Freitag, 24. Februar 2023

Die realistische Erkenntnistheorie des Empedokles.

aus FAZ.NET, 22. 2. 2023                                                                                                   zu  Philosophierungen

Hier fühlt er wie ein Gott in seinen Elementen sich
Wiederholt sich die Sensation von 1999? In Lüttich wird ein Papyrusfragment präsentiert, das ein weiteres Teilstück der „Physika“ des Empedokles sein könnte.

VON HANS BERNSDORFF

Stellen wir uns vor, alle Exemplare von Schillers „Wilhelm Tell“ wären in den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts vernichtet worden und wir kennten das Werk nur noch, weil der Büchmann daraus geflügelte Worte wie „Der kluge Mann baut vor“ oder „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ bringt, weil Theaterführer den Inhalt des Stücks zusammenfas-sen oder Grammatiken einzelne Verse als Beispielsätze zitieren. Weite Teile der antiken Lite-ratur sind auf diesem indirekten Weg höchst lückenhaft überliefert, darunter die Hauptwer-ke der griechischen Philosophie vor Platon. Wir kennen sie nur, weil spätere Autoren aus ihnen zitieren oder ihre Lehrmeinungen referieren. Diese Armseligkeit der Überlieferung steht in betrüblichem Gegensatz zu der Bedeutung, die frühgriechische Denker durch ihr „anfängliches Fragen“ (Uvo Hölscher) für die gesamte europäische Philosophiegeschichte bis hin zu so gegensätzlichen Köpfen wie Martin Heidegger und Karl Popper besitzen.

Es war deshalb im Jahr 1999 ein spektakuläres Ereignis, dass Alain Martin und Oliver Primavesi Papyrusbruchstücke aus einer vollständigen Ausgabe des Lehrgedichts „Physika“ des sagenumwobenen Dichterphilosophen Empedokles (etwa 484/483 bis 424/423 vor Christus) erstmals herausgaben. Dieser am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts kopierte Straßburger Empedokles-Papyrus wurde später als Unterlage eines mit Kupfer-blättern beklebten Schmuckkragens benutzt, der wohl einer ägyptischen Mumie angelegt worden war. Der deutsche Archäologe Otto Rubensohn hatte das Stück 1904 bei einem Antiquitätenhändler in Achmim, dem antiken Panopolis, gekauft, der es seinerseits wohl aus einer der nahegelegenen Nekropolen bezogen hatte. Über das „Deutsche Papyruskartell“ gelangte der Papyrus 1905 in die Straßburger Universitätsbibliothek. Gewiss, auch dies sind nur Fragmente, aber doch solche, deren Auswahl nicht vom Interesse eines zitierenden Autors bestimmt ist. In unserem Wilhelm-Tell-Szenario entspräche dies dem Sachverhalt, dass das Bruchstück einer Seite aus einer einstmals vollständigen Ausgabe des Schiller-Dramas gefunden würde.

Wir sind nichts als die Elemente
Im Falle des Empedokles gelang es Martin und Primavesi, den Neufund mit durch Zitate bekannten Versen zu kombinieren und so erstmals längere zusammenhängende Partien des ersten Buchs der Physika wiederzugewinnen, verbunden mit neuen Einsichten in den philosophischen Gehalt und die poetische Formung des Werkes (diese war es, die spätere Autoren, etwa Lukrez, besonders schätzten). So zeigte sich, dass Empedokles von den vier Elementen (Feuer, Luft, Wasser und Erde) in der Wir-Form sprechen kann, um damit deutlich zu machen, dass wir Menschen in Wahrheit nichts anderes seien als die keinem Werden und Vergehen unterworfenen Elemente. Zudem offenbarte sich, dass die Kosmo-logie der Physika in Analogie zum Mythos von den in ein irdisches Strafgericht verbannten Göttern (Dämonen) im anderen großen Werk des Empedokles, den „Reinigungen“, gestal-tet ist. Auch die Erforschung römischer Empedokles-Adaptatoren erhielt durch den Straßburger Fund mächtigen Auftrieb – von Lukrez über Ovids Metamorphosen bis hin zu einem fälschlich Vergil zugeschriebenen Kleinepos, in dem die Herstellung eines Kräuterkäses parodistisch im Stile der empedokleischen Kosmogonie geschildert wird.
Gespannt folgte man darum jetzt, fast ein Vierteljahrhundert nach der Herausgabe des Straßburger Empedokles, einer Einladung nach Lüttich, wo der junge belgische Papyrologe Nathan Carlig, flankiert von Martin und Primavesi, ein unediertes Papyrusbruchstück präsentierte, das nach Auffassung des gelehrten Trios Teile von bislang unbekannten Versen des Empedokles enthält. Carlig hatte den Papyrus, der im Mai oder Juni 1941 von der Société Fouad Ier de papyrologie in Kairo wahrscheinlich aus dem Antiquitätenhandel erworben worden war, im Keller des dortigen Institut français d’archéologie orientale aufgespürt.
Carligs Referat zufolge (im Rahmen einer Beamerpräsentation mit Abbildung und vorläufiger Edition des Papyrus) handelt es sich um ein circa 13 Zentimeter hohes und 11 Zentimeter breites Fragment, in dessen Mitte sich der freie Raum zwischen zwei Textkolumnen befindet. An dessen linker Seite sind die Enden von 13 und an dessen rechter Seite die Anfänge von 17 Zeilen erhalten. Das reicht nicht aus, um nur eine Zeile zu vervollständigen, zumal sich die Reste mit keinem uns sonst bekannten Text überschneiden. Allerdings genügt das Erhaltene, um Hexameter zu erkennen, das Versmaß, in dem Epen und Lehrgedichte, also auch die Physika, abgefasst waren. Ensemble A des großen Straßburger Empedokles-Papyrus (P.Strasb.gr. 1665/6), der seit 1999 bekannt ist: Teil derselben Rolle wie der neu gefundene Papyrus aus Kairo? Ensemble A des großen Straßburger Empedokles-Papyrus (P.Strasb.gr. 1665/6), der seit 1999 bekannt ist: Teil derselben Rolle wie der neu gefundene Papyrus aus Kairo? 
An ausgewählten Beispielen führte Carlig eine weitgehende und starke Ähnlichkeit mit Schrift und Layout des Straßburger Papyrus vor. Dieser Befund bedeutet zunächst lediglich, dass die beiden Papyri vom selben Schreiber oder zumindest aus einem engen lokalen und zeitlichen Kontext stammen, sagt aber noch nichts über den Charakter des enthaltenen Textes aus. Freilich lassen sich, wie Primavesi in seinem anschließenden Vortrag darlegte, in dem neuen Fragment sprachliche und inhaltliche Berührungen mit Empedokles finden, besonders mit dessen Theorie der Sinneswahrnehmungen, die etwa Folgendes besagt: Jedes potentielle Wahrnehmungsobjekt sendet „Abflüsse“ der in ihm enthaltenen Elemente aus, welche von dem im Inneren eines jeden Wahrnehmungsorgans vorherrschenden Element angezogen werden. Der eigentliche Wahrnehmungsvorgang findet an den Poren einer Außenmembran des Wahrnehmungsorgans statt. Diese Poren sind materiell von den einströmenden Elementmassen verschieden, ihre geometrische Form sorgt allerdings dafür, dass nur Elementteilchen, die genau in sie passen (also nicht zu groß und nicht zu klein sind), von ihren Innenwänden wahrgenommen werden. So ist ausgeschlossen, dass wir Farben schmecken, Töne sehen und so weiter. In den Versanfängen der rechten Kolumne finden sich nun in engem Kontext Textsplitter, die nach Primavesis Deutung nichts anderes enthalten als eine Erklärung der Verschiedenheit der einzelnen Sinne auf Grund der empedokleischen Porentheorie, zumal sich auch sprachliche Berührungen mit den Referaten dieser Theorie bei Platon und Theophrast zeigen. In der linken Kolumne taucht das griechische Wort für Eisen auf, im nächsten Vers ein Verb, das „abstoßen“ bedeuten kann, was auf eine Erwähnung des Magnetismus deutet. Wir wissen, dass Empedokles auch dieses Phänomen mit der Porentheorie erklärte
Der Neufund weist also allem Anschein nach aus zwei Richtungen auf Empedokles: zum einen durch die auffällige äußerliche Nähe zum Straßburger Papyrus, zum anderen durch die inhaltlichen Berührungen mit einer für Empedokles charakteristischen Wahrnehmungstheorie. Carlig, Martin und Primavesi folgern, dass Straßburger und Kairener Papyrus derselben Rolle oder vielleicht auch verschiedenen Rollen derselben, mehrbändigen Edition der Physika entstammen dürften. Da indes über die Fundumstände des Kairener Fragments im Gegensatz zu denen desjenigen aus Straßburg bisher nichts bekannt ist, liefert dieser Gesichtspunkt vorerst keinen Anhaltspunkt für die Erhärtung einer derartigen Folgerung. Das Team hofft, noch im Laufe dieses Jahres die Textkonstitution abgeschlossen zu haben und im Herbst die kommentierte Erstedition samt Fotos des Papyrus vorlegen zu können. Die Präsentation in Lüttich verspricht eine Wirkung, welche die Empedoklesforschung zwar nicht wie 1999 umwälzen, aber immerhin entschieden beleben wird.

Nota. - Befremdlich scheint es dem heutigen Leser, dass bei den antiken Autoren wohl einige metaphysische Spekulationen über das Sein-an-sich und das eigentliche Wesen der Dinge zu finden sind, aber keine Gedanken über Herkunft und Wesen unseres Wissen - außer eben der ausgesprochen mythischen Lehre des Plato, der doch das Ende des Mythi-schen Zeitalters besiegelt haben soll, vom ursprünglichen Beisammensein der Seelen und der Ideen auf dem Olymp und deren "Teilhabe" durch Erinnerung. Da wäre diese Erkennt-nislehre des Empedokles, der ein Jahrhundert vor Plato gelebt hat, eine echte Überra-schung. Realistisch ist sie, aber nicht im 'begriffsrealistischen' platonischen Sinn, sondern in einem sensualistisch-materialistischen: Nicht nur erklärt sie, wie und warum 'Informationen' vom Objekt ausgehen, sondern auch, was das größere Problem ist, wie sie ins Subjekt hin-einkommen: nämlich durch ihre stoffliche Ähnlichkeit. Nach dem naturalistischen Rationa-lismus des Empedokles nimmt sich der angebliche Aufklärer Plato wie ein spiritualistischer Obskurant aus, der an Märchen glaubt.
(Und der zeichnet das dem Aristoteles zugeschriebene Verhältnis von intellectus agens und intellectus possibilis vor.)
JE

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