Montag, 19. Juni 2023

Das Vernünftigste an der Vernunft ist, dass sie ihre Grenzen kennt.

 
aus nzz.ch, 19. 6. 2023                      Mit sechzehn schrieb Blaise Pascal über Kegelschnitte, mit neunzehn konstruierte er eine Rechen-maschine. Dann studierte er Theologie und wollte Glaube und Wissenschaft miteinander versöhnen.                            zu Philosophierungen

Die Vernunft der Vernunft liegt darin, dass sie ihre Grenzen kennt: 
Vor 400 Jahren wurde Blaise Pascal geboren. 
Der französische Philosoph ist ein Denker für das 21. Jahrhundert

von Thomas Ribi

... Ganz gesund wurde Blaise Pascal nie. Er war sein Leben lang kränklich. Bauchschmerzen, Migräne, Lähmungserscheinungen in den Beinen. Die Ärzte konnten nicht helfen. Moderne Biografen fragen sich, ob es ein psychisches Leiden war, das ihn schon als jungen Mann auf Tätigkeiten festlegte, die man vom Arbeitszimmer aus erledigen konnte. Am Schreibtisch vollbrachte er freilich Ungeheures. Schon als Kind. Die Hauslehrer, die der Vater für den hochbegabten Jungen und seine ebenso begabte Schwester Jacqueline engagierte, konnten ihm bald nichts mehr beibringen.

Was ihn interessierte, lernte Pascal von sich aus. Im Primarschulalter leitete er selbständig die ersten zweiunddreissig Lehrsätze von Euklid her, mit sechzehn schrieb er eine Abhandlung über Kegelschnitte, die von den akademischen Gelehrten mit Interesse aufgenommen wurde. Mit neunzehn erfand er eine Rechenmaschine, die sechs- und siebenstellige Zahlen addieren und subtrahieren konnte. Ein Wunderwerk aus Zahnrädern, Wählscheiben und Nummern. Pascal hatte sie für seinen Vater konstruiert, der Steuerbeamter war.


«Pascaline» aus dem Jahr 1652: Die von Blaise Pascal entwickelte Rechenmaschine konnte zunächst nur addieren, schliesslich auch subtrahieren. Der Erfolg, den Pascal sich erhoffte, blieb allerdings aus. Es wurden nur rund fünfzig Exemplare gebaut.


Vor vierhundert Jahren, am 19. Juni 1623, wurde Blaise Pascal in Clermont-Ferrand geboren. Er war ein Wunderkind. Ein Genie. Und ein Kind des 17. Jahrhunderts, in dem sich die Entdeckungen der Naturwissenschaften überstürzten. Galilei hatte bewiesen, dass die Planeten um die Sonne kreisen, das Fernrohr wurde erfunden, die Schallgeschwindigkeit bestimmt, Newton arbeitete an der Gravitationstheorie. Das hatte Folgen für das Weltbild der Menschen. Mit den Mitteln der Vernunft, so schien es damals, liessen sich auch die letzten Geheimnisse der Welt lösen, wenn man nur richtig vorging.

Pascal löste ein paar der grossen Probleme, mit denen sich die Gelehrten seit Jahrhunderten herumschlugen. Im Alter, in dem sich seine Freunde mit Reiten und Jagen die Zeit vertrieben, arbeitete er wie besessen. Als Privatgelehrter. Geld verdienen musste er nicht, er konnte sich in Ruhe der wissenschaftlichen Arbeit widmen. Seine Familie gehörte zum wohlhabenden Amtsadel der Auvergne, Pascal lebte zunächst in Rouen, dann in Paris in grossbürgerlichen Verhältnissen.

1647, knapp vierundzwanzigjährig, räumte er mit einem seit der Antike feststehenden Irrglauben auf: dass es kein Vakuum geben könne, weil die Natur einen Abscheu vor der Leere habe. Er bewies, dass es ein Vakuum gibt, dass dieses aber nicht gleichbedeutend ist mit dem Nichts. Das stellte die Physik auf den Kopf. Und die Naturphilosophie auch. Ausserdem machte sich Pascal damit René Descartes zum Gegner, die damals dominierende Gestalt des Rationalismus.

Blaise Pascal als 25-Jähriger, gezeichnet von einem Freund, dem Juristen Jean Domat.


Descartes war überzeugt, wenn es ein Vakuum gebe, dann nur in den Köpfen von Gelehrten, die so etwas Absurdes behaupteten. Gleichwohl war er beeindruckt von dem jungen Mann, der die Fachwelt mit seinen Publikationen immer wieder in Erstaunen versetzte. Er wollte ihn treffen. Es kam zu mehreren Begegnungen in Paris. Doch sie verliefen für beide Seiten enttäuschend. Wissenschaftlich wurde man sich nicht einig. Und menschlich verstand man sich offenbar auch nicht.

Ein Mann der Vernunft

Nur wenige Jahre später machte Pascal wieder von sich reden. Beobachtungen bei Glücksspielen, mit denen man sich in der besseren Gesellschaft die Zeit vertrieb, hatten ihn dazu gebracht, sich mit den Gewinnchancen beim Würfeln zu beschäftigen. Er suchte nach Gesetzmässigkeiten und entwickelte zusammen mit dem Mathematiker Pierre de Fermat die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auch mit der Frage, wie gekrümmte Kurven mathematisch darstellbar sind, beschäftigte er sich, und leistete damit wichtige Vorarbeiten zur Entwicklung der Infinitesimalrechnung.

Ein Wissenschafter also. Ein Mann der Vernunft. Aber einer, der im Innersten überzeugt war, dass es mit der Vernunft allein nicht sein Bewenden haben könne. Schon als junger Mann beschäftigte sich Pascal neben seinen naturwissenschaftlichen Studien mit Theologie. Sein grosses philosophisches Werk, das er Ende der 1650er Jahre zu schreiben begann, hatte ein Ziel: Wissenschaft und Glaube miteinander zu versöhnen. Er vollendete es nie. Einige Jahre nach seinem Tod wurde es als Fragmentsammlung unter dem Titel «Pensées» herausgegeben.

Die auf Hunderten von Seiten verstreuten Gedankenfetzen sind glühende Funken, die noch heute das Denken entflammen. Wer in den «Pensées» liest, entdeckt im Gelehrten einer vergangenen Zeit einen Denker für das 21. Jahrhundert. Pascal ringt mit Fragen, die uns heute noch umtreiben: die Einsamkeit des Menschen, der Zwiespalt von Wissen und Glauben, die Unzulänglichkeit eines Lebens, das sich in Zerstreuungen zu verlieren droht.

Ein Gott, den man beweisen kann

Vor allem: Pascal weiss, dass es Fragen gibt, die mit der Vernunft nicht lösbar sind. Und dass es gerade die Fragen sind, die den Menschen existenziell betreffen. Gott zum Beispiel. Ob er existiert oder nicht, sagt Pascal, werden wir nie wissen. Beweisen lasse sich weder das eine noch das andere.


Wenn es Gott gibt, können wir ihn nicht erkennen, auch das steht für ihn fest. Das aber bedeutet: Ob wir an Gott glauben oder nicht, können wir nicht von der Existenz Gottes abhängig machen. Pascal sagt das leichthin, in seiner wunderbar geschmeidigen Sprache, und man könnte leicht darüber hinweglesen, wie unerhört der Gedanke eigentlich ist.

Dass Gott existiert, dass er existieren muss, das stand für die Theologen ausser Frage. Jahrhundertelang hatten sie sich darum bemüht, seine Existenz zu beweisen. Mal mehr, mal weniger überzeugend. Die Behauptung, die Frage lasse sich grundsätzlich nie entscheiden, und das spiele auch gar keine Rolle, klingt vor diesem Hintergrund paradox. Aber sie führt auf den Kern dessen, was Pascal unter Glauben versteht. Er will keinen Gott, den man beweisen kann. An diesen Gott könnte er nicht glauben. Weil man an ihn nicht glauben muss. Er existiert, auch ohne dass jemand an ihn glaubt.


gem. Augustin Quesnel

Pascal war ein zutiefst gläubiger Mensch. Aber Gott war für ihn nicht eine Sache der Erkenntnis, sondern der Offenbarung. Er selbst hatte Gott gefunden. Und er konnte sogar sagen, wann: in der Nacht des 23. November 1654 in seiner Pariser Wohnung in der Rue Beaubourg. Im «Mémorial», einem Stück Pergament, das er im Futter seines Mantels eingenäht hatte, um es immer bei sich zu haben, legte er davon Zeugnis ab. Als Pascal im August 1662 starb, neununddreissig Jahre alt, wurde es zufällig von einem Bediensteten entdeckt.

Die Gründe des Herzens

Ein seltsames Schriftstück. Locker übereinander gesetzte, hastig, wie im Fieber hingeschriebene Zeilen, die rätselhaft bleiben, auch wenn sich nach und nach Zusammenhänge erschliessen. «Feu» steht darüber, als Titel. Dann, wie eine rituelle Anrufung: «Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, nicht der Philosophen und der Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden, Freude, Frieden.» Dann, weiter unten: «Vergessen der Welt und aller Dinge, nur Gottes nicht. [...] Möge ich nicht auf ewig von ihm getrennt sein.

Das «Mémorial»: In der Nacht vom 23. November 1654 hielt Pascal in hastigen Notizen eine Art mystische Gotteserfahrung fest. Das Papier nähte er ins Futter seines Mantels ein, um es immer bei sich zu haben.

Das Dokument einer mystischen Erfahrung, einer Vision? Vielleicht. Auf jeden Fall der Versuch, etwas zu beschreiben, das sich jeder Beschreibung entzieht. Das Protokoll der spirituellen Begegnung mit einem Gott, von dem Pascal eines mit Sicherheit wusste: dass er über das Denken nicht zu finden war, sondern nur über den Glauben. Und dass er nicht erkannt, sondern nur erlebt werden kann.

«Das Herz hat Gründe, von denen die Vernunft nichts weiß», heisst es in den «Pensées» einmal, und das ist nicht so süßlich gemeint, wie es klingen mag. Als Mathematiker hatte Pascal eine klare Vorstellung davon, was es heißt, Gründe zu haben. Dass die Vernunft die Gründe des Herzens nicht kennt, liegt nicht daran, dass es keine guten Gründe wären. Sondern daran, dass die Vernunft sie nicht erkennen kann. Pascal war ein Mann der Vernunft. Gerade deshalb war er sich bewusst, dass die Vernunft der Vernunft auch darin liegt, dass sie ihre Grenzen kennt.

 von É. Pajou

Nota. - Die theoretische oder, wie Kant sagen wird, "reine" Vernunft hat zu tun mit dem, was so und nicht anders ist. Davon, was sein soll, handle dagegen die "praktische" Ver-nunft: von dem, 'was durch Freiheit möglich ist'; von dem, was man wollen oder nicht wollen kann. Das kann man nicht wissen und beweisen, das muss man behaupten - und es drauf ankommen lassen.
JE

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