Mittwoch, 1. Februar 2023

Wo bleiben die wissenschaftlichen Durchbrüche?


aus FAZ.NET,11. 1. 2023                                                                                                                    zu Jochen Ebmeiers Realien

WISSENSCHAFTLICHER FORTSCHRITT
Wo bleiben die Innovationen?


EIN KOMMENTAR VON SIBYLLE ANDERL
In den sozialen Medien waren die Gründe aus den Reihen der Wissenschaftler schnell benannt: Überbordende Bürokratie, hoher Produktionsdruck, risikoaverse Finanzierungs-vergabe und ein von Existenzängsten geprägter Forschungsbetrieb – all das soll dafür ver-antwortlich sein, dass der Anteil disrup-tiver wissenschaftlicher Ergebnisse zwischen 1945 und 2010 massiv abgenommen hat. Letzteres ist der Befund einer jüngstin „Nature“ veröffentlichten Analyseamerikanischer Wissenschaftler, die 45 Millionen Publikationen und 3,9 Millionen Patente auf deren Innovationskraft hin geprüft haben. Dafür nutzten sie eine quantitative Metrik, der gemäß diejenigen Studien als besonders innovativ gelten, die von späteren Arbeiten häufiger zitiert werden als ihre Vorgängerstudien. Die zugrunde liegende Annahme also: Disruptive Wissenschaft setzt neue, das Feld nachhaltig prägende Standards, statt nur inkrementell vorherige Forschungsleistungen fortzusetzen.

Unter Verwendung dieses Index war in allen betrachteten Publikationsfeldern – Lebenswis-senschaften, physikalische Disziplinen, Sozialwissenschaften und Technologie – ein deutli-cher anteiliger Rückgang von Innovationen zu beobachten, wobei bemerkenswerterweise die absolute Zahl innovativer Studien nahezu konstant blieb. Auch die sprachliche Diver-sität der Veröffentlichungen nahm mit der Zeit ab, genauso die Verwendung innovations-naher Verben – für die Autoren zwei alternative Hinweise auf schwindende Innovations-kraft.

Über Gründe wird in der Arbeit natürlich ebenfalls spekuliert. Fachspezifisch können sie angesichts der Homogenität der Ergebnisse nicht sein, so die Autoren. Auch ein verbrei-teter Qualitätsrückgang könne nicht zugrunde liegen, denn das Resultat sei auch dann zu sehen, wenn nur die angesehensten Journale berücksichtigt werden. Änderungen in der Praxis des wissenschaftlichen Publizierens und Zitierens versuchen die Wissenschaftler durch Modifikationen ihrer Analyse auszuschließen.

Die von der Studie stattdessen favorisierte Erklärung: Das exponentielle Wachstum wissenschaftlichen Wissens führt dazu, dass Forscher oft nur einen sehr eng begrenzten Teil dieses Wissens für die eigene Arbeit berücksichtigen – und ihr Potential für Neuerungen damit selbst beschneiden. „Sich auf kleine Scheibchen des existierenden Wissens zu verlassen, nutzt individuellen Karrieren, aber nicht dem wissenschaftlichen Fortschritt im Allgemeinen“, heißt es in der Studie.

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Nun kann man fragen, inwiefern solch ein Befund die Aussagekraft der in der Studie genutzten Metrik selbst infrage stellt. Denn wenn die Zitierungen einer Studie gar nicht unbedingt von deren Qualität abhängen, sondern vielmehr davon, ob diese Studie sich zufällig im kleinen, von sozialen Faktoren geformten Sektor des dem Forscher bekannten Wissens befindet, kann eine Zitationsmetrik Innovation nicht gut messen. Vergleichsweise eindeutig ist dagegen aber die Interpretation der Reaktionen auf die Studie: Zumindest die Unzufriedenheit im Forschungssektor mit der eigenen Arbeit scheint stark gewachsen.

Sibylle Anderl, Redakteurin im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

Nota. - Vielleicht ist es ja einfach nur so: Welche Forschung ein wissenschaftlicher Durch-bruch war, kann man naturgemäß erst nachträglich beurteilen - ?! Dass die Henne gackert, wenn sie ein Ei gelegt hat, war schon immer so.
Ich habe mich immer geärgert, dass ich aus den Medien täglich nur erfahre, welche bedeu-tende Person gerade gestorben ist. Welche bedeutende Person geboren wurde, meldet keiner.
Notabene: Dass etwas innovativ wäre, ist ein Qualitäts urteil; woran wollten sie es messen können?
JE

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