Freitag, 16. Juni 2023

"Borderline"?


aus spektrum.de 16. Jun 2023                                                                                  zu  Jochen Ebmeiers Realien

Ist Borderline doch keine Persönlichkeitsstörung? 
Experten ziehen überraschendes Fazit 
Ein gestörtes Selbstbild, starke Stimmungsschwankungen, Impulsivität, instabile Beziehungen, vielleicht sogar Selbstverletzung – ja, wer denkt dabei nicht gleich an die Borderline-Persönlichkeitsstörung? 


Der Begriff “Borderline” ist inzwischen – wie so viele andere aus der Welt der klinischen Psychologie – in die Alltagssprache eingesickert:

Man fühlt sich heute “depressiv” (niedergeschlagen?), ist etwas “autistisch” (unempathisch?) oder findet eine Idee “schizophren” (zwiespältig?). Diese Sprache dokumentiert die Normalisierung klinisch-psychologischen Denkens in unserer Gesellschaft.

Wenn es aber nach Roger Mulder von der Universität Otago (Neuseeland) und Peter Tyrer vom Imperial College London geht, ist das bald anders. Ihr Fazit in einer neuen Publikation könnte nämlich kaum deutlicher sein: “Borderline-Persönlichkeitsstörung: Eine zweifelhafte Bezeichnung, die nicht von der Wissenschaft gestützt wird und aufgegeben werden sollte.“Damit knüpfen die Experten an eine kritische Denkweise an, die die Diagnose von Persönlichkeitsstörungen (dazu hier auf MENSCHEN-BILDER: “Es geht nicht ganz ohne soziale Normen”) und insbesondere Borderline für äußerst problematisch hält. Schon in den frühen 1990ern warnte George E. Vaillant von der Dartmouth Medical School davor, Menschen als “Borderliner” abzustempeln. Die Diagnose verrate vielmehr etwas über den emotionalen Zustand des Psychotherapeuten(!) als des Patienten.

Wissenschaftlich-philosophische Argumente

Natürlich bestreitet niemand, dass es Menschen mit den eingangs genannten extremen Gefühlen und Verhaltensweisen gibt. Aber wie hier bei MENSCHEN-BILDER und meinem eigenen Ansatz zu psychischen Störungen üblich, wollen wir streng zwischen einem Phänomen und dessen “Namen” (Bezeichnung, Wort, Klassifikation) unterscheiden.

Und dafür, die Bezeichnung “Borderline” aufzugeben, führen Mulder und Tyrer wichtige Argumente an; zwei erfahrene Experten, die übrigens für die Weltgesundheitsorganisation am Klassifikationssystem für Persönlichkeitsstörungen mitgewirkt haben.

Sie erinnern zunächst daran, dass die Diagnose vor über 60 Jahren aufkam, als Psychoanalytiker nach einer Bezeichnung für Probleme an der Grenze zwischen Neurose und Psychose suchten, die man möglicherweise psychotherapeutisch behandeln könnte. Die drei Hauptmerkmale instabile Stimmung, unbeständige Beziehungen und gestörtes Verhalten könnten, so Mulder und Tyrer, allerdings auch durch chronische Schlafprobleme ausgelöst werden. Außerdem passe das wechselhafte Auftreten der sogenannten Borderliner nicht dazu, dass Persönlichkeitsstörungen über die Zeit stabile Eigenschaften beschreiben.Zudem seien alle Versuche gescheitert, Borderline mithilfe der weitverbreiteten Instrumente zur Messung von Persönlichkeit – wie der sogenannten Big Five – einzuordnen. (Zur Erinnerung: Das Fünf-Faktoren-Modell besteht aus Offenheit, Neurotizismus, Extraversion, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.) “Wenn Borderline eine echte Persönlichkeitsstörung wäre, würde sie nicht außerhalb dieses Systems fallen”, argumentieren die beiden Psychiater.

Damit sei natürlich nicht gesagt, dass Personen, die bisher diese Diagnose bekamen, nicht andere, teils schwere psychische Probleme hätten. Diese würden sich aber meist mit anderen Persönlichkeitsstörungen oder Störungsbildern wie ADHS, bipolare Störung oder anderen Gefühlsstörungen überschneiden.

Die Arbeitsgruppen für das ICD-10 und ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation hätten sich darum auch gegen die Kategorie Borderline ausgesprochen, doch damit nicht gegen “mächtige Lobbygruppen” durchsetzen können. (Gemeint ist hier wohl die Mehrheit der Psychotherapeuten und Psychiater, die an der etablierten Begrifflichkeit festhalten will.)

Praxis: Und für die Patient*innen?

Wenn aus theoretischer Sicht so wenig für die Borderline-Persönlichkeitsstörung spricht, wie verhält es sich dann mit der Praxis? Ist die umstrittene Diagnose vielleicht wenigstens in dem Sinne nützlich, dass sie den Betroffenen eine bessere Therapie ermöglicht?Auch hier kommen Mulder und Tyrer zu einem kritischen Ergebnis: Wenn man nämlich von der heute etablierten klinischen Redeweise über “Borderliner” absehe, blieben im Grunde nur allgemeine Methoden zur Reduktion von Stress und psychischem Leid übrig. Von diesen würden aber im Prinzip alle psychologisch-psychiatrischen Patienten profitieren – von denen im Fall von “Borderline” übrigens rund 80 Prozent weiblich sind.

Wenn es laut den Fachleuten keine spezifische Therapie gegen die fragliche Persönlichkeitsstörung gibt, sieht es dann vielleicht mit psychopharmakologischen Behandlungen besser aus? Das Ergebnis einer neuen Meta-Analyse durch die unabhängige Cochrane-Stiftung fiel jedoch ernüchternd aus.

Dennoch verschreibt man den Betroffenen oft Psychopharmaka, mitunter verschiedene Wirkstoffe durcheinander. Die Situation erinnert damit an die Forschung und Praxis zur Behandlung von Depressionen (Depressionen: Kommen die Fakten endlich ans Licht?).

Stigmatisierung

Falls sich beim Lesen dieses Artikels ein negatives Gefühl ausbreitet, muss ich Sie leider vorwarnen, dass das größte Problem überhaupt erst noch kommt: Was macht nämlich die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung mit den Betroffenen? Und mit denjenigen, die ihnen helfen sollen?

Mulder und Tyrer schreiben dazu, dass die Klassifikation selbst einer der größten Gründe für die Stigmatisierung der Patientinnen und Patienten ist. Und stärker noch: “Klinische Experten sind die größten Übeltäter dabei, ein Stigma zu fördern – und bei dem darauffolgenden Ärger, den das provoziert.” Ein anschauliches Beispiel hierfür sind verdrehte Augen sowie andere Mimik und Gestik oder eine Bemerkung wie “schon wieder eine Borderlinerin” durch Fachpersonal, das den Betroffenen eigentlich helfen soll.

Auch mir haben im Gespräch Betroffene mehrfach bestätigt, dass sie nach einer solchen Diagnose kaum noch ernst genommen wurden. Was passiert wohl, wenn sie daraufhin impulsiv und emotional reagieren? Natürlich ist das aus Sicht vieler Expertinnen und Experten dann nur eine Bestätigung dafür, dass die vorangegangene Diagnose stimmte.

Das wäre aber ein Kreislauf, aus dem man kaum mehr herauskommt – zumal dann, wenn man ernsthafte psychische Probleme hat. Ich selbst kann heute nur noch müde lächeln, wenn ich zum x-ten Mal von einem Psychiater oder einer Psychologin den Satz höre, man müsse etwas gegen die Stigmatisierung psychisch-psychiatrischer Patienten tun. Ja, warum fangen sie dann nicht gleich bei sich selbst damit an?

Das Etikett “Borderline-Persönlichkeitsstörung” kann noch auf ganz andere Art und Weise negative Konsequenzen haben. Mulder und Tyrer führen aus, dass man dann Probleme und Symptome, die auf andere Störungen oder Krankheiten hinweisen könnten, mitunter weniger ernst nimmt. “Das bestätigt die Sichtweise, dass die Diagnose von Borderline in zunehmender Weise zur Ausgrenzung verwendet wird; das führt nur dazu, dass die Betroffenen sich zunehmend entfremdet und ärgerlich fühlen”, so die beiden Psychiater.

Pragmatismus: Wessen Nutzen?

Man darf bei dieser Thematik nicht vergessen, dass die Klassifikation psychischer Störungen pragmatischer Art ist. Die beiden Fachleute, die daran auf höchster Ebene für die Weltgesundheitsorganisation mitgewirkt haben, wiesen bereits auf verschiedene Interessengruppen hin, die darauf Einfluss nehmen.

Aus philosophischer Sicht haben wir es hier eben nicht mit “Essenzen” zu tun, so wie beispielsweise ein Atom genau dann ein Goldatom ist, wenn es 79 Protonen hat. Wissenschaftstheoretiker wie der kürzlich verstorbene Ian Hacking (1936-10. Mai 2023) haben aufgezeigt, wie wissenschaftliche, klinische und andere institutionelle Faktoren mit den Erfahrungen der Patientinnen und Patienten interagieren. Wie in den Lebens- und Sozialwissenschaften üblich, kommt es zu zahlreichen Wechselwirkungen zwischen Beobachter und Beobachteten.

Das macht die Klinik und Forschung nicht willkürlich. Es erinnert uns aber daran, die Fachleute mit in die Gleichung aufzunehmen: Wie wirkt sich deren Denken und Handeln auf das Problem aus?

Dabei stellt sich auch die Frage, wessen Interessen das Gesundheitssystem im psychischen Bereich am ehesten dienen sollte: Dem der Forscherinnen und Forscher, der Psychiater, Psychologinnen, der Pharmafirmen oder der Patientinnen und Patienten?

Dass es in der Praxis vor allem um die Bedürfnisse der Patienten geht, ist gar nicht so offensichtlich. Beispielsweise kam er angesehene Depressionsforscher Corrado Barbui von der Universität Verona zum Ergebnis, dass die klinische Diagnose “Depression” eher formale Anforderungen erfüllt – nämlich mit Blick auf Rechenschaft und Kohärenz der Entscheidungen von Fachleuten.

Das heißt, dass auch Menschen mit einer depressiven Symptomatik – insbesondere negative Gefühle und/oder Antriebslosigkeit – nicht unbedingt mit einem psychologisch-psychiatrischen Etikett geholfen wird.

Ausblick

Mulder und Tyre schließen mit der konstruktiven Botschaft, wie Menschen mit der sogenannten Borderline-Problematik am besten geholfen werden könne: Bei leichten Fällen sei wahrscheinlich eine freiere Gruppentherapie am sinnvollsten; für diejenigen mit schwerer und auch unsozialer Problematik eigne sich eine individualisierte Therapie mit klar gezogenen Grenzen besser; bei Identitäts- und Dissoziationsproblematik könne sich die Therapie eher auf frühere Traumata konzentrieren.

Dieser letzte Punkt ist mir hier bei MENSCHEN-BILDER ganz besonders wichtig: Menschen mit schweren psychischen Problemen haben oft auch schwere traumatische Erlebnisse, Missbrauch und/oder Vernachlässigung durchgemacht. Deren individuelles Schicksal kann hinter einer Diagnose wie “Borderline-Persönlichkeitsstörung” schnell verschwinden.Wenn Menschen mit diesem Hintergrund in der Jugend oder im Erwachsenenalter so ein schwerer Stempel aufgedrückt wird, der sie für Expertinnen und Experten als “schwierige Person” brandmarkt, werden sie möglicherweise zum zweiten Mal ausgegrenzt.

Wenn wir angeblich in so einer inklusiven und diversen Welt leben, warum kriegen dann förmlich alle mit abweichendem Verhalten oder anderen Erlebnissen ein psychologisch-psychiatrisches Etikett verordnet, um sie dann mit Psychotherapie und/oder Medikamenten an die gesellschaftliche Normalität anzupassen?

Natürlich ist es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, wenn jemand beispielsweise Glassplitter oder Rasierklingen schluckt, wie es bei der hier beschriebenen Problematik in Extremfällen vorkommen kann. Aber nicht für alle Probleme gibt es eine einfache Lösung. Das erste medizinethische Prinzip ist und bleibt dennoch: Richte keinen Schaden an!

Das gilt auch für den Prozess der Diagnose. Laut den Fachleuten für Persönlichkeitsstörungen, Roger Mulder und Peter Tyrer, sollte die Kategorie Borderline darum als unwissenschaftlich und potenziell schädlich aufgegeben werden.

P.S. Stigmatisierung

Man sollte natürlich auch an die Seite des Klinikpersonals denken, das durch eine Borderline-Symptomatik hart auf die Probe gestellt werden kann. Die oben kritisierten Gesten und Ausdrucksweisen dienen dann vielleicht primär dazu, mit Stress umzugehen und auch mal Druck abzulassen.

Was wäre das aber wohl für eine Welt, in der man Menschen mit schlimmen Erlebnissen keine neue Identität in Form eines klinisch-psychologischen Etiketts überstülpt – sondern sie primär als das sieht: Als Menschen, die oft einfach das Pech hatten, in einer schädlichen Umgebung gelandet zu sein, in der sie viel Schlimmes erfuhren.

Originalpublikation: Mulder, R. & Tyrer, P. (2023). Borderline personality disorder: a spurious condition unsupported by science that should be abandonedJournal of the Royal Society of Medicine, 116, 148-150.


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