Montag, 5. Juni 2023

Schwingt mein Gehirn wie ein Cello?


aus nzz.ch, 5. 6. 2023                                                                                                                                          zu  Jochen Ebmeiers Realien

Als wäre das Gehirn ein Cello: 
Australische Wissenschafter fordern die Hirnforschung heraus
Forscher stellen die bisher gültige Annahme infrage, dass Grösse und Form des menschlichen Gehirns keine Rolle spielen, seine Funktion nicht beeinflussen. Die Studie schlägt in der Fachwelt hohe Wellen.


von Eveline Geiser

Früher, da versuchte man noch, aus der Vermessung des Schädels auf die Funktion des Gehirns zu schliessen: Phrenologie nennt man diese Idee. Noch heute finden sich ihre Spuren in unserem Sprachgebrauch, etwa wenn von einer «Denkerstirn» die Rede ist.

Dass die Form des Gesichts etwas mit der Denkfähigkeit zu tun hat, ist längst als Legende entlarvt. Dass die Form des Gehirns das Denken beeinflusst, wurde nie eingehend unter-sucht. Die nun im Fachjournal «Nature» präsentierte Studie könnte dies ändern.

Eine Hirnwindung mehr oder weniger fällt nicht ins Gewicht

Das Gehirn im Inneren des Schädels ist aufgefaltet wie eine Walnuss. Seine Oberfläche ist von Furchen und geschwungenen Bergrücken überzogen, man nennt sie zuweilen «Hirn-windungen». Entlang der Furchen haben Neurowissenschafter bisher grobe anatomische Grenzen gezogen.

Drei Windungen im Stirnhirn markieren das Areal, das für die Sprachverarbeitung zuständig ist. Ein Teil des Schläfenhirns hat zwei, manchmal drei charakteristische Windungen und ist für das Hören zuständig. Ob es zwei Windungen oder deren drei sind, hat nach gängigem Wissen keinen Einfluss auf das Hörvermögen.


Solche Annahmen könnte die Ende Mai publizierte Arbeit von Neurowissenschaftern, Psychologen und Physikern an der Monash-Universität in Australien infrage stellen.

Konzentration auf das «Konnektom» im Gehirn

Die neurowissenschaftliche Forschung der vergangenen Jahrzehnte interessierte sich dafür, welche Zellverbände im Gehirn miteinander kommunizieren. In der Folge konnte das Netz-werk der Zellen, auf dem die Signale zwischen den Zellen ausgetauscht werden, immer ge-nauer dargestellt werden. Auch wegen seiner Ästhetik begeisterte das sogenannte «Konnek-tom» des Gehirns nicht nur Fachleute, sondern auch Laien.


Das menschliche Konnektom mit den grossen Nervenfaserbündeln.

Zusätzlich zu diesen neuroanatomischen Untersuchungen wurde im letzten Jahrzehnt auch der Informationsaustausch zwischen den Zellverbänden untersucht. Wir wissen jetzt zum Beispiel, dass die Zellen des Stirnhirns während Erholungszeiten – also wenn Versuchsper-sonen keine Aufgaben lösen müssen – mit dem hinteren Teil des Gehirns kommunizieren. Und: Die Aktivität in diesem sogenannten «Default-Mode»-Netzwerk kann die Funktions-fähigkeit des Gehirns beeinflussen.

Ganz anders dachten die australischen Forscher über das Gehirn. Was wäre, wenn das Ge-hirn während der Arbeit schwänge wie ein Musikinstrument, dessen Saiten angeschlagen werden?

Für ihre Studie griffen die Forscher auf Messungen von insgesamt 255 Gehirnen zurück. Möglich wurde dies, weil viele Wissenschafter heute ihre Messungen in grossen Datenban-ken anderen Forschern zur Analyse zur Verfügung stellen. Zu den Daten gehörte auch die Gehirnaktivität der Versuchspersonen, während sie verschiedene Aufgaben lösten. So ka-men über 10 000 unterschiedliche Datensätze zusammen.

Anhand der Grösse und Form der Gehirne in diesen Datensätzen errechneten die Wissen-schafter ein Modell davon, wie sich Aktivität von Gehirnzellen im Gehirn ausbreiten könn-te. Anschliessend untersuchten sie, wie gut dieses Modell die tatsächlich gemessene Hirnak-tivität der Versuchspersonen vorhersagen konnte.

Die Vorhersagen waren gut. Und nicht nur das: Sie waren offenbar besser als diejenigen Vorhersagen, die ein anderes Modelle traf, das nur die Verbindungen zwischen den Gehirn-zellen, also das Konnektom, berücksichtigte.

Neuronale Verbindungen sind immer noch wichtig

Die Grundannahme, dass die Verbindungen der Hirnzellen untereinander deren Aktivität stark beeinflussen, widerlegt die neue Studie zwar nicht. Denn es sind mit Sicherheit die Gehirnzellen, die als kleinste Einheit die elektrischen und chemischen Signale zwischen den Gehirnzellen weiterleiten.

Doch die Grösse und Form des Gehirns beeinflusst, wo im Gehirn überhaupt Zellverbin-dungen entstehen können. Auch dieser Tatsache trägt das neue Modell der Hirnaktivität Rechnung.

Und die Forscher zeigen, dass die Geometrie des Gehirns die Hirnströme und damit die Aktivität des Gehirns beim Lösen von Aufgaben beeinflusst. Was das für den Denkprozess – also für das Ergebnis der Hirnaktivität – bedeutet, das muss erst noch erforscht werden.

Untersuchen der «Eigenschwingungen» des Gehirns


Bei näherer Betrachtung hat die neue Studie aber noch weitere Implikationen. Das neue Modell der Hirnaktivität enthält nämlich die sogenannten Eigenschwingungen des Ge-hirns. Diese breiten sich über das gesamte Gehirn aus wie Wellen in einem Teich.

Dass diese Schwingungen die Aktivität im Gehirn vorhersagen, führt zu einer neuen Hypo-these: Nicht einzelne Zellverbände, sondern das gesamte Gehirn beeinflusst, welche Hirn-aktivität bei Denkprozessen abläuft.

Diese Vorstellung widerspricht zumindest teilweise der Annahme von Neurowissenschaf-tern, dass sich bestimmte Hirnprozesse in klar definierten Bereichen des Gehirns lokali-sieren lassen.

Für die Hirnforschung könnte die Idee, dass das Gehirn auch wie ein Klangkörper – ein Cello etwa – funktioniert, deshalb eine Wende bedeuten. Ob sie unter Fachleuten auch langfristig auf Resonanz trifft, bleibt jedoch abzuwarten.


Nota. - Vor allem andern: Die neue Theorie würde schlagartig Schluss machen mit allen Versuchen, unser Gehirn als einen Computer aufzufassen - oder den Computer als eine Art Gehirn. Das allein wäre eine kleine Revolution. Diese Auffassung hat, seit sie aufkam, viele Fragestellungen und Sichtweisen möglich gemacht, die es vorher nicht gab. Inzwischen ist sie aber so geläufig geworden, dass sie den Horizont eher einschränkt.

Zweitens: Die allgemeine Lobpreisung unseres Gehirns für sein anscheinend grenzenlose Plastizität stand schon immer auf einem gespannten Fuß mit der Vorstellung von vordefi-nierten Gehirnregionen. Die hat sich inzwischen etwas aufgelöst durch die Idee der Assem-blies und überregionalen Verschaltungen. Nach der australischen Theorie käme anstelle eines nur topischen ein topisch-hierarchisches Modell in Frage.

Und insbesondere würde die Annahme einer Gesamtschwingung des ganzen Gehirns die bislang so ergebnislose Suche nach "dem Ich" auf eine neue Bahn lenken. Das wäre eine zweite Revolution, und nichtmal eine kleine.
JE

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