterbewusste verleitet zu Entscheidungen, die oft nicht in unserem Interesse sind, sagt Stefan Kölsch

Interview von Till Hein

STANDARD: Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das sogenannte Unterbewusste. Was darf man sich darunter vorstellen?

Das Unterbewusste ist ein relativ kleiner, aber wichtiger Teil des Gehirns, der evolutionär entstanden ist. Er hat sich bei den Säugetieren aus dem Riechkolben entwickelt – und neben der Verarbeitung von Geruchsreizen sehr bald viele weitere Funktionen übernommen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Kölsch: Das Wittern von Gefahr. Im Grunde ist das Unterbewusste ein Überlebenssystem. Wenn im Urwald plötzlich ein Tiger aus dem Gebüsch springt, ist es wichtig, dass wir unsere ganze Aufmerksamkeit darauf lenken. Das Unterbewusste nimmt in solchen Situationen das ganze Gehirn unter seine Kontrolle, erzeugt starke Angst – und wir fliehen. Heutzutage macht es uns durch diese Funktion blind: mit Sorgen, Ärger und Vorurteilen. Im Urwald ist das Unterbewusste perfekt. In der modernen Welt jedoch legt es uns oft Fallstricke. Denn häufig verleitet es zu Entscheidungen, die längerfristig nicht in unserem Interesse sind.

Stefan Kölsch, "Die dunkle Seite des Gehirns: Wie wir unser Unterbewusstes
 überlisten und negative Gedankenschleifen ausschalten". 
€ 22,50 / 384 Seiten. Ullstein, Berlin 2022

STANDARD: In Ihrem Buch "Die dunkle Seite des Gehirns" berichten Sie etwa von unbewussten "Höllenspiralen". Hört sich bedrohlich an.

Kölsch: Ja. Aber die Auslöser sind oft banal, zum Beispiel ein Zug, der Verspätung hat. Das Unterbewusste fokussiert dann – so wie im Beispiel mit dem Tiger – voll auf diesen negativen Umstand und legt das rationale Denken lahm. Unsere Ahnen durften in solchen Situationen eben nicht erst überlegen: "Klettere ich jetzt auf diese Palme da, um mich in Sicherheit zu bringen? Oder passt die andere Palme besser zu meinem Lendenschurz?" Wer sich da Zeit zur Reflexion nimmt, wird nicht Vorfahre einer Spezies.

STANDARD: Wo liegt heute das Problem?

Kölsch: Das Unterbewusste reagiert übermäßig stark auf negative Reize. Bleiben wir bei der Ansage einer Zugverspätung auf dem Bahnsteig. Noch bevor wir da überhaupt angefangen haben, bewusst die möglichen Folgen abzusehen, bewertet unser Unterbewusstes die Situation blitzschnell und stuft die Verspätung als Katastrophe ein. Sofort erzeugt es die ersten Ärgerimpulse im Gehirn und bereitet das Ankurbeln einer emotionalen Höllenspirale vor. Um zu differenzieren, hat uns die Evolution das Bewusstsein gegeben, gleichsam als raffiniertes "Hilfsprogramm". Trotzdem lassen wir uns oft vom Unterbewussten steuern ...

STANDARD: … und fliehen dann Hals über Kopf, wie vor einem Tiger?

Kölsch: Nicht unbedingt. Das Unterbewusste schürt sehr oft auch Ärger und Wut – denn früher im Urwald war es gegenüber angreifenden Tieren ja oft auch wichtig, Aggression zu zeigen. Wenn wir uns in der modernen Welt über die Zugverspätung ärgern, erkennen wir diese Wut oft nicht als Regung aus dem Unterbewussten und lassen ihr freien Lauf. Schnell kommen dann Gedanken auf wie: "Schon wieder!", "Fürchterlich!", "Typisch!!" – das vermiest unsere Stimmung und ruft immer neue negative Gedanken hervor. Das Unterbewusste hat die Kontrolle übernommen.

STANDARD: Hatte Freud also recht: Wir werden im Alltag oft von Affekten getrieben, die mit unserem rationalen Denken wenig zu tun haben?

Kölsch: Interessant, dass Sie Freud ansprechen. Ursprünglich sollte Die dunkle Seite des Gehirns mit einer Parallele zwischen Sigmund Freud und Christoph Kolumbus beginnen: Kolumbus gilt bekanntlich als der "Entdecker Amerikas" und Freud als der "Entdecker des Unbewussten". In Wirklichkeit aber hat sich Freud mit seiner Sicht auf das Unbewusste etwa so stark getäuscht wie Kolumbus mit der Annahme, dass er einen Seeweg nach Indien entdeckt habe.

STANDARD: Wie meinen Sie das?


Kölsch: Freud sah im Unbewussten in erster Linie einen Hort primitiver sexueller Triebe und Bedürfnisse, deren verklemmte Verdrängung die Ursache für neurotische Störungen sei. Aber viele seiner Mutmaßungen ließen sich wissenschaftlich nicht erhärten, zum Beispiel der berühmt-berüchtigte "Ödipus-Komplex".

STANDARD: Sind die Inhalte des Unterbewussten bei allen Menschen gleich?

Kölsch: Nein. Sie und ich sind zum Beispiel in unterschiedlichen Familien aufgewachsen und haben schon dadurch individuelle Bindungs- und Persönlichkeitsstile entwickelt. Daher unterscheiden sich auch manche unterbewussten Prozesse bei uns. Ein Teil ist angeboren. Etliche unterbewusste Inhalte werden jedoch erworben, insbesondere in der frühen Kindheit.

STANDARD: Sie schreiben, dass das Unterbewusste seine Entscheidungen anhand von sieben simplen Prinzipien trifft. Zum Beispiel?

Kölsch: Risikovermeidung. US-amerikanische Psychologen haben nachgewiesen: Wenn man Testpersonen zum Beispiel wählen lässt zwischen 45 Euro sicher und der Chance, 100 Euro zu erhalten, wenn bei einem Münzwurf "Zahl" herauskommt, dann wählt die Mehrheit unterbewusst die sicheren 45 Euro. Sie tun dies selbst dann, wenn sie diese Lotterie mehrmals hintereinander spielen können. Das ist eine irrationale Entscheidung. Denn die 50-Prozent-Chance auf 100 Euro hat einen Wert von 50 Euro. Man macht da also ein schlechtes Geschäft, wenn man sich auf seine Intuition verlässt. Aber wenn wir die Wahl haben zwischen dem sicheren Spatz in der Hand und der riskanten Taube auf dem Dach, tendiert unser Unterbewusstes zum Spatz in der Hand.

STANDARD: Gerade bei wichtigen, längerfristigen Entscheidungen soll man der Intuition nicht trauen, schreiben Sie. Stattdessen schlagen Sie vor, die Vorteile und Nachteile jeder Option bewusst zu benoten. Aber mal ehrlich, würden Sie Ihre Lebenspartnerin anhand einer solchen Liste aussuchen: Intelligenz, Aussehen, Humor, Reichtum, jeweils auf einer Skala von eins bis zehn – und die Frau mit den meisten Punkten gewinnt?

Kölsch: Man sollte rational abwägen, statt nur kurzfristig interessante Aspekte im Blick zu haben: super Aussehen, guter Sex, solche Dinge? Entscheidend ist doch: Mit welcher Person kann das Leben auch in Krisen und über lange Zeit hinweg erfüllend sein? Ich warne davor, wichtige Entscheidungen ohne bewusstes Nachdenken allein der Intuition zu überlassen, denn dann werden wir rasch von unterbewussten Abwägungen geleitet – und diese sind oft nicht in unserem ureigenen, langfristigen Interesse. Man kann damit beginnen, sich seine eigenen Werte und Interessen bewusst zu machen und dann abzuwägen, welche Option diesen am besten entspricht.

STANDARD: Weiß man so grundlegende Dinge etwa nicht auswendig?

Kölsch: Erstaunlicherweise geraten sie bei sehr vielen Menschen im Alltag oft in Vergessenheit. Ich empfehle daher, eine persönliche Erklärung der eigenen Werte und Ziele niederzuschreiben. Ich selbst habe da neben "Gesundheit" und "Gerechtigkeit" zum Beispiel auch "Musik" notiert. Wenn ich mir den Zettel morgens ansehe, finde ich gleich viel leichter eine Stunde Zeit, um Geige zu spielen
.


Stefan Kölsch (*1968 in Texas) studierte Psychologie und Soziologie. 2000 promovierte er am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. 2010 wurde er Psychologieprofessor an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 lehrt und forscht er an der Universität Bergen in Norwegen.


Nota. - Jeder von uns macht täglich tausende von Handlungen, derer er sich nicht 'bewusst' wird: so wenig, dass sie in seinem Gehirn keinerlei Gedächtnisspur hinterlassen. Atmen wäre anders gar nicht möglich. Das ist unbewusst und soll es bitte bleiben, weil ich sonst vor lauter Überlegen nicht zum Entscheiden käme. Und von all den Dingen, die ich wissentlich tue, kann ich höchstens zehn (oder fünf?) Prozent in meinem Arbeitsspeicher behalten, wenn ich meinen bürgerlichen Alltag bewältigen soll. Den Rest lasse ich tiefer sacken. Entscheidend ist aber:  Wenn ich will, kann ich danach suchen und mich erinnern. Was Stefan Kölsch das Unterbewusste nennt, müsste ich dabei immer wieder mal aus dem Weg räumen: Das nennt man reflektieren.

Freuds 'Unbewusstes' führt dagegen eine autonomes Sein: Je mehr ich darauf reflektiere, um so tiefer versinkt es im Dunkel, aber wenn auch ich keinen Zugang zu ihm habe, hat es doch jeden erdenklichen Zugang zu mir - denn da es mir nie begegnet, kann ich es auch nicht kontrollieren. Und wenn es mich Dinge tun lässt, derer ich mich schämen sollte, kann ich immer sagen: Derda wars. Der Berufsstand der Psychoanalytiker verdient daran seinen Lebensunterhalt.
JE

Die Welt im Labor.

 bing                        zuJochen Ebmeiers Realien   zu Philosophierungen

Man kann an einem x nichts messen, das sich zu nichts außer ihm verhält. Außer seinen Verhältnisen zu Anderem gibt es das x gar nicht. Doch der Laborversuch tut so, als ob. Tatsächlich löst er das x nur aus den Verhältnissen, in denen es 'von Natur aus' steht, und versetzt es in die neuen, künstlichen des Labors. Doch da findet man das x nicht "an sich", sondern - in Laborverhältnissen. Wer es wissenschaftlich beschreiben will, muss es in der Laborsituation beschreiben.


Was unterscheidet den Wissenschaftler – den "exakten", den "Natur"-Wissenschaftler – von den Forschern, Nachdenkern und Ergründern in anderen Bereichen?

Das Experiment. Und das ist nicht bloß die geduldige Beobachtung von dem, was "von Natur aus" sowieso schon geschieht, sondern der kontrollierte Versuch im Labor. Dort wird zunächst einmal eingegrenzt, was eigentlich beobachtet werden soll, nämlich nicht alles, was "vorkommt", sondern dasjenige, was der Forscher in seiner Eingangsfrage als Dieses-Eine vorab identifiziert hat. Also ein Auswahl aus dem, was "die Natur" dem un-befangenen Auge bietet.

Und der Versuch geschieht nach einer ausgeklügelten Anordnung, die penibel dokumentiert wird, damit ein jeder Interessierte ihn gegebenenfalls wiederholen kann.

Der ganze Sinn dieses aufwendigen Unternehmens: Kontingenz ausschalten. Kontingenz ist alles, was unter anderen Umständen anders ablaufen könnte; vulgo der "Zufall".

Zufall bedeutet aber: das, was nicht dem Gesetz unterliegt, sondern gesetzlos und 'willkür-lich' geschieht.

Mit andern Worten: Das experimentelle Verfahren setzt eo ipso die Gesetzmäßigkeit der zu beobachtenden Phänomene voraus. Sonst könnte das Experiment ja nichts beweisen. Und das allgemeinste Gesetz der Naturwissenschaften – Dasjenige, was sie zu Naturwissenschaf-ten überhaupt erst macht – heißt Kausalität. Kontingenz ist demgegenüber alles, was keiner Kausalität zugeordnet werden kann.

Wenn allerdings der Forscher sein Verfahren so ausgewählt hat, dass es überhaupt immer nur Kausalitäten sichtbar machen kann, dann... hat er sich von vorn herein dazu entschlos-sen, alles, was Will-Kür – freie Wahl – sein könnte, nicht zu beachten.

Experimente zur Willensfreiheit sind unwissenschaftlich, weil sie ihr Ergebnis durch die Wahl des Verfahrens bereits vorweg genommen haben, statt es... zu überprüfen!

Samstag, 29. Juli 2023

Es wird Zeit.

 nach El Lissitzky                                                                                     zu öffentliche Angelegenheiten

Die Zukunft der Bundesrepublik hängt davon ab, ob und wie bald die deutsche Politik die Neugruppierung einer scharfen Mitte gelingt. Wenn nicht, kann Deutschland nicht wieder zur Führungskraft in Europa werden, das dann auf Dauer zwischen China und den USA zerrieben wird.



Dass die CDU bei einer solchen Umgruppierung als Partei keine Rolle spielen wird, wenn sie den Untoten zu ihrem Vorsitzenden macht - oder richtiger: zeigt, dass sie's gar nicht will -, habe ich gesagt, als er gerade erst aus der Versenkung auferstanden war. Wenn aber die drei, vier politischen Talente, um nicht Kräfte zu sagen, die es dort noch gibt, nicht den Ab-sprung schaffen, bevor der Kladderadatsch sie mitreißt, wird sie gar nicht kommen.

Jedenfalls nicht in jener wenigstens halbwegs überschaubaren Weise, dass sich in einem Pro-zess von Abspaltungen und Vereinigungen mehr oder minder große bestehenden Richtun-gen nach neuen Grenzlinien umsortieren. Sondern, wenn's überhaupt noch möglich werden soll, als ein Neubeginn von der Pike auf. Das hätte auch sein Gutes. Ein Prozess der Neu-aufstellung erfordert viel personale Taktik und ideelle Diplomatie und möchte sich am Ende als mühseliger erweisen als ein Aufbau ab ovo, dessen Protagonisten kein Blatt vor den Mund und auch sonst keine Rücksicht zu nehmen bräuchten. Und die schließlich unver-meidlichen Klärungen geschähen als Bedingung vorneweg und nicht erst gegen Ende; und womöglich immer wieder neu.

Der aufhaltsame Aufstieg der AfD mag eine Lehre sein. Ein paar nicht mehr ganz namen-lose Privatleute ohne parteipolitische Vergangenheit haben sich zusammengefunden unter einer einzigen und nicht einmal sehr sinnreichen Parole: Nein zum Euro. Das reichte nicht aus, sie waren nicht Mitte, sondern irgendwo rechts davon, und aus der ursprünglichen Pro-fessorenpartei wurde ein Sauhaufen ungebildeter Krakeeler, wo sie einander an antiintellek-tuellem Ressentiment überbieten und wo es rechts gar kein Halten gibt.

Ein Glück nur, dass es innen auch kein Halten gibt. Neben profilierten Richtungen werden sie nicht lange beieinander bleiben.

Freitag, 28. Juli 2023

Als das Vernunftzeitalter begann.

                                 zu öffentliche Angelegenheiten,  zu Philosophierungen

Auf 1650 datiert er den Anbruch des Vernunftzeitalters - in Europa. Man kann es sogar genauer sagen, denn es wurde darüber eine Akte angelegt: Das war der in Münster und Osnabrück besiegelte Westfälische Friedenin dem der Grundstein des Völkerrechts gelegt und zum obersten Richter in allen irdischen Angelegenheiten die Vernunft eingesetzt wur-de.

Damit fing sie erst an. Zuerst eine Sache von Diplomaten und Gelehrten, dann der gebil-deten Klassen und ihrer Salons, dann der Literaten, und schließlich am 14. Juli 1789 eine Sache "des Volkes". Das war seither kein gerader breiter Weg, er hat Perepetien und Kata-strophen gehabt, aber überstanden hat sie sie bislang doch alle und ist, das darf man stau-nend feststellen, stärker daraus hervorgegangen. An den paar übellaunigen Gartenzwergen und den ihnen kaum überlegenen politisch korrekten Flaumachern unserer Tage wird sie schon gar nicht zugrunde gehen. Aber ein paar Scharfmacher wird sie schon brauchen, so war es immer.

22. 2. 19


Donnerstag, 27. Juli 2023

Sesshafte Männer, wandernde Frauen.

aus Tagesspiegel.de, 26. 7. 2023                                                                                 zu Männlich zuöffentliche Angelegenheiten

Männer bleiben, Frauen werden flügge
Archäologen entdecken großen Stammbaum aus der Jungsteinzeit
Vor rund 6700 Jahren legten Menschen im heutigen Frankreich eine Art Friedhof an. Nun haben Forscher daraus Stammbäume erstellt, die viel über ihr damaliges Leben verraten.


von Valentin Frimmer, dpa

Aufwendig erstellte Stammbäume von zwei Familien aus der Jungsteinzeit geben Einblicke in die Lebenswelt der damaligen Menschen. So blieben die Söhne vor rund 6700 Jahren weitgehend Teil der Gemeinschaft und pflanzten sich mit zugezogenen Partnerinnen fort, wie ein deutsch-französisches Forscherteam im Fachblatt „Nature“ schreibt. Die Töchter hingegen verließen ihre Familien, um sich anderen frühbäuerlichen Gruppen anzuschließen.


Forscher unter der Leitung des Leipziger Max-Planck-Instituts (MPI) für evolutionäre Anthropologie und der Universität Bordeaux hatten sich menschliche Überreste aus dem Gräberfeld Gurgy „Les Noisats“ rund 140 Kilometer südöstlich von Paris genauer angeschaut. Auf dem Friedhof, den Fachleute auf zwischen 4850 und 4500 vor Christus datieren, liegen Skelettteile von insgesamt 128 Individuen.

Einen Großteil davon untersuchten die Wissenschaftler mit modernen Methoden, unter anderem analysierten sie das Erbgut von 94 Menschen. Damit lassen sich verwandtschaftliche Beziehungen feststellen. Zudem erhoben sie sogenannte Strontium-Isotopendaten. Diese lassen Rückschlüsse darüber zu, ob Individuen vor Ort oder woanders aufgewachsen sind. Außerdem ermittelten sie das Alter, das biologische Geschlecht und die Lage im Gräberfeld der dort bestatteten Personen.

Stammbäume über 64 Menschen und sieben Generationen

Die Forschenden erstellten mit Hilfe der Abstammungsdaten zwei weitgehend voneinander unabhängige Familienstammbäume: einen größeren, der 64 Menschen über sieben Generationen hinweg miteinander verbindet sowie einen kleineren, der die Verwandtschaftsverhältnisse von zwölf Individuen über fünf Generationen aufzeigt.

Bei den Stammbäumen fällt auf, dass die Generationen fast ausschließlich über die Väter verknüpft waren. Das deutet den Forschern zufolge darauf hin, dass der männliche Nachwuchs in der Gemeinschaft blieb und mit Partnerinnen von anderswo Kinder zeugte.

Erwachsene Töchter der Großfamilie sind hingegen zum großen Teil nicht im Gräberfeld bestattet. Sie verließen demnach als junge Frauen die Gemeinschaft, um sich anderswo fortzupflanzen – „sehr wahrscheinlich im gegenseitigen Austausch“, wie es in einer MPI-Mitteilung heißt. „Interessanterweise waren einige der eingeheirateten Frauen entfernt miteinander verwandt, was darauf hindeutet, dass Gurgy mit einigen wenigen benachbarten Gemeinschaften in solchen Austauschbündnissen stand.“

Monogame Lebensweise schon in der Steinzeit

Den Forschern fielen anhand der Erbgutanalysen weitere Details auf, die Einblicke in die damaligen sozialen Strukturen bieten. „Wir sehen eine große Anzahl an Vollgeschwistern, die allesamt das Reproduktionsalter erreicht hatten“, sagt Erstautorin Maïté Rivollat. Hinzu kommen als weitere Geschwister die Töchter, die anderswo bestattet worden waren, sowie als Kleinkinder gestorbene Individuen. Deshalb gehen die Forschenden von „ziemlich großen Familien und einer hohen Fortpflanzungsfähigkeit oder Fruchtbarkeitsrate“ aus, wie Rivollat betont. Das deute auf einen insgesamt sehr guten Ernährungs- und Gesundheitszustand der Gruppe hin, „was bemerkenswert für vorgeschichtliche Zeiten ist“.

Auffällig ist auch, dass es in den Stammbäumen keine Halbgeschwister gibt. Das Team um Rivollat sieht das als einen möglichen Hinweis auf eine monogame Lebensweise. Entweder war es untypisch, dass ein Mensch mit zwei verschiedenen Partnern Kinder bekam. Oder solcher Nachwuchs wurde anderswo begraben.

Bemerkenswert ist den Forschern zufolge auch, dass die Überreste jenes Mannes, der an der Spitze des größeren Stammbaumes steht, ursprünglich woanders begraben waren. Die Gebeine dieses Gründervaters wurden demnach vom vorherigen Siedlungs- oder Bestattungsort der Gruppe mitgebracht und im Grab einer Frau beigesetzt. Einzig bei ihm, so Studienleiter Wolfgang Haak, lag das Skelett nicht im anatomischen Verbund, stattdessen fand das Team lediglich die Langknochen – also von Armen und Beinen. Vermutlich seien sie in einem Bündel beigesetzt worden.

„Er muss als Ahne also von großer Bedeutung für die Gemeinschaft gewesen sein, um von seinen Verwandten nach Gurgy umgebettet zu werden“, erklärt Ko-Autorin Marie-France Deguilloux.


Nota. - Ein sogenanntes Matriarchat hat es nie gegeben. Doch dass das Zusammenleben in der menschlichen Frühzeit lange matrilinear geprägt war, ist kaum zu bezweifeln: Wer von welcher Mutter geboren wurde, ist unstrittig, aber wer von welchem Mann gezeugt wurde, steht in den Sternen. Mindestens die Verwandtschaftsbeziehungen, die ursprünglich die ersten gesellschaftlichen Bindungen waren, werden durch die Abstammung von der Mutter bestimmt gewesen sein. Innerhalb der wandernden Gemeinschaften wird man die wenigen vererbbaren Gebrauchsgegenstände matrilinear überliefert haben.

Man kann sich kaum vorstellen, dass, nämlich warum mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit ein plötzlicher Wandel einhergegangen wäre. Mit dem Übergang zur Landwirtschaft könnte sich das langsam geändert haben. Jahrhundertelang wurde zunächst wildes Getreide gesam-melt - und das Wildbret wie immer gejagt. Mit dem Übergang zum Ackerbau wurde männ-liche Muskelkraft erforderlich, und männliche Wehrbereitschaft. Es liegt nahe, dass der be-arbeitete Boden nach und nach in männlicher Linie vererbt wurde. Und dass die Söhne blieben, während die Töchter weiterzogen. Voraussetzung war die Einehe.
JE

Mittwoch, 26. Juli 2023

Die Wahrheit über Träume.

 H. Bosch
aus Der Standard, Wien,zu Jochen Ebmeiers Realien

Was unsere Träume wirklich verraten
Wissenschaftsautor Stefan Klein über Sigmund Freud, neurobiologische Traum-Neuigkeiten und darüber, wie sie sich nützen lassen

von Klaus Taschwer

Wien - Können Sie sich an die Träume der heutigen Nacht erinnern? Wenn Sie in Farben geträumt haben, dann sind Sie höchstwahrscheinlich jünger als 55 Jahre alt. Wie der US-Forscher Eric Schwitzgebel vor rund zehn Jahren herausfand, stellt sich das aber nicht automatisch mit höherem Alter ein: Nur Menschen der Nachkriegsgeneration, die mit Schwarz-Weiß-Filmen im Kino und im Fernsehen aufgewachsen sind, nehmen ihr nächt-liches Hirnkino viel eher in Grautönen wahr.

Dank der neueren Traumforschung wissen wird aber auch mehr über die Themen, die unser Traumgeschehen beherrschen: 80 Prozent aller Erwachsenen weltweit können sich an ge-träumte Verfolgungsjagden, den freien Fall, Sex oder eine vergebliche Anstrengung (wie etwa die erfolglose Maturavorbereitung) erinnern - allesamt Sujets, die mit starken Gefühlen wie Angst, Lust, Scham und Ärger verbunden sind. Besonders häufige Traummotive in unseren Breiten sind zudem verpasste Treffen oder versäumte Verkehrsmittel.

Das sind nur zwei der zahllosen Erkenntnisse, die Stefan Klein für sein jüngstes Buch zusammengetragen hat, in dem er die Leser auf "eine Reise in unsere innere Wirklichkeit" mitnimmt, so der Unter-titel. Der 50-jährige Klein wäre aber nicht der erfolgreichste deutsche Wissenschaftsautor der letzten Jahre, wenn er in Sachen Traumsujets nicht noch spektakulärere Forschungen zu bieten hätte. So ist es japanischen Forschern um Yukiyasu Kamitani unlängst gelungen, allein anhand der Hirnaktivitätsmuster ihrer schlafenden Probanden mit ziemlicher Sicherheit zu sagen, welche Themen in ihren Träumen vorkamen.

Noch ist solches nächtliches Ausspionieren aber recht aufwändig: Die Forscher mussten mit den Studienteilnehmern erst einmal "üben", indem sich diese in einen Kernspintomografen legten, dort schliefen und danach ihre Träume mitteilten. Die Traumerinnerung wurde von den Forschern dann mit den Hirnscans verglichen. Nach einigen Durchgängen konnten die Forscher dann aber allein aus den Scans erstaunliche Details ablesen.

Eine neue Ära der Traumforschung

Für den promovierten Biophysiker Klein ist offensichtlich, dass dank der Fortschritte in den Neurowissenschaften eine neue Ära der Traumforschung angebrochen ist, an deren Experimenten auch Sigmund Freud Gefallen gefunden hätte, wie Klein im Interview mit dem Standard vermutet: "Freud war ein genialer Neurobiologe. Leider hat er diese For-schungen zugunsten seiner Praxis und der Traumdeutung aufgegeben."

Freuds erstes Hauptwerk aus dem Jahr 1899 hält Klein für "gnadenlos verfrüht": Viele der darin aufgestellten Theorien seien aus heutiger Sicht nicht haltbar, obwohl der Schöpfer der Psychoanalyse ein genialer Beobachter gewesen sei: "Freud erkannte ganz richtig, dass Träu-me in erster Linie visuelle Phänomene sind, dass Emotionen eine entscheidende Rolle spie-len und dass sie mit der Verarbeitung von Erinnerung zu tun haben."

Freud habe noch nicht wirklich verstehen können, was das Unbewusste wirklich tut. "Das hat er durch einige Theorien kompensiert, die eher unhaltbar sind", behauptet Klein und nennt als Beispiel die Kernthese Freuds, dass Träume immer mit Wunscherfüllung zu tun hätten: "Das ist eine sehr naive Vorstellung." Für Klein sind Träume viel eher "Spiele mit Möglichkeiten. Und in einigen dieser möglichen Welten werden Wünsche erfüllt. Das heißt aber noch lange nicht, dass jeder Traum eine Wunscherfüllung ist."

Freud hatte als einzigen Zugang zum Unbewussten nur die Erinnerung der Träumenden, die naturgemäß unzuverlässig ist. Das änderte sich erst ein wenig, als 1953 die REM-Phasen entdeckt wurden - jene Abschnitte des Schlafes, in denen es zu schnellen Augenbewegun-gen kommt und in denen, wie man zunächst annahm, die Träume mit verwickelten Szenen und starken Gefühlen stattfinden. In Phasen des sogenannten Spindelschlafs würde hinge-gen nur in Gedankenfetzen geträumt und in Phasen des Tiefschlafs so gut wie gar nicht.

Neueste Experimente des italoamerikanischen Neurobiologen Giulio Tononi, die Klein für "absolut faszinierend" hält, deuten aber in eine andere Richtung: Warum Träume so unter-schiedlich ausfallen, hängt vor allem davon ab, wie lange man schon geschlafen hat. In der Früh werden die Träume besonders intensiv, weil das Gehirn dann schon regeneriert ist und das Bewusstsein bereits heraufdämmert. Klein folgert daraus, dass Träume nicht nur ein "Königsweg zum Unbewussten" sind, sondern indirekt auch verstehen helfen, wie Bewusst-sein entsteht - nämlich als spontane Eigenleistung unseres Gehirns.

Gefährlich kann es werden, wenn sich nachts Bewusstes und Unbewusstes auf ungewöhnli-che Art vermischen, wie Klein eindrücklich vor Augen führt. Ein solcher Fall lag bei Ken-neth Parks vor, der in einer Nacht im Mai des Jahres 1987 in Toronto einige Kilometer mit dem Auto fuhr, die Schwiegermutter umbrachte und sich dann völlig verwirrt und schwer verletzt auf ein Polizeirevier begab. Psychiater untersuchten den Mann, führten Tests mit ihm im Schlaflabor durch und mussten erkennen, dass sich der Verstand von Parks in der Nacht in extremer Form aufspaltete und er tatsächlich die Mordnacht im Tiefschlaf ver-bracht hat. Parks wurde freigesprochen.

Klein widmet sich in seinem umfassend recherchierten und kurzweilig erzählten, aber nie trivialen Buch nicht nur abstrakten Fragen zum Bewusstsein und wahr gewordenen Alb-träumen. Wie in seinen früheren Beststellern über das Glück, die Zeit oder das Geben, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, hat Klein einige Ratschläge parat, wie sich die neuen Erkenntnisse der Traumforschung auch ganz praktisch nutzen lassen.

Ein mögliches Hoffnungsgebiet seien die sogenannten Klarträume, wie Klein schildert, also Träume, in denen wir ganz bewusst das Traumgeschehen steuern. Das war bis jetzt nur re-lativ wenigen Menschen möglich. Doch wie die deutsche Forscherin Ursula Voss im Mai dieses Jahres in "Nature Neuroscience" berichtete, lassen sich Klarträume durch eine elek-trische Anregung des Gehirns mit der Frequenz von 40 Hertz auslösen. Solche luziden Träume lassen sich etwa von Sportlern nützen, um bestimmte Bewegungsabläufe zu trainie-ren, erklärt Klein, der es für absolut denkbar hält, dass auf diese Weise Abfahrtsläufer in Zu-kunft die Bewältigung der Streif gleichsam im Traum perfekt trainieren.

Das kreative Potenzial der Träume

Klein selbst habe durch die Arbeit an seinem Buch vor allem sein eigenes Traumgedächtnis weiter geschärft, wie er im Gespräch erklärt: "Vor eineinhalb Jahren hätte ich gesagt, dass es unmöglich ist, im Traum ein ganzes Musikstück zu hören oder Schmerz zu empfinden. In-zwischen habe ich diese Erfahrungen gemacht." Bestimmte wiederkehrende Motive hätten ihn einiges über die eigenen Macken und Verwundbarkeiten gelehrt.

Die intensive Beschäftigung mit Träumen schärfe auch die Sensitivität dafür, wie schöpferi-sche Prozesse überhaupt funktionieren. Dabei könne man auch von Schriftstellern wie Franz Kafka lernen, der das kreative Potenzial der Träume voll ausgeschöpft hat und auch seine Tages- und Schlafeinteilung ganz auf die Hervorbringung von "Halbschlaffantasien" ausrichtete, wie Klein schildert. Ein anderes vorbildliches Beispiel war der französische Dichter Saint-Pol-Roux. Wenn dieser sich des Nachmittags zum Schlafen niederlegte, häng-te er ein Schild mit dem Hinweis: "Le poète travaille" an die Tür - "Der Dichter arbeitet".


Nota. - Es ist höchste Zeit, mit der ewigen Schweifwedelei um den Scharlatan Freud endlich Schluss zu machen - und in allererster Linie mit der scheinkritischen Sülze, bei allen Fehlern bleibe doch sein unsterbliches Verdienst, für so Vieles "die Tür aufgestoßen" zu haben; denn das Gegenteil ist der Fall: Er hat an tausend Dingen wahnwitzig herumdilettiert und damit auf so vielen Gebieten - durch Monopolisierung hier, durch Diskreditierung dort - alle ernsthafte Forschung unmöglich gemacht, dass es bis heute nicht gelungen ist, überall den Müll zu entsorgen. Sein Lebenswerk, das kann man sagen, war der Größte Wissen-schaftsschwindel Aller Zeiten.

Man mag um die Wissenschaft im Twitterzeitalter manche Sorgen haben; aber so etwas kann es nun nicht mehr geben.
JE,
28. 9. 14

Dienstag, 25. Juli 2023

Einbildungskraft - empirisch.

                                                                       zu Jochen Ebmeiers Realien

... So energisch Hobbes einerseits Nominalist war, so entschieden war er auch Sensualist. Einbildungskraft entstünde durch das mehr oder minder alterierte Erinnern an vergangene Sinneseindrücke, und er zögert nicht, das mit dem griechischen Wort phantasia zu erläutern. Und in der Tat ist es schwer vorstellbar, wie das Gemüt, die Seele, die Intelligenz oder wie immer man es nennen mag, aus sich selber den Eindruck sinnlicher Erlebnisse produzieren könnte, für die es in seiner Lebensgeschichte keinerlei Vor-Bild gab. (Hier geht es um reale Psychologie, nicht um philosophische Abstraktionen.) 

Von unserer Lebenserfahrung her fällt es schwer, sich Einbildungen anders zu erklären als durch Erinnerung.

Die Hirnphysiologie erklärt die Gedächtnisspuren aus Verschaltungen zwischen Nerven-zellen. Diese entstehen allerdings nicht erst mit dem Beginn des individuellen Erlebens. Millionenfach, milliardenfach werden sie durch die gattungsgeschichtlichen Erwerbungen vererbt. Aber auch das sind Erinnerungsspuren, wenn auch keine persönlichen.

Doch das Gehirn wartet nicht darauf, dass ihm von außen Eindrücke beigebracht werden, dafür bringt es schon viel zu viel gattungsgeschichtlich erworbene Erfahrung mit. Es sucht sie vielmehr, es hält Ausschau nach ihnen und hascht danach, und vergreift sich wohl auch dabei. Und es experimentiert 'einbildend' nicht nur in der Außenwelt, sondern auch bei sich zuhaus. Es ist empirisch ganz und gar nicht länger unvorstellbar, dass es dabei Bilder erfin-det, die es nie zuvorgeschen hat (und ein anderer schon gar nicht).

Ernst Pöppel geht noch einen Schritt weiter. Er meint, dass unsere Fähigkeit zum Sehenler-nen sogar darauf beruht, dass das noch ungeborene Gehirn träumt und "sich etwas einbil-det".

Alle anderen Sinne, Gehör, Tastsinn, Geruch und Geschmack bilden sich schon im Mutter-leib und bilden sich dort aus, allein das Sehen nicht. Die Nervenzellen des Sehsystems sind wohl da, aber die Sinneszellen haben noch nichts zu tun: "Ich vertrete die These, dass die vorgeburtliche Phase des Menschen entscheidend ist für die Prägung des visuellen Systems. Das Sehsystem ist das einzige, das vor der Geburt nicht gereizt wird. Damit es aber gleich nach der Geburt funktionieren kann, wird das visuelle System im Gehirn mit Hilfe von Träumen gleichsam eingefahren. Mehr als 50 Prozent der Zeit verbringen Kinder im Mut-terleib in der Traumphase. Es hat dann keinen evolutionären Grund gegeben, die Träume nach der Geburt wieder abzuschaffen."

Thomas Hobbes wäre heute dahingehend zu korrigieren, dass das grundlose, unverursachte freie Erfinden von Bildern, die noch keiner gesehen hat, sogar die Voraussetzung dafür ist, dass wir lernen, wirkliche Bilder überhaupt wahrnehmen zu können.
14. 9. 14




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Montag, 24. Juli 2023

Hören.


 aus spektrum.de, 24. 7. 2023                                                                                        zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien

Was hast du gesagt?
Schwerhörige bemerken meist lange nicht, dass sie andere schlecht verste-hen – und wenn, tragen sie ungerne Hörhilfen. Dabei ist das nicht nur wichtig, um wieder unbeschwert am sozialen Leben teilzuhaben, Hörgeräte verringern auch das Risiko für Demenz.


von Frederik Jötten

Eine mittelgradige Schwerhörigkeit beginnt bei einem Hörverlust von 40 dB. Dies entspricht etwa den Grundgeräuschen in Wohngebieten. Die betroffene Person kann erst Töne mit einer Schallintensität von 40 bis 60 dB hören. Hochgradige Schwerhörigkeit entsteht bei mindestens 60 dB. Dann kann ein Gesprächspartner bei normaler Sprechlautstärke nicht mehr gehört werden

»Sprecht lauter!«

... Ein grundsätzliches Problem: Menschen, die einen Hörverlust erleiden, merken davon lange nichts. »Ein Hörverlust entwickelt sich in der Regel schleichend, so dass die Betroffenen diese Einschränkung nicht bemerken«, sagt die Fachärztin für Phoniatrie und Leiterin der entsprechenden Abteilung an den SLK-Kliniken Heilbronn. »Meistens ist das auch der Grund, warum Betroffene denken, die anderen seien schuld.« Das hat die HNO-Ärztin selbst in der Familie erlebt. Es fiel ihr über Jahre auf, dass ihr Vater immer schlechter hörte, wenn sie mit ihm sprach. Doch er verweigerte einen Hörtest und behauptete stattdessen, dass die anderen Familienmitglieder nuscheln würden. Ein Phänomen, das viele Angehörige von Schwerhörigen kennen – und das in der Anatomie und Physiologie des Hörens begründet ist.

Wie sich Schall in Sprache wandelt

Im Ohr werden Töne schrittweise in elektrische Impulse verwandelt. Das ist die Sprache, die das Gehirn versteht und verarbeiten kann. Zunächst lässt der Schall das Trommelfell schwingen, dann wird diese Bewegung über die Gehörknöchelchen auf die Hörschnecke (Cochlea) übertragen. Es ist gefüllt mit einer Flüssigkeit, der »Endolymphe«, die als Reaktion auf die Schwingung des Trommelfells Wellen schlägt und so feine Härchen bewegt, die sich auf der Oberfläche der so genannten Haarzellen befinden. Dabei liegen je drei Lagen äußere Haarzellen über einer Lage innere Haarzellen. »Die äußeren Haarzellen verstärken leise Geräusche und dämpfen laute«, sagt Annette Limberger. Die inneren Haarzellen dagegen sind die eigentlichen Hörzellen, die die Impulse direkt an das Gehirn weiterleiten. Sie sind in der Hörschnecke so angeordnet, dass die hohen Frequenzen an der Schneckenbasis und die tiefen Frequenzen an der Schneckenspitze wahrgenommen werden.



Wie hören funktioniert | Querschnitt durch das menschliche Ohr mit Cochlea.

»Das ist wie bei Orgelpfeifen, es gibt jeweils Zellen für bestimmte Tonhöhen«, erklärt Mark Praetorius, Professor für Otologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die räumliche Abfolge der Haarzellen bestimmt, wie die Schwerhörigkeit fortschreitet. »Man kann sich das vorstellen wie in einem Hochhaus mit Teppichboden im Treppenhaus«, sagt Annette Limberger. »Unten müssen alle drüber laufen, da nutzt sich der Teppich am schnellsten ab, oben bleibt er länger in gutem Zustand.« Übertragen auf die Hörschnecke bedeutet das: Über die Zellen am Anfang, die für hohe Frequenzen zuständig sind, rauschen alle Schallwellen hinweg. Sie verschleißen daher zuerst. »Schwerhörigkeit beginnt deshalb meistens damit, dass Menschen die leise gesprochenen und hochfrequenten Konsonanten wie S und F nicht mehr wahrnehmen«, sagt sie. Gleichzeitig werden laute Geräusche von Schwerhörigen als sehr unangenehm empfunden. Das hängt ebenfalls mit dem verloren gegangenen Verstärker- und Dämpfeffekt der äußeren Haarzellen zusammen. Für Schwerhörige klingt es also tatsächlich so, als ob alle um sie herum nuscheln würden. Dies kann also ein Warnsignal sein, dass eine Schwerhörigkeit eingetreten ist. ...

Warum so wenige Schwerhörige ein Hörgerät tragen

Doch die Skepsis gegenüber Hörgeräten ist groß. Viele, die an Schwerhörigkeit leiden, nutzen keine Hörhilfe. In einer groß angelegten Studie der Universitätsmedizin Mainz wurde das Hörvermögen von rund 5000 Personen untersucht. Es stellte sich heraus, dass über alle Altersstufen hinweg 35 Prozent der Menschen schwerhörig waren. Dabei hörten rund 41 Prozent der Teilnehmenden auf mindestens einem Ohr schlecht, etwa 29 Prozent auf beiden Ohren. Bei den Probanden zwischen 55 und 59 Jahren fand sich bei rund 17 Prozent eine Schwerhörigkeit, während es bei den 75- bis 79-Jährigen schon 71 Prozent waren. Entscheidend aber: Nur 7 Prozent der Teilnehmenden hatten auch ein Hörgerät. Die Unterversorgung ist also eklatant. Die meisten Menschen, die eine Hörhilfe bräuchten, haben keine. ...

Gut hören ist gut fürs Gehirn

Doch wie kann man nahestehende Personen überzeugen, sich beim Hören unterstützen zu lassen? Mark Praetorius zieht den Vergleich zu anderen Hilfsmitteln, wenn der Körper Hilfe benötigt: »Wenn man eine Beinprothese braucht, dann wartet man damit auch nicht bis ins hohe Alter«, sagt er. »Stattdessen versucht man, sich möglichst früh daran zu gewöhnen, so dass der Umgang damit normal wird.« Das empfehlen die Audiologen auch für das Hörgerät. Ein Argument, das womöglich viele überzeugt: »Ich zeige schwerhörigen Patienten, welches Demenzrisiko sie ohne Hörgerät haben – dann willigen die meisten ein, eines auszuprobieren«, sagt Annette Limberger. »Viele merken dann erst, wie viel ihr Leben schon durch den Hörverlust verloren hatte.« Schwerhörigkeit ist neben Depression der wichtigste bekannte Risikofaktor für das Auftreten von Demenz. Eine groß angelegte Studie aus 2023 hat zudem erstmals gezeigt, dass ein Hörgerät die Gefahr für eine Demenzerkrankung tatsächlich maßgeblich verringern kann. Die Forschenden werteten Daten von mehr als 400 000 Menschen im Alter zwischen 40 bis 69 Jahren aus, die über ihr Hörvermögen Auskunft gaben und anfangs noch keine Demenz hatten. Etwa drei Viertel der Teilnehmenden waren dabei nicht schwerhörig. Ein Viertel klagte über einen Hörverlust, von dem mehr als ein Zehntel ein Hörgerät trug. Im Schnitt wurden die Angaben der Personen rund zwölf Jahre später wieder ermittelt. Dabei kam heraus: Schwerhörige Menschen ohne Hörgerät hatten ein um 42 Prozent erhöhtes Risiko, eine Demenz zu bekommen, als solche, deren Hörvermögen normal ist. Trugen Schwerhörige dagegen ein Hörgerät, glich das Risiko dem von normal hörenden Menschen.


Fichte über Fliegenwollen und den leichten Sinn unserer Kinder.

      Lilienthal                                                        

Johann Gottlieb Fichte ist der berühmteste Unbekannte der Geistesgeschichte. Am ehesten kennt man noch seine Reden an die deutsche Nation - in der Annahme, es handle sich um den Aufruf zur Erhebung gegen die napoleonische Besetzung, und mithin um ein Gründungsdokument des deut-schen Nationalbewusstseins. Tatsächlich ist der Ausgangspunkt der Reden, dass die Deutschen eine Nation noch gar nicht wären und sich im Moment ihrer tiefsten Erniedrigung daranmachen müssten, eine zu werden.

Und zwar durch Bildung; zu einer Nation müssten die Deutschen sich erst bildenIn diesen Reden entwirft Fichte das Programm einer 'nationalen deutschen Bildungsanstalt'. Es ist das Programm, das hundert Jahre später in den Landerziehungsheimen praktisch in Angriff genommen wurde; mit dem Unterschied freilich, dass Fichte nicht an Privatschulen für die Kinder begüterter Eltern ge- dacht hatte, sondern an eine öffentliche Einrichtung für die ganze heranwachsende Nation. 

Das ist ein gesellschaftspolitisches Programm und keine erziehungswissenschaftliche Abhandlung. Aber es beruht unmittelbar auf Fichtes Philosophie, der Wissenschaftslehre - die, wie der Gebilde-te immerhin noch weiß, davon handelt, wie 'das Subjekt sich selbst setzt'. Hinzugefügt sei: Wie in Fichtes ganzem System, so ist auch hier das Praktische der Urheber des Theoretischen.


...da doch jedem, der nur eine Sylbe von mir gelesen,
    bekannt seyn muss, dass auf die Freiheit des Willens
 mein ganzes Denken aufgebaut ist.
J. G. Fichte, Friedrich Nicolai's Leben
 und sonderbare Meinungen SW VIII, S. 70
 
Wenn es in der Erziehung von der zartesten Jugend an der Hauptzweck und das bedachte Ziel sein wird, die innere Kraft des Zöglings nur zu entwickeln, nicht aber ihr die Richtung zu geben; wenn man anfangen wird, den Menschen für seinen eigenen Gebrauch, und als Instrument für seinen eigenen Willen, nicht aber als seelenloses Instrument für andere zu bilden, dann wird die Wissenschaftslehre allgemein verständlich und leicht verständlich sein. Bildung des ganzen Menschen von seiner frühesten Jugend an; dies ist der einzige Weg der Verbreitung der Philosophie. Die Erziehung muß sich erst bescheiden, mehr negativ zu sein als positiv; nur Wechselwirkung mit dem Zögling, nicht Einwirkung auf ihn. 
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ders., Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW. Bd. I, S. 507


Dadurch eben hat die bisherige Zeit gezeigt, dass sie von Bildung zum Menschen weder einen rechten Begriff, noch die Kraft hatte, diesen Begriff darzustellen: dass sie durch ermahnende Predigten die Menschen bessern wollte, und verdrüsslich ward und schalt, wenn diese Predigten nichts fruchteten. Wie konnten sie doch fruchten? Der Wille des Menschen hat schon vor der Ermahnung vorher, und unabhängig von ihr, seine feste Richtung; stimmt diese zusammen mit deiner Ermahnung, so kommt die Ermahnung zu spät, und der Mensch hätte auch ohne dieselbe gethan, wozu du ihn ermahnest; steht sie mit derselben im Widerspruche, so magst du ihn höchstens einige Augenblicke betäuben; wie die Gelegenheit kommt, vergisst er sich selbst und deine Ermahnung, und folgt seinem natürlichen Hange. 

Willst du etwas über ihn vermögen, so musst du mehr thun, als ihn bloss anreden, du musst ihn machen, ihn also machen, dass er gar nicht anders wollen könne, als du willst, dass er wolle. Es ist vergebens zu sagen: fliege, dem der keine Flügel hat, und er wird durch alle deine Ermahnungen nie zwei Schritte über den Boden emporkommen; aber entwickele, wenn du kannst, seine geistigen Schwungfedern, und lasse ihn dieselben üben und kräftig machen, und er wird ohne alle dein Ermahnen gar nicht anders mehr wollen oder können, denn fliegen.
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ders., Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 282



Jenes Vermögen, Bilder, die keinesweges blosse Nachbilder / der Wirklichkeit seyen, son-dern die da fähig sind, Vorbilder derselben zu werden, selbstthätig zu entwerfen, wäre das erste, wovon die Bildung des Geschlechtes durch die neue Erziehung ausgehen müsste. Selbstthätig zu entwerfen, habe ich gesagt, und also, dass der Zögling durch eigene Kraft sie sich erzeuge, keinesweges etwa, dass er nur fähig werde, das durch die Erziehung ihm hin-gegebene Bild leidend aufzufassen, es hinlänglich zu verstehen, und es, also wie es ihm ge-geben ist, zu wiederholen, als ob es nur um das Vorhandenseyn eines solchen Bildes zu thun wäre. Der Grund dieser Forderung der eignen Selbstthätigkeit in diesem Bilden ist folgender: nur unter dieser Bedingung kann das entworfene Bild das thätige Wohlgefallen des Zöglings an sich ziehen.
 
Es ist nemlich ganz etwas anderes, sich etwas nur gefallen zu lassen, und nichts dagegen zu haben, dergleichen leidendes Gefallenlassen allein höchstens aus einem leidenden Hingeben entstehen kann; wiederum aber etwas anderes, von dem Wohlgefallen an etwas also ergrif-fen werden, dass dasselbe schöpferisch werde, und alle unsere Kraft zum Bilden anrege.
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ders., Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 284f.



Nur erst die eigene Tätigkeit anregen. 

Diese eigene Thätigkeit des Zöglings in irgend einem uns bekannten Puncte nur erst an-zuregen, ist das erste Hauptstück der Kunst. Ist dieses gelungen, so kommt es nur noch darauf an, die angeregte von diesem Puncte aus immer im frischen Leben zu erhalten, wel-ches allein durch regelmässiges Fortschreiten möglich ist, und wo jeder Fehlgriff der Erzie-hung auf der Stelle durch Mislingen des Beabsichtigten sich entdeckt. Wir haben also auch das Band gefunden, wodurch der beabsichtigte Erfolg unabtrennlich angeknüpft wird an die angegebene Wirkungsweise, das ewige und ohne alle Ausnahme waltende Grundgesetz der geistigen Natur des Menschen, dass er geistige Thätigkeit unmittelbar anstrebe.
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ders., Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 286




Der leichte Sinn unserer Kinder.
 

...so merken wir für einen solchen zum Ueberflusse an, dass der Mensch von Natur aller-dings bloss sinnlich und selbstsüchtig ist, so lange die unmittelbare Noth und das gegen-wärtige sinnliche Bedürfniss ihn treibt, und dass er durch kein geistiges Bedürfniss oder irgend eine schonende Rücksicht sich abhalten lässt, dieses zu befriedigen; dass er aber, nachdem nur diesem abgeholfen ist, wenig Neigung hat, das schmerzhafte Bild desselben in seiner Phantasie zu bearbeiten und es sich gegenwärtig zu erhalten, sondern dass er es weit mehr liebt, den losgebundenen Gedanken auf die freie Betrachtung dessen, was die Auf-merksamkeit seiner Sinne reizt, zu richten, ja dass er auch einen dichterischen Ausflug in ideale Welten gar nicht verschmäht, indem ihm von Natur ein leichter Sinn beiwohnt für das Zeitliche, damit sein Sinn für das Ewige einigen Spielraum zur Entwickelung erhalte. 
 
Das letzte wird bewiesen durch die Geschichte aller alten Völker und die mancherlei Beob-achtungen und Entdeckungen, die von ihnen auf uns gekommen sind; es wird bewiesen bis auf unsere Tage durch die Beobachtung der noch übrigen wilden Völker, falls nemlich sie von ihrem Klima nur nicht gar zu stiefmütterlich behandelt werden, und durch die unserer eigenen Kinder; es wird sogar bewiesen durch das freimüthige Geständniss unserer Eiferer gegen Ideale, welche sich beklagen, dass es ein weit verdrüsslicheres Geschäft sey, Namen und Jahreszahlen zu lernen, denn aufzufliegen in das, wie es ihnen vorkommt, leere Feld der Ideen, welche sonach selber, wie es scheint, lieber das zweite thäten, wenn sie sichs erlauben dürften, denn das erste. 
 
Dass an die Stelle dieses naturgemässen Leichtsinns der schwere Sinn trete, wo auch dem Gesättigten der künftige Hunger, und die ganzen langen Reihen alles möglichen künftigen Hungers, als das einzige seine Seele füllende, vorschweben, und ihn immerfort stacheln und treiben, wird in unserem Zeitalter durch Kunst bewirkt, beim Knaben durch Züchtigung seines natürlichen Leichtsinnes, beim Manne durch das Bestreben für einen klugen Mann zu gelten, welcher Ruhm nur demjenigen zu Theil wird, der jenen Gesichtspunct keinen Augen-blick aus den Augen lässt; es ist daher dies keinesweges Natur, auf die wir zu rechnen hät-ten, sondern ein der widerstrebenden Natur mit Mühe aufgedrungenes Verderben, das da wegfällt, sowie nur jene Mühe nicht mehr angewendet wird.
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ders., Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 286f. 



Dem Wollen den Vortritt.

Durch die neue Erziehung soll umgekehrt die Bildung zum reinen Wollen das erste werde, damit, wenn späterhin doch die Selbstsucht innerlich erwachen oder von außen angeregt werden sollte, diese zu spät komme und in dem schon von etwas anderem eingenommenen Gemüthe keinen Platz mehr finde.
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Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 291




Erkenntnis ergibt sich nebenher.

Diese unmittelbar die geistige Selbstthätigkeit des Zöglings anregende Erziehung erzeugt Erkenntniss, sagten wir oben; und dies giebt uns Gelegenheit, die neue Erziehung im Ge-gensatze mit der bisherigen noch tiefer zu bezeichnen. Eigentlich nemlich und unmittelbar geht die neue Erziehung nur auf Anregung regelmässig fortschreitender Geistesthätigkeit. Die Erkenntniss ergiebt sich, wie wir oben gesehen haben, nur nebenbei und als nicht aus-senbleibende Folge. Ob es daher nun zwar wohl diese Erkenntniss ist, in welcher allein das Bild für das wirkliche Leben, das die künftige ernstliche Thätigkeit unseres zum Manne ge-wordenen Zöglings anregen soll, erfasst werden kann; die Erkenntniss daher allerdings ein wesentlicher Bestandtheil der zu erlangenden Bildung ist: so kann man dennoch nicht sa-gen, dass die neue Erziehung diese Erkenntniss unmittelbar beabsichtige, sondern die Er-kenntniss fällt derselben nur zu. 
 
Im Gegentheile beabsichtigte die bisherige Erziehung geradezu Erkenntniss und ein gewis-ses Maass eines Erkenntnissstoffes. Ferner ist ein grosser Unterschied zwischen der Art der Erkenntniss, welche der neuen Erziehung nebenbei entsteht, und derjenigen, welche die bis-herige Erziehung beabsichtigte. Jener entsteht die Erkenntniss der die Möglichkeit aller gei-stigen Thätigkeit bedingenden Gesetze dieser Thätigkeit. Z. B. wenn der Zögling in freier Phantasie durch gerade Linien einen Raum zu begrenzen versucht, so ist dies die zuerst an-geregte geistige Thätigkeit desselben. Wenn er in diesen Versuchen findet, dass er mit weni-ger denn drei geraden Linien keinen Raum begrenzen könne, so ist dieses letztere die ne-benbei entstehende Erkenntniss einer zweiten ganz anderen Thätigkeit des das zuerst ange-regte freie Vermögen beschränkenden Erkenntnissvermögens. Dieser Erziehung entsteht sonach gleich bei ihrem Beginnen eine wahrhaft über alle Erfahrung erhabene, übersinn-liche, streng nothwendige und allgemeine Erkenntniss, die alle nachher mögliche Erfahrung schon im voraus unter sich befasst. 
 
Dagegen ging der bisherige Unterricht in der Regel nur auf die stehenden Beschaffenhei-ten der Dinge, wie sie eben, ohne dass man dafür einen Grund angeben könne, seyen, und geglaubt und gemerkt werden müssten; also auf ein bloss leidendes Auffassen durch das lediglich im Dienste der Dinge stehende Vermögen des Gedächtnisses, wodurch es überhaupt gar nicht zur Ahnung des Geistes, als eines selbstständigen und uranfänglichen Principes der Dinge selber, kommen konnte.
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ders., Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 288f.


Das Leiden am Unterricht.

Das Gedächtniss, wenn es allein, und ohne irgend einem anderen geistigen Zwecke dienen zu sollen, in Anspruch genommen wird, ist vielmehr ein Leiden des Gemüths, als eine Thä-tigkeit desselben, und es lässt sich einsehen, dass der Zögling dieses Leiden höchst ungern übernehmen werde. Auch ist die Bekanntschaft mit ganz fremden und nicht das mindeste Interesse für ihn habenden Dingen und mit ihren Eigenschaften ein schlechter Ersatz für jenes ihm zugefügte Leiden; deswegen musste seine Abneigung durch die Vertröstung auf die künftige Nützlichkeit dieser Erkenntnisse, und dass man nur vermittelst ihrer Brot und Ehre finden könne, und sogar durch unmittelbar gegenwärtige Strafe und Belohnung über-wunden werden; – dass somit die Erkenntniss gleich von vornherein als Dienerin des sinn-lichen Wohlseyns aufgestellt wurde, und diese Erziehung, welche in Absicht ihres Inhalts oben als bloss unkräftig für Entwicklung einer sittlichen Denkart aufgestellt wurde, um nur an den Zögling zu gelangen, das moralische Verderben desselben sogar pflanzen und entwik-keln, und ihr Interesse an das Interesse dieses Verderbens anknüpfen musste. 
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ders., Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 189 




Grenzen des Erziehers. 

Er darf kein vernünftiges Wesen wider seinen Willen tugendhaft oder weise oder glücklich machen. Abgerechnet, dass diese Bemühung vergeblich seyn würde, und dass keiner tu-gendhaft oder weise oder glücklich werden kann, ausser durch seine eigene Arbeit und Mühe – abgerechnet also, dass das der Mensch nicht kann, soll er – wenn er es auch könnte oder zu können glaubte – es nicht einmal wollen; denn es ist unrecht, und er versetzt sich dadurch in Widerspruch mit sich selbst.
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ders., Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, SW VI, S. 309 



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