Dienstag, 28. Februar 2023

Die weibliche Wirtschaftsmacht des Mittelalters.


aus spektrum.de, 15. 2. 23                                                                                         zu öffentliche Angelegenheiten

Die Wirtschaftsmacht der Wikingerinnen
Während der Wikingerzeit und des Mittelalters beruhte der Handel im Nordatlantik zu einem Gutteil auf Textilien. Deren Produktion lag in den Händen von einfachen Frauen, die mit den Stoffen über Jahrhunderte einträgliche Geschäfte machten - und mit ihrer Webkunst auf einen Klimawandel reagierten.

von Francine Russo

Fachleute untersuchten Textilreste aus Island und Grönland, um die Lebenswelt der Frauen in einem Zeitraum von mehr als 900 Jahren zu rekonstruieren.

In Island diente ein spezieller Wollstoff über Jahrhunderte hinweg als Zahlungsmittel. Mit der Her­stellung des Gewebes verdienten die Frauen Geld.

Die Weberinnen passten ihre Textilien den klima­tischen Bedingungen an. Mit Beginn der »Kleinen Eiszeit« im 14. Jahrhundert veränderten sie die Webtechnik, um wärmere Stoffe zu fertigen.

Krieger, Künstler, Könige – seit Gelehrte die Menschheitsgeschichte erforschen, haben sie sich hauptsächlich mit den Taten von Männern befasst. Wie Frauen einst lebten, arbeiteten oder was sie gar dachten, untersuchte lange Zeit kaum jemand. Das einseitige Interesse hat einen überraschend sachlichen Grund: Die meisten Fundstücke, die die Zeiten überdauerten, bestehen aus anorganischen Materialien – Stein, Metall, Keramik. Und die Objekte aus diesen Stoffen erfüllten ihren Nutzen oft in der Lebenswelt der Männer. Es waren Spitzen von Jagdspeeren, Klingen von Schwertern, Teile von Streitwagen. Aber noch aus einem anderen Grund beschäftigten sich Archäologen überwiegend mit männlicher denn weiblicher Geschichte: Die meisten Forscher waren selbst Männer. So oder so – dadurch sind Fachleuten bisher zahlreiche Erkenntnisse über vergangene Kulturen entgangen.

Mittlerweile versuchen Archäologen, diese Wissenslücke zu schließen. Etwa indem sie intensiver als je zuvor Textilien untersuchen. Das Forschungsfeld lag lange brach, da Kleidung und Stoffe als belanglos und wenig ergiebig galten. Zudem bleiben Textilien meist nur unter bestimmten Bedingungen wie extremer Trockenheit oder andauernder Kälte erhalten. Doch wie sich inzwischen zeigt, liefern selbst zerschlissene Gewänder und Stofffetzen ungeahnte Hinweise über die Menschen, die sie einst herstellten und verwendeten…


Nota. - Die Geschichte des Kapitalismus wird hauptsächlich als die Entwicklung der Schwerindustrie aufgefasst. Doch die Entstehung der bürgerliche Wirtschaftsweise war das nicht. Metallne Gegenstände hat nicht jederzeit jeder gebraucht, doch bekleiden mussten sich immer alle. Bevor eine Große, nämlich Schwerindustrie entstehen konnte, gab es jahrtausendelang eine Klein- und Hausindustrie, und wurden ihre Erzeugnisse getauscht - jahrtausendelang gab es transkontinentale Handelswege und Marktplätze. Textilien dürften das Gros der getauschten Ware ausgemacht haben, vom Gewinn der Faser über das Weben, Färben und den Zuschnitt bis zum Nähen. Hausindustrie neben der Landwirtschaft wird zum Großteil von Frauen betrieben worden sein, und da sie nicht die körperlich schwerste Arbeit war, dürfte auch die Weiterverarbeitung hauptsächlich Frauensache gewesen sein.

So weit, so gut. Aber was folgt daraus? Ein Weltmarkt ist nicht draus hervorgegangen.
JE

Polarlicht über Deutschland.

                                                                                          in Brandenburg am 26/27 Februar

Hat das was zu bedeuten?








Montag, 27. Februar 2023

Verheerende Investition in die Zukunft.


aus FAZ.NET, 27. 2. 2023                                                                                  zu Levana, oder Erziehlehre

Mit steigendem Wohlstand werden Jugendliche unglücklicher
Steigt in einem Land der Wohlstand, hat das für Erwachsene einen positiven Effekt. Für Jugendliche ist es genau umgekehrt, wie eine neue Studie herausgefunden hat.

Das Leben in einem reichen Land hat nicht nur positive Seiten. Je reicher ein Land, desto unglücklicher ist seine Jugend. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie der deutschen Ökonomen Robert Rudolf und Dirk Bethmann von der Korea University, die den Zusam-menhang mit Daten von fast einer halben Million 15-Jähriger aus 72 Ländern festgestellt haben. Erschienen ist die Studie kürzlich im „Journal of Happiness Studies“. Die Daten stammen aus Schülerbefragungen, die 2018 im Rahmen der Pisa-Studie erhoben wurden.

Demnach sinkt die Lebenszufriedenheit von Jugendlichen, wenn das Pro-Kopf-Einkom-men zunimmt. Anders als bei Erwachsenen, bei denen auf Länderebene mehr Wohlstand zu einer deutlichen Erhöhung der Lebenszufriedenheit führt, bedeutet der wirtschaftliche Erfolg eines Landes für Jugendliche häufig mehr Stress. Das sei ein Paradox, das wissenschaftlich bislang noch nicht bekannt gewesen sei, sagen die Autoren.

Zwar steige die Bildung – beispielsweise gebe es anteilig mehr Hochschulabschlüsse in einer Bevölkerung –, das Wohlbefinden nehme der Studie zufolge jedoch ab. Die Autoren schreiben, dass „moderne wissensbasierte Ökonomien immer höhere Investitionen in Humankapital in frühen Lebensphasen erfordern“. Die Lernintensität sei höher als in weniger wohlhabenden Ländern, heißt es. In Ländern mit mittlerem Einkommen seien die Bildungsanforderungen „tendenziell gering“, Jugendliche erlebten dort „ein hohes Maß an Wohlbefinden“. Länder mit niedrigem Einkommen tauchen in der Studie nicht auf, da es von ihnen keine Daten gibt.

Deutschland liegt mitten auf der Trendlinie, der Zusammenhang ist hierzulande besonders deutlich. Robert Rudolf sagte gegenüber der F.A.Z., dass Erwachsene in Deutschland eine höhere Lebenszufriedenheit hätten als erwartet. Das gelte jedoch nicht für deutsche Jugendliche. „Interessant sind auch die extrem unglücklichen Jugendlichen in der Türkei und Großbritannien, die sicherlich politische Ausreißer sind im Jahr 2018“, so der Ökonom. Als Begründung nennt Rudolf Erdogans zunehmenden Autoritarismus in der Türkei sowie den Brexit in Großbritannien. ...

Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Wenn die Anschauung schwindet, verblasst der Begriff.

 BurgDie Digitale Revolution wirft einen langen Schatten voraus: Schon hat sie die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit so weit reduziert, dass es im Westen für alle gar nicht mehr genug zu tun gibt. Was für ein Geschenk – als hätte Prometheus den Göttern das Feuer ein zweites Mal gestohlen! Ein zwölftausend Jahre alter Traum der Menschheit geht in Erfüllung: ein Leben lang freie Zeit, ausgefüllt nur mit der Ausbildung meiner eignen Fähigkeiten... wozu? Bloß um sie zu verspielen.

Wie kann die gesellschaftliche Produktion dauerhaft darauf beruhen, dass eine schwindende Handvoll Arbeiter länger arbeitet, als zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft nötig wäre, wenn die notwendige Arbeitszeit gegen Null tendiert? Wenn der Arbeiter an einem Arbeitstag das Tausendfache von dem produziert, was er im Monat verbraucht? Wenn das Tagespensum des Arbeiters schließlich nur noch in einem Kopfnicken oder Fingerschnippen besteht?


Die absolute Grenze der digitalen Automation wäre erreicht, wenn die Maschinerie nicht mehr mit Kopfdruck, sondern durch einen Denkanstoß, durch bloße Gedankenübertragung in Gang gesetzt werden kann. Das bliebe technologisch unmöglich? Aber viel wird nicht fehlen, und so bleibt das Problem: Bei solch astronomischen Missverhältnissen verliert es allen Sinn, von Mehrarbeit zu sprechen. Die 'Formbstimmung' bleibt unberührt, aber sie bedeutet nichts mehr.

Die Formbestimmung ist nichts anderes als die BegriffeIn den Begriffen ist erfasst, ge fasst das wirkliche Handeln wirklicher Menschen; 'gefasst': das heißt, so dargestellt, als ob es stillestünde, als ob es eingefroren wäre. Wenn sich das, was die Menschen wirklich tun, ändert, dann ändert sich doch nicht der Begriff; er fasst nur nichts mehr. Er wird leer, weil er nun ohne Anschauung ist.




Zur Erinnerung:
Anschauung ohne Begriff sei blind, sagte ein kluger Mann; doch Begriff ohne Anschauung sei leer. Wirkliches Wissen gewinnt der Mensch nur durch Erfahrung. Die aber geschieht durch die Formung des sinnlichen Erlebens durch den Begriff. Das Erleben früherer Generationen gehört nicht in die Begriffe, sondern in den Roman.



Sonntag, 26. Februar 2023

Künstliche Intelligenz und die Befreiung der Arbeit.

 bing
aus derStandard.at, 24. 2. 2023                                              zuJochen Ebmeiers Realien,zu öffentliche Angelegenheiten

KI wird Menschen nicht ersetzen, aber sie kreativer arbeiten lassen
Künstliche Intelligenz verändert das Berufsfeld im Development zum Positiven, wertet Jobs auf. Auch hier rückt der Fokus der Menschen dorthin, wo Algorithmen nichts können.


Gastkommentar von Sead Ahmetovic

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz verfolgt ein einfaches Ziel: Sie soll den Menschen Arbeit abnehmen, damit diese ihre Intelligenz für das verwenden können, wofür sie wirklich gebraucht wird. Anders gesagt: Es geht vor allem darum, mühsame oder langwierige Arbeiten zu automatisieren und das Potenzial von Mitarbeitern voll auszunutzen und weiter zu fördern, statt sie mit Aufgaben zu beschäftigen, die in erster Linie Zeit und Durchhaltevermögen kosten.

So wird es sich in Zukunft auch mit künstlicher Intelligenz (KI) in der Programmierung verhalten. Der wichtigste Teil bei der Entwicklung einer Software ist Kreativarbeit: logische Strukturen verstehen, Zusammenhänge erkennen und Lösungen für ein Problem finden, die sich mit teilweise sehr einfachen Befehlen beschreiben lassen. Das alles gilt es dann in einer Programmiersprache zu verschriftlichen – und so entsteht am Ende der Code.

Arbeit auslagern

KI setzt an diesem Punkt an und hilft den Entwicklern, ihre Ideen in Codes umzusetzen. Helfen können dort zum Beispiel KIs, wie sie beim Schreiben von Texten und E-Mails schon lange Einzug gehalten haben: Sie überprüfen den Code unter anderem auf Schreib- oder Grammatikfehler und stellen so sicher, dass der Computer am Ende auch verstehen kann, was der Entwickler von ihm erwartet.



Auch ist es möglich, dass Algorithmen den Code für Entwickler vervollständigen oder Möglichkeiten vorschlagen, wie sie einen "Code-Satz" zu Ende führen können oder "Standardfloskeln" automatisch hinzufügen. Das wird Softwareentwicklern eine Menge Raum geben, tatsächlich an der Lösung von Problemen zu arbeiten, statt viel Zeit für Korrekturlesen aufzuwenden. Und nicht nur die Entwickler haben mehr Spaß an der Arbeit, auch die Entwicklung an sich geht deutlich schneller voran.

Auch in der Qualitätssicherung kann ein Algorithmus viel mühsame Arbeit übernehmen. Er kann eine Software zum Beispiel auf Compliance mit anderen Programmen oder Hardware testen oder sie auf Sicherheitslücken überprüfen. Und das viel schneller und auch zuverlässiger als Menschen, denn: Eine KI ermüdet nicht, lässt sich nicht ablenken und macht keine Flüchtigkeitsfehler.

Software wird immer sicherer

In einer Welt, in der etwas entweder funktioniert (1) oder nicht (0), ein klarer Vorteil. Für Software bedeutet das, dass sie sicherer wird. Zum einen sicherer vor Programmierfehlern, aber auch vor Angriffen von außerhalb. KIs könnten in Zukunft sogar automatisch Updates für gefundene Sicherheitslücken programmieren und bereitstellen.

Künstliche Intelligenz wird einiges übernehmen, das heute noch zur alltäglichen Arbeit von Softwareentwicklern gehört. Doch dass es deswegen weniger Entwickler geben wird, ist eine falsche Annahme. Stattdessen werden sich die Aufgabenbereiche von Entwicklern verschieben.

Der Fokus wird sich mehr als noch heutzutage auf die bereits angesprochene Kreativarbeit richten. Weil ihnen die KI viel mühsame Arbeit abnimmt, können sie sich deutlich mehr mit der Entwicklung von Programmen statt nur mit ihrer Verschriftlichung beschäftigen. Ganz ersetzen wird künstliche Intelligenz die Entwickler aber nie: Allein schon aus dem Grund, dass es für jede KI, die ein Programm entwickelt, Entwickler braucht, die die KI entwickeln.

Auch neue Rollen in der Softwareentwicklung werden entstehen: Der Softwaretester könnte beispielsweise zum KI-Manager werden. Ein wenig vergleichen kann man das mit der Landwirtschaft: Nur weil der Boden nicht mehr von Hand gepflügt und die Kühe nicht mehr von Hand gemolken werden, werden weder der Bauernhof noch der Landwirt noch die Hersteller von Pflügen und Milchbehältern obsolet.

Automatisierte Lösungen verwaltenVVSo werden sich auch Entwickler nicht mehr mit einzelnen Zeilen Code beschäftigen, nicht mehr händisch nach Sicherheitslücken suchen oder den gesamten Code auf Herz und Nieren prüfen, weil eine einzige Sache nicht funktioniert. Stattdessen werden sie sich darauf konzentrieren, die automatisierten Lösungen zu verwalten, zu verbessern und neue zu erfinden.

Während künstliche Intelligenz in anderen Wirtschaftszweigen bereits gang und gäbe ist, Tesla bereits "intelligente Fabriken" entwirft, Chatbots den Kundenkontakt übernehmen und Alexa sich um alles von Einkaufsliste über Rezept bis zur romantischen Playlist kümmert, steckt sie im Bereich der Softwareentwicklung noch in den Kinderschuhen.

Erst im Vorjahr stellte Thomas Dohmke, CEO der Microsoft-Tochter Git Hub, auf dem We Are Developers World Congress die generelle Verfügbarkeit des Git Hub Copilot vor: eines Programms, das Entwickler bei der Programmierung unterstützt. Und die Sterne stehen gut: Seit diesem Jahr gibt es das Programm nicht nur als Experiment und coole Idee, sondern tatsächlich als nutz- und brauchbare Bezahlversion.

Alles in allem lässt sich also sagen: Die Softwareentwicklung ist auf demselben Weg wie viele andere Wirtschaftszweige und wird in Zukunft immer mehr auf die Unterstützung durch künstliche Intelligenz setzen. Damit einhergehend wird sich auch der Fokus der Entwickler verschieben und die Konzentration stärker auf das gerichtet, was Algorithmen nicht übernehmen können. Grundsätzlich wird auch der generelle IT-Fachkräftemangel noch weiter bestehen bleiben und die Gehälter weiter steigen. Vom Aussterben bleiben Entwickler also verschont – sie werden nur weniger schreiben, lesen, überprüfen und viel eher das tun, was ihre Berufsbezeichnung eigentlich verspricht: entwickeln.


Sead Ahmetovic ist Gründer und CEO von We Are Developers, Europas größter IT-Jobplattform.


Nota. - Was immer sich analytisch zerlegen lässt, lässt sich bezeichnen und digitalisieren - und in Algorithmen fassen. Umgekehrt kann der Algorithmus nur addieren und zu Rechen-formeln zusammenfassen. Er kann Bekanntes kombinieren, aber verallgemeinern und syn-thetisieren kann er nicht. Neues fällt ihm nicht ein. Dazu bräuchte er Einbildungskraft, doch woher sollte die ihm kommen? Der digitale Modus ist seine Grenze nach oben wie nach unten. Gefühle, Geschmack und Qualitäten kommen da nicht vor. Begriffe nimmt er als gegeben hin, aber vorstellen ist ihm unvorstellbar.

Damit ist die Rede von künstlicher Intelligenz eigentlich erledigt.








Samstag, 25. Februar 2023

Männlichkeit ist schlechterdings gefährdet.

aus spektrum.de, 20. 2. 2023                                                                                          zu Männlich

GEWALTBEREITSCHAFT JUNGER MÄNNER  
Männlichkeit in Gefahr
Männer sind im Schnitt gewaltbereiter als Frauen. Einer psychologischen Theorie zufolge hängt das damit zusammen, dass Männlichkeit fragil ist: Sie kann einem schnell abgesprochen werden, wenn man schwach wirkt. Um den Status als »echter Kerl« zu bewahren, schlagen manche Männer deshalb im Zweifel lieber zu.

von Anton Benz

Brennende Barrikaden, Feuerwehrfahrzeuge, die mit Bierkisten und Feuerlöschern beworfen werden, Raketen, die auf Einsatzkräfte zielen: Die Szenen aus der Silvesternacht 2022/23 müssen mancherorts an Straßenschlachten erinnert haben. Mehr als 280 Angriffe auf Polizisten und Feuerwehrleute zählten die Behörden bis Mitte Januar, zahlreiche Personen wurden festgenommen.

Auf die Krawalle folgten bald schon populistische Poltereien: Zügig meldeten sich rechte Politiker mit rassistischen Zuschreibungen zu Wort, es ging um Vornamen und Vorfahren. »Mich wundert das nicht. Das ist ein ganz altes Diskursmuster, das in solchen Fällen immer wieder hervorgekramt wird«, sagt Susanne Spindler, Professorin für Soziale Arbeit und Migration an der Hochschule Düsseldorf. Weniger Gehör fanden jene Stimmen, denen es um die tatsächlichen Gründe für die Angriffe auf Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr ging. »Was wir wirklich diskutieren müssen, ist die Frage von Gewalt im öffentlichen Raum und gerade auch Jugendgewalt«, findet Spindler. »Bei den Ereignissen sehen wir eine Gemeinsamkeit, und das ist die Männlichkeit der Beteiligten oder zumindest das, was wir als Männlichkeit zuschreiben.«

Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass Männer nicht nur an Silvester gewaltbereiter sind als Frauen. Im Jahr 2021 waren die Tatverdächtigen bei rund 75 Prozent aller dort erfassten Straftaten männlich, bei Gewaltdelikten waren es sogar 83 Prozent. Wie kommt das?

Männlichkeit ist schwer zu verdienen und leicht zu verlieren

Ein Erklärungsansatz für die hohe Gewaltbereitschaft vor allem junger Männer stammt aus der psychologischen Geschlechterforschung: Der Idee einer prekären oder fragilen Männlichkeit zufolge reagieren diese häufig mit Aggression, wenn sie ihren Status eines »richtigen Mannes« in Gefahr sehen. Gewalt sei demnach eine Methode, das bedrohte Geschlechterbild wiederherzustellen


Die Theorie fußt auf der Annahme, dass Männlichkeit einem sozialen Status gleichkommt, den man sich erst erarbeiten muss. Männer sind bis heute in den meisten Kulturen mit mehr Macht ausgestattet als Frauen. Das hat allerdings einen Preis: Für Männer gelten strengere Regeln als für Frauen; sie stehen zwar über ihnen, können dafür aber auch tiefer fallen. Deshalb sei Männlichkeit »schwierig zu verdienen und leicht zu verlieren«, erklärt Jennifer Bosson von der University of South Florida, die den Fachbegriff der »prekären Männlichkeit« gemeinsam mit ihrem Kollegen Joseph Vandello geprägt hat.

Aggression – Wut und ihre Folgen

Schon 1990 beschrieb der US-amerikanische Anthropologe David Gilmore in seinem Buch »Manhood in the Making« (in Deutschland 1991 unter dem Titel »Mythos Mann« erschienen), dass heranwachsende Jungen in vielen Kulturkreisen gewisse Rituale durchlaufen müssen, um zum Mann zu werden. Bei Frauen entscheide hingegen meistens die Biologie über ihre Weiblichkeit: Sie würden mit dem Beginn der Menstruation »automatisch« zur Frau.

Doch auch in Gesellschaften ohne formale Initiationsriten scheint Männlichkeit prekär. 2008 fragten Vandello und Bosson Studierende in den USA nach Gründen, wie Männer ihre Männlichkeit und Frauen ihre Weiblichkeit verlieren könnten. Den Befragten fiel es leichter, Erklärungen für Ersteres anzugeben: Arbeitslosigkeit etwa oder die Unfähigkeit, die Familie zu versorgen. Bei Frauen kamen sie stärker ins Grübeln und griffen eher auf Antworten zurück, die etwas mit Körperlichkeit zu tun hatten: eine Gebärmutterentfernung oder eine geschlechtsverändernde Operation.

Gewalt hilft, das bedrohte Selbstbild wieder geradezurücken

Gemeinsam mit Vandello und anderen Kollegen stellte Bosson die Theorie einer prekären Männlichkeit deshalb im Jahr 2009 auf die Probe: In einem von drei Experimenten sollten 45 junge Männer zunächst entweder die Haare eines weiblichen Puppenkopfes oder ein Seil flechten. Die Forscher filmten die Versuchspersonen dabei, angeblich um zu erforschen, wie sie die neuen Aufgaben lernen. Tatsächlich sollte das öffentliche Ausführen einer als weiblich angesehenen Tätigkeit den Probanden aber das Gefühl geben, sie würden an Männlichkeit einbüßen. Dass sich das beschriebene Versuchsprozedere dazu eignet, hatten zuvor bereits Befragungen und andere Studien ergeben.

Aber führt das – entsprechend der Theorie – auch zu aggressiverem Verhalten? Nach der Flechtaufgabe konnten sich die Studienteilnehmer entscheiden, ob sie lieber auf einen Boxsack schlagen oder ein Puzzle lösen wollten. Während sich nur jeder fünfte Mann aus der Seil-Gruppe für das Zuschlagen entschied, tat das jeder zweite Teilnehmer, der zuvor einer Puppe die Haare gemacht hatte. Zumindest in diesem Experiment mündete die Bedrohung des männlichen Selbstbilds demnach tatsächlich häufiger in Gewalt.

»Die Gesellschaft bietet Männern nur begrenzte Möglichkeiten zu beweisen, dass sie echte Männer sind«
Jennifer Bosson, Psychologin

In einem ähnlich gelagerten Folgeversuch ging das Team um Bosson der Frage nach, ob man mit Gewalt auch seine Männlichkeit zurückerlangen kann. Diesmal sollten alle 40 Männer zuerst einen Zopf flechten und danach auf einen Sack einschlagen. Bei der Hälfte der Teilnehmer gaben die Versuchsleiter aber vor, der Boxsack sei wegen eines technischen Defekts nicht bedienbar. Diese Probanden hatten also keine Gelegenheit, ihre Maskulinitätseinbuße wieder auszugleichen. Bei der anschließenden Wort-Vervollständigungs-Aufgabe entschieden sich jene Männer, denen der Boxsack verwehrt wurde, häufiger für mit Angst assoziierte Wörter als die anderen Versuchspersonen. Sie ergänzten etwa eine Buchstabenreihe wie STR_ _ _ eher zu STRESS als zu STRAßE. »Diese Ergebnisse zeigen, dass Männer körperlich aggressive Zurschaustellungen als Mittel zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung ihres Männlichkeitsstatus verstehen, nutzen und davon profitieren, insbesondere wenn dieser Status in Frage gestellt wurde«, schlussfolgern die Studienautorinnen und -autoren in ihrem Fachartikel.

Die Experimente offenbarten aber auch, dass viele Teilnehmer sich selbst in statusgefährdenden Situationen gegen Gewalt entschieden. »Die Gesellschaft bietet Männern nur begrenzte Möglichkeiten zu beweisen, dass sie echte Männer sind«, sagt Bosson. »Trotzdem gibt es eine gewisse Flexibilität.« Männer können auch andere Mittel nutzen, um ihr Selbstbild wieder geradezurücken, indem sie etwa ihre Überlegenheit auf intellektuellem Weg zur Schau stellen oder andere ungefragt belehren. Gewalttätig werden laut der Soziologin Susanne Spindler in erster Linie diejenigen, die keinen anderen Ausweg sehen, zum Beispiel weil sie gesellschaftlich schlechter gestellt sind. »Wenn man überhaupt keine Möglichkeit hat, beruflich aufzusteigen, und gesellschaftliche Anerkennung fehlt, dann kann Männlichkeit als Ressource herangezogen werden«, erklärt sie. Manche Männer griffen demnach in Ermangelung von Alternativen auf physische Gewalt zurück.


Junge Männer lassen sich leichter verunsichern

Adam Stanaland und Sarah Gaither von der US-amerikanischen Duke University entdeckten 2021 noch einen weiteren Faktor, der erklären könnte, warum manche Männer auf Bedrohungen ihrer Geschlechterrolle mit Aggression reagieren und andere nicht. Sie luden 195 Studentinnen und Studenten für eine Studie ein, vorgeblich um das Verhältnis zwischen Gender und Gedächtnis zu untersuchen. Unter anderem sollten die Versuchspersonen ein Quiz zu Geschlechterfragen beantworten, das Fragen zu femininen und maskulinen Stereotypen beinhaltete. Die anschließende Auswertung war jedoch manipuliert: Eine Hälfte der Teilnehmenden bekam die Rückmeldung, sie hätten ähnlich wie andere Versuchspersonen desselben Geschlechts abgeschnitten. Die zweite Hälfte bekam das Feedback, ihr Antwortverhalten passe eher zu dem des anderen Geschlechts. Das sollte Männer in ihrer Männlichkeit und Frauen in ihrer Weiblichkeit verunsichern.

Anschließend sollten die Teilnehmenden (ähnlich wie in der Studie von Bosson und Vandello) mehrdeutige Buchstabenketten vervollständigen. So wollten Stanaland und Gaither möglichst unauffällig die Neigung zu gewaltgeladenen Gedanken erheben. Nur bei Männern führte die Bedrohung der Geschlechtsidentität auch zu einer gesteigerten »aggressiven Kognition«, so das Ergebnis. Allerdings hauptsächlich dann, wenn sie sich von gesellschaftlichen Erwartungen besonders stark unter Druck gesetzt sahen: Je mehr die männlichen Versuchsteilnehmer angaben, ihr Verhalten an gesellschaftlichen Normen auszurichten, desto stärker tendierten sie zu aggressiven Gedanken, wenn ihre Männlichkeit in Zweifel gezogen wurde.

Dieser Effekt ist auch vom Alter abhängig. In einem Folgeexperiment mit knapp 400 Männern zwischen 18 und 56 Jahren gaben die älteren Probanden an, weniger Druck zu verspüren, sich an Geschlechterbilder anpassen zu müssen, und neigten weniger zu aggressiven Gedanken. Stanaland und Gaither gehen davon aus, dass ältere Männer ein stabileres Selbstbild haben, das weniger »fragil« ist, und sie deshalb seltener gewalttätig werden.

Das deckt sich mit den Erkenntnissen über die Silvester-Randalierer. Die Berliner Polizei gibt etwa an, dass die allermeisten Täter unter 25 Jahre alt waren. Die Theorie einer prekären Männlichkeit könnte zudem erklären, warum solche Krawalle häufig im öffentlichen Raum stattfinden. »Männer können ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, indem sie Dinge tun, die öffentlich sichtbar sind und auch riskant, so dass es die Möglichkeit des Scheiterns gibt«, sagt Bosson. Denn nur wenn andere bezeugen können, dass man sich besonders männlich verhalten hat, steigt das eigene Ansehen und damit die eigene Männlichkeit. Dank Smartphone-Kameras ist das heute einfacher denn je.


Die Theorie der fragilen Männlichkeit ist nicht unumstritten


Seit den ersten Experimenten 2009 haben zahlreiche Forschungsteams die Idee einer prekären Männlichkeit übernommen. So zeigen Studien bei Männern Veränderungen im Spiegel des Stresshormons Kortisol, wenn sie ihr Bild als echter Mann in Gefahr sehen. Eine Gruppe aus den USA stellte einen Zusammenhang fest zwischen einem bedrohten männlichen Selbstbild und der Neigung, Politiker zu unterstützen, die Stärke und Härte symbolisieren.

Trotzdem ist die Theorie nicht unumstritten. Joan Chrisler, bis 2019 am Connecticut College, monierte, dass Bosson und Vandello ein zu vereinfachtes Bild von Weiblichkeit zeichnen. Frauen könnten ebenso an Weiblichkeit einbüßen, etwa wenn sie ihre Rolle als Mutter nicht den Normen entsprechend erfüllen oder indem sie sich wider den gesellschaftlichen Erwartungen kleiden, argumentierte die Psychologin in einem Kommentar im Jahr 2013. Bosson und Vandello fühlten sich dabei missverstanden. In einer Replik schrieben sie: »Unser Argument ist eines der relativen und nicht der absoluten Prekarität. Dass Männer ihren Geschlechterstatus leichter verlieren können als Frauen, bedeutet nicht, dass Frauen niemals den Geschlechterstatus verlieren können.« Jennifer Bosson

Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisierten, dass die Theorie der prekären Männlichkeit Gender mit sozialem Status verwechsle. Bedrohungen der Männlichkeit seien demzufolge nichts anderes als Einbußen an gesellschaftlichem Ansehen. Mehrere Studien scheinen diesen Eindruck jedoch zu widerlegen. Ein Team um Ekaterina Netchaeva von der Università Commerciale Luigi Bocconi in Mailand ließ Versuchspersonen Lohnverhandlungen nachspielen. Die Forschenden gaben vor, dass das Abschneiden in einem Test darüber entschied, ob die Probanden dabei in die Rolle des Vorgesetzten oder des Untergebenen schlüpfen mussten. Das sollten die Freiwilligen als Angriff auf ihren sozialen Status werten. Männer fühlten sich allerdings nur dann bedroht, wenn eine Frau die übergeordnete Rolle einnahm, wenn also sowohl der soziale Status als auch die Geschlechterrolle adressiert wurde.

Gesellschaftliche Normen müssen sich ändern

So oder so ist eine fragile Männlichkeit sicher nicht die einzige Ursache von Krawallen und Ausschreitungen. »Es gibt viele Variablen, die eine Rolle dabei spielen, wann und warum Männer sich aggressiv verhalten, und prekäre Männlichkeit ist nur eine dieser Variablen«, sagt Bosson. Um geschlechtsbezogene Gewalt zu vermindern, müsse man die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit ganz allgemein verändern, schreibt eine Forschungsgruppe um den Gesundheitsforscher Paul Fleming von der University of Michigan. In dem Aufsatz aus dem Jahr 2015 schlägt sie dafür so genannte gender-transformative Programme vor. Diese würden Männern einen sicheren Raum bieten, um über Genderrollen nachzudenken und diese zu hinterfragen.

In den USA evaluieren Forschende der University Pittsburgh gerade die Effekte einer solchen Initiative, des Programms »Manhood 2.0« (Männlichkeit 2.0). Es ist an junge Männer aus vornehmlich ärmeren Communitys gerichtet und soll dabei helfen, die Gewalt in Paarbeziehungen sowie queerfeindliche Gewalt zu reduzieren. Die Teilnehmer kommen regelmäßig zusammen, um problematische Elemente traditioneller Männlichkeitsbilder zu verstehen und diese zu überwinden. Das passiert mit Hilfe von kunsttherapeutischen Ansätzen, Rollenspielen oder Diskussionsrunden.


Erste Zwischenergebnisse sind allerdings ernüchternd

Und noch ein weiteres Problem stellt sich: Wie erreicht man junge, gewaltbereite Männer überhaupt mit solchen Programmen? »Wir sollten über das Problem mehr im Kontext von Community-Arbeit nachdenken«, sagt Susanne Spindler. Das bestätigt auch eine Übersichtsstudie von 2020 zur Frage, was gender-transformative Programme erfolgreich macht. Die Forschungsgruppe um Jessica Levy von der Washington University in St. Louis kommt darin unter anderem zu dem Schluss, dass Interventionen, die das soziale Umfeld der Teilnehmenden miteinbeziehen, häufiger einen Wandel der Rollenbilder nach sich ziehen.

Auch Geschlechterungerechtigkeit in der Gesellschaft abzubauen hilft, wie ein internationales Forschungsteam um Bosson 2021 berichtete. 33 000 Studierende in 62 Ländern sollten angeben, ob sie finden, dass man sich Männlichkeit hart erarbeiten müsse und einfach verlieren könne. In Ländern mit höherer Geschlechtergerechtigkeit waren die Antworten zurückhaltender. Teilnehmende aus Deutschland stimmten der Aussage im Schnitt weder zu noch lehnten sie sie ab, in den USA ergab sich eine zaghafte Zustimmung und in Albanien bejahten die Probanden die Aussage recht deutlich.

Trotzdem herrschen auch in fortschrittlichen Ländern zum Teil noch strenge Anforderungen an Männer, wie 2022 eine weitere Studie von Bosson ergab.

Den befragten Studierenden war es fast universell wichtiger, dass Männer keine Schwäche zeigen, als dass Frauen sich nicht dominant verhalten sollen – unabhängig von der Geschlechtergerechtigkeit in ihrem Herkunftsland. Auch das sei eine mögliche Ursache für Gewalt, glaubt Bosson. »Ich bin mir sicher, dass die Botschaft, Schwäche sei für Männer nicht in Ordnung, einen Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede erklären könnte«, sagt die Psychologin. »Denn wie zeigt man, dass man nicht schwach ist? Man verhält sich aggressiv!«


Nota. - Was immer die treue Seele in der Sache schreiben würde, seine Conclusio stand von Anfang an fest wie das Amen in der Kirche: Männer, vor allem junge, sollten erstmal still beiseite treten und "ihr Rollenbild hinterfragen". Ich dagegen würde ihnen raten, sich bloß nicht beiseite schieben oder gar von *innen und deren lila Pudeln ihr "Rollenbild hinter-fragen" zu lassen. Und wenn sie euch gendern wollen, zuckt mit den Achseln und hört gar nicht hin. Denen würde es nicht schaden, mal etwas zur Seite zu treten und ihr Rollenbild zu hinterfragen - sich selber dürften sie ruhig ein bisschen verunsichern.

JE

Freitag, 24. Februar 2023

Die realistische Erkenntnistheorie des Empedokles.

aus FAZ.NET, 22. 2. 2023                                                                                                   zu  Philosophierungen

Hier fühlt er wie ein Gott in seinen Elementen sich
Wiederholt sich die Sensation von 1999? In Lüttich wird ein Papyrusfragment präsentiert, das ein weiteres Teilstück der „Physika“ des Empedokles sein könnte.

VON HANS BERNSDORFF

Stellen wir uns vor, alle Exemplare von Schillers „Wilhelm Tell“ wären in den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts vernichtet worden und wir kennten das Werk nur noch, weil der Büchmann daraus geflügelte Worte wie „Der kluge Mann baut vor“ oder „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ bringt, weil Theaterführer den Inhalt des Stücks zusammenfas-sen oder Grammatiken einzelne Verse als Beispielsätze zitieren. Weite Teile der antiken Lite-ratur sind auf diesem indirekten Weg höchst lückenhaft überliefert, darunter die Hauptwer-ke der griechischen Philosophie vor Platon. Wir kennen sie nur, weil spätere Autoren aus ihnen zitieren oder ihre Lehrmeinungen referieren. Diese Armseligkeit der Überlieferung steht in betrüblichem Gegensatz zu der Bedeutung, die frühgriechische Denker durch ihr „anfängliches Fragen“ (Uvo Hölscher) für die gesamte europäische Philosophiegeschichte bis hin zu so gegensätzlichen Köpfen wie Martin Heidegger und Karl Popper besitzen.

Es war deshalb im Jahr 1999 ein spektakuläres Ereignis, dass Alain Martin und Oliver Primavesi Papyrusbruchstücke aus einer vollständigen Ausgabe des Lehrgedichts „Physika“ des sagenumwobenen Dichterphilosophen Empedokles (etwa 484/483 bis 424/423 vor Christus) erstmals herausgaben. Dieser am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts kopierte Straßburger Empedokles-Papyrus wurde später als Unterlage eines mit Kupfer-blättern beklebten Schmuckkragens benutzt, der wohl einer ägyptischen Mumie angelegt worden war. Der deutsche Archäologe Otto Rubensohn hatte das Stück 1904 bei einem Antiquitätenhändler in Achmim, dem antiken Panopolis, gekauft, der es seinerseits wohl aus einer der nahegelegenen Nekropolen bezogen hatte. Über das „Deutsche Papyruskartell“ gelangte der Papyrus 1905 in die Straßburger Universitätsbibliothek. Gewiss, auch dies sind nur Fragmente, aber doch solche, deren Auswahl nicht vom Interesse eines zitierenden Autors bestimmt ist. In unserem Wilhelm-Tell-Szenario entspräche dies dem Sachverhalt, dass das Bruchstück einer Seite aus einer einstmals vollständigen Ausgabe des Schiller-Dramas gefunden würde.

Wir sind nichts als die Elemente
Im Falle des Empedokles gelang es Martin und Primavesi, den Neufund mit durch Zitate bekannten Versen zu kombinieren und so erstmals längere zusammenhängende Partien des ersten Buchs der Physika wiederzugewinnen, verbunden mit neuen Einsichten in den philosophischen Gehalt und die poetische Formung des Werkes (diese war es, die spätere Autoren, etwa Lukrez, besonders schätzten). So zeigte sich, dass Empedokles von den vier Elementen (Feuer, Luft, Wasser und Erde) in der Wir-Form sprechen kann, um damit deutlich zu machen, dass wir Menschen in Wahrheit nichts anderes seien als die keinem Werden und Vergehen unterworfenen Elemente. Zudem offenbarte sich, dass die Kosmo-logie der Physika in Analogie zum Mythos von den in ein irdisches Strafgericht verbannten Göttern (Dämonen) im anderen großen Werk des Empedokles, den „Reinigungen“, gestal-tet ist. Auch die Erforschung römischer Empedokles-Adaptatoren erhielt durch den Straßburger Fund mächtigen Auftrieb – von Lukrez über Ovids Metamorphosen bis hin zu einem fälschlich Vergil zugeschriebenen Kleinepos, in dem die Herstellung eines Kräuterkäses parodistisch im Stile der empedokleischen Kosmogonie geschildert wird.
Gespannt folgte man darum jetzt, fast ein Vierteljahrhundert nach der Herausgabe des Straßburger Empedokles, einer Einladung nach Lüttich, wo der junge belgische Papyrologe Nathan Carlig, flankiert von Martin und Primavesi, ein unediertes Papyrusbruchstück präsentierte, das nach Auffassung des gelehrten Trios Teile von bislang unbekannten Versen des Empedokles enthält. Carlig hatte den Papyrus, der im Mai oder Juni 1941 von der Société Fouad Ier de papyrologie in Kairo wahrscheinlich aus dem Antiquitätenhandel erworben worden war, im Keller des dortigen Institut français d’archéologie orientale aufgespürt.
Carligs Referat zufolge (im Rahmen einer Beamerpräsentation mit Abbildung und vorläufiger Edition des Papyrus) handelt es sich um ein circa 13 Zentimeter hohes und 11 Zentimeter breites Fragment, in dessen Mitte sich der freie Raum zwischen zwei Textkolumnen befindet. An dessen linker Seite sind die Enden von 13 und an dessen rechter Seite die Anfänge von 17 Zeilen erhalten. Das reicht nicht aus, um nur eine Zeile zu vervollständigen, zumal sich die Reste mit keinem uns sonst bekannten Text überschneiden. Allerdings genügt das Erhaltene, um Hexameter zu erkennen, das Versmaß, in dem Epen und Lehrgedichte, also auch die Physika, abgefasst waren. Ensemble A des großen Straßburger Empedokles-Papyrus (P.Strasb.gr. 1665/6), der seit 1999 bekannt ist: Teil derselben Rolle wie der neu gefundene Papyrus aus Kairo? Ensemble A des großen Straßburger Empedokles-Papyrus (P.Strasb.gr. 1665/6), der seit 1999 bekannt ist: Teil derselben Rolle wie der neu gefundene Papyrus aus Kairo? 
An ausgewählten Beispielen führte Carlig eine weitgehende und starke Ähnlichkeit mit Schrift und Layout des Straßburger Papyrus vor. Dieser Befund bedeutet zunächst lediglich, dass die beiden Papyri vom selben Schreiber oder zumindest aus einem engen lokalen und zeitlichen Kontext stammen, sagt aber noch nichts über den Charakter des enthaltenen Textes aus. Freilich lassen sich, wie Primavesi in seinem anschließenden Vortrag darlegte, in dem neuen Fragment sprachliche und inhaltliche Berührungen mit Empedokles finden, besonders mit dessen Theorie der Sinneswahrnehmungen, die etwa Folgendes besagt: Jedes potentielle Wahrnehmungsobjekt sendet „Abflüsse“ der in ihm enthaltenen Elemente aus, welche von dem im Inneren eines jeden Wahrnehmungsorgans vorherrschenden Element angezogen werden. Der eigentliche Wahrnehmungsvorgang findet an den Poren einer Außenmembran des Wahrnehmungsorgans statt. Diese Poren sind materiell von den einströmenden Elementmassen verschieden, ihre geometrische Form sorgt allerdings dafür, dass nur Elementteilchen, die genau in sie passen (also nicht zu groß und nicht zu klein sind), von ihren Innenwänden wahrgenommen werden. So ist ausgeschlossen, dass wir Farben schmecken, Töne sehen und so weiter. In den Versanfängen der rechten Kolumne finden sich nun in engem Kontext Textsplitter, die nach Primavesis Deutung nichts anderes enthalten als eine Erklärung der Verschiedenheit der einzelnen Sinne auf Grund der empedokleischen Porentheorie, zumal sich auch sprachliche Berührungen mit den Referaten dieser Theorie bei Platon und Theophrast zeigen. In der linken Kolumne taucht das griechische Wort für Eisen auf, im nächsten Vers ein Verb, das „abstoßen“ bedeuten kann, was auf eine Erwähnung des Magnetismus deutet. Wir wissen, dass Empedokles auch dieses Phänomen mit der Porentheorie erklärte
Der Neufund weist also allem Anschein nach aus zwei Richtungen auf Empedokles: zum einen durch die auffällige äußerliche Nähe zum Straßburger Papyrus, zum anderen durch die inhaltlichen Berührungen mit einer für Empedokles charakteristischen Wahrnehmungstheorie. Carlig, Martin und Primavesi folgern, dass Straßburger und Kairener Papyrus derselben Rolle oder vielleicht auch verschiedenen Rollen derselben, mehrbändigen Edition der Physika entstammen dürften. Da indes über die Fundumstände des Kairener Fragments im Gegensatz zu denen desjenigen aus Straßburg bisher nichts bekannt ist, liefert dieser Gesichtspunkt vorerst keinen Anhaltspunkt für die Erhärtung einer derartigen Folgerung. Das Team hofft, noch im Laufe dieses Jahres die Textkonstitution abgeschlossen zu haben und im Herbst die kommentierte Erstedition samt Fotos des Papyrus vorlegen zu können. Die Präsentation in Lüttich verspricht eine Wirkung, welche die Empedoklesforschung zwar nicht wie 1999 umwälzen, aber immerhin entschieden beleben wird.

Nota. - Befremdlich scheint es dem heutigen Leser, dass bei den antiken Autoren wohl einige metaphysische Spekulationen über das Sein-an-sich und das eigentliche Wesen der Dinge zu finden sind, aber keine Gedanken über Herkunft und Wesen unseres Wissen - außer eben der ausgesprochen mythischen Lehre des Plato, der doch das Ende des Mythi-schen Zeitalters besiegelt haben soll, vom ursprünglichen Beisammensein der Seelen und der Ideen auf dem Olymp und deren "Teilhabe" durch Erinnerung. Da wäre diese Erkennt-nislehre des Empedokles, der ein Jahrhundert vor Plato gelebt hat, eine echte Überra-schung. Realistisch ist sie, aber nicht im 'begriffsrealistischen' platonischen Sinn, sondern in einem sensualistisch-materialistischen: Nicht nur erklärt sie, wie und warum 'Informationen' vom Objekt ausgehen, sondern auch, was das größere Problem ist, wie sie ins Subjekt hin-einkommen: nämlich durch ihre stoffliche Ähnlichkeit. Nach dem naturalistischen Rationa-lismus des Empedokles nimmt sich der angebliche Aufklärer Plato wie ein spiritualistischer Obskurant aus, der an Märchen glaubt.
(Und der zeichnet das dem Aristoteles zugeschriebene Verhältnis von intellectus agens und intellectus possibilis vor.)
JE

Ravenna, Hauptstadt des Imperium Romanum.

 Basilica Sant' Apollinare Nuovo
aus welt.de, 24. 2. 2023

BYZANZ IN ITALIEN
Seine Eunuchen ließen den Kaiser im Bad erschlagen
Schon in der Spätantike diente Ravenna als Kaiserresidenz. Später herrschten Goten und Byzantiner in der Stadt. Im Jahr 662 unternahm mit Konstans II. sogar ein oströmischer Kaiser den Versuch, seinen Sitz nach Italien zu verlegen.


Von Berthold Seewald

Am Ende der Antike wurde die Welt längst nicht mehr von Rom aus regiert, sondern von einer Stadt inmitten weiter Sümpfe, in der höchstens 50.000 Menschen lebten. Das war Ravenna. 

Allerdings sind einige Einschränkungen angebracht: Die Welt des Weströmischen Reiches schrumpfte seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. drastisch zusammen. Barbarische Horden zogen sogar durch Italien und begründeten in Spanien, Gallien, Britannien und Nordafrika eigene Reiche, die allenfalls formal den Kaisern unterstanden. Auch wurde der östliche Teil des Imperiums nicht von Ravenna, sondern von Konstantinopel aus regiert – der Hauptstadt Ostroms, das mit seinen überlegenen Ressourcen die sogenannte Völkerwanderung wesentlich besser überstehen konnte als der taumelnde Westen.

Warum die Kaiser seit 402 lieber in Ravenna residierten als in Rom oder Mailand, hat der römische Historiker Prokop beschrieben: „Die Stadt Ravenna ... ist so gelegen, dass sie weder von Schiffen noch von Landstreitkräften leicht erreichbar ist ... Über Land kann sich ihr eine Armee überhaupt nicht nähern, denn der Po und andere schiffbare Flüsse wie auch einige Sümpfe umgeben sie von allen Seiten, sodass die Stadt vollkommen vom Wasser umschlossen ist.“


Die Befestigungen Ravennas galten als unüberwindlich – Mosaik in der Palastkirche Sant’Apollinare Nuovo

Zudem bot der Classe genannte Hafen an der Adria bis zu 250 Schiffen einen sicheren Ankerplatz und konnte daher als Versorgungsbasis dienen, ergänzte Prokops Kollege Jordanes. In dieser kaum einnehmbaren Festung residierten die Kaiser bis zur Absetzung des Romulus Augustulus 476 durch den germanischen Söldnerführer Odoaker.

Ihm folgten die Könige der Ostgoten, bis Ostrom 540 die Rückeroberung gelang und Ravenna zum Sitz seiner Exarchen machte, wie die Statthalter genannt wurden.

Dass Ravenna – heute eine Landstadt mit 150.000 Einwohnern – über fast 350 Jahre hinweg ein Knotenpunkt der Geschichte war, zeigt die britische Historikerin Judith Herrin mit einem eindrucksvollen Panorama. Ihr neues Buch „Ravenna“ präsentiert die große Festungsstadt in den Sümpfen als „Hauptstadt des Imperiums“, die zugleich ein „Schmelztiegel der Kulturen“ gewesen ist. Wie das Exarchat in die Machtspiele zwischen Antike und Mittelalter eingebunden war, zeigt die kaum bekannte Episode, in der ein oströmischer Kaiser das Zentrum des Reiches wieder in den Westen verlegen wollte.

Wie wird ein Mensch zum Attentäter?


Die Rede ist von Konstans II. (630–668), wegen seines prächtigen Bartwuchses auch „der Bärtige“ genannt. Der hatte das Pech, dass sich die Anhänger des Propheten Mohammed während seiner Regierung anschickten, das arabische Weltreich zu errichten. Konstans’ Großvater Herakleios war es noch gelungen, den jahrhundertelangen Konkurrenzkampf gegen das Perserreich zu seinen Gunsten zu entscheiden. Aber die beiden Großmächte hatten sich in diesem Ringen derart verausgabt, dass sie der muslimischen Expansion nur wenig entgegenzusetzen hatten.

Immerhin konnte Byzanz im Gegensatz zu den Persern
 seine Staatlichkeit behaupten. Aber die Verluste waren enorm.

Der byzantinische Kaiser Konstans II. (reg. 630–668), der Bärtige, und sein Sohn Konstantin IV. auf einem Goldsolidus


Nachdem sein Vater Konstantin III. bereits nach wenigen Monaten auf dem Thron verstorben war, folgte ihm Konstans 641 nach. Zunächst führte ein Regentschaftsrat für den Elfjährigen die Geschäfte. Palästina, Syrien, Mesopotamien, Ägypten gingen verloren. Neu auf Kiel gelegte arabische Flotten bedrohten auch die Seeherrschaft Ostroms in der Levante. Die Schiffe des neuen Kalifen Muawiya I. eroberten Rhodos, plünderten Kreta und ließen keinen Zweifel daran, dass ihr nächstes Ziel Konstantinopel selbst sein würde. Immerhin gelang es den Exarchen von Ravenna, die ab 568 einfallenden Langobarden auf Distanz zu halten. Auch in Nordafrika, das Byzanz 533 von den Vandalen zurückerobert hatte, konnte der Statthalter von Karthago noch die byzantinische Herrschaft sichern.

Ein Grund für den schnellen Vormarsch der arabischen Truppen waren die religiösen Streitigkeiten, die das christlich gewordene Römerreich erschütterten. Sowohl in Konstantinopel als auch in Rom galt das orthodoxe (rechtgläubige) Dogma, das auf dem vierten ökumenischen Konzil von Chalkedon verabschiedet worden war. Danach habe Christus zwei unvermischte Naturen, die göttliche und die menschliche. Das sahen viele seiner Anhänger in Syrien und Ägypten aber anders. Dort folgten zahlreiche Gemeinden der von alexandrinischen Theologen vertretenen Überzeugung, nach der Gottes Sohn nur mit der einen göttlichen Natur ausgestattet sei.

Da das Bekenntnis zu Christus zugleich als Eid auf sein (Römisches) Reich auf Erden galt, hielten die Kaiser wenig von Toleranz, sondern forderten von allen ihren Untertanen das Befolgen der orthodoxen Lehre. Weil sich die Monophysiten widersetzten, wurden sie massiven Verfolgungen ausgesetzt. Entsprechend flüchtig wurde ihre Loyalität gegenüber dem Imperium. Sie öffneten den Muslimen gern die Tore, zumal ihren neuen Herren nicht an einer gewaltsamen Mission gelegen war – christliche Untertanen füllten die Kassen, zahlten sie doch eine Kopfsteuer.

Um die christliche Abwehrfront wieder zu festigen, hatte bereits Herakleios seine Kirche bewogen, eine Kompromissformel zu finden. Danach habe Christus zwar eine göttliche und eine menschliche Natur, aber nur einen einzigen, von Gott diktierten Willen. Was in der religiös indifferenten Gegenwart vielleicht funktioniert hätte, erwies sich im 7. Jahrhundert als Sprengstoff. Damals reichte ein Wort aus, um als Gläubiger oder Häretiker zu gelten. Sowohl im monophysitischen Orient als auch im orthodoxen Westen stieß der sogenannte Monotheletismus auf massiven Widerstand. Der Papst in Rom attackierte den Patriarchen in Konstantinopel gar als Ketzer.

Konstans, der ab 650 die Regierung selbst führte, hielt am Monotheletismus fest, zu dem sich auch die Bevölkerung Konstantinopels, Griechenlands und Kleinasiens bekannte. Während die arabischen Heere im Osten weiter vorrückten, versuchte er zumindest den Westen unter seiner Kontrolle zu halten. Der Hebel dafür wurden Ravenna und sein Exarchat, dessen Kerngebiet von der Adria bis nach Rom reichte.

Der Exarch Olympius erhielt den Auftrag, den renitenten Papst Martin zur Räson zu bringen. In Rom angekommen, wechselte der Statthalter jedoch die Seiten und zettelte einen Aufstand an, starb jedoch bald darauf bei dem Versuch, Sizilien zu besetzen. Sein Nachfolger in Ravenna ließ in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Martin gefangen nehmen und nach Konstantinopel schicken. Dort wurde der Papst wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, schließlich auf die Krim verbannt, wo er an den Folgen der Folter starb.

Martins Schicksal war Wasser auf die Mühlen von ehrgeizigen Klerikern in Ravenna, ihr Erzbistum aus der Herrschaft des Patriarchen von Rom zu lösen. Indem sie sich als treue Anhänger des Monotheletismus gaben, konnten sie Konstans überzeugen, ihnen die Unabhängigkeit zu gewähren. Ravenna war nun nicht nur politisch, sondern auch religiös die mächtigste byzantinische Instanz in der westlichen Reichshälfte.

Konstans tat aber noch mehr. „In einem bis dato einmaligen Schritt beschloss der Kaiser, sich nach Sizilien zu begeben, wo er die Ressourcen der weströmischen Provinzen zum Wiederaufbau seiner See- und Landstreitkräfte nutzen wollte“, schreibt Judith Herrin. Mit einer Armee zog er 662 durch Griechenland nach Patras, von wo aus er nach Italien übersetzte. Im Juli 663 war er in Rom. Zum ersten Mal seit 200 Jahren betrat wieder ein Kaiser die ehemalige Hauptstadt der Welt. Dem orthodoxen Papst Vitalian blieb nichts anderes übrig, als den Vorkämpfer des Monotheletismus mit allen Ehren zu empfangen.

Als der Ketzerkaiser die Stadt nach zwölf Tagen wieder verließ, machte sich in Rom Erleichterung breit. Denn seine Soldaten hatten alle Bronzedekorationen der Stadt geplündert, um sie in die kaiserlichen Schatzkammern zu schaffen. Auf Sizilien schlug Konstans schließlich sein Hauptquartier in Syrakus auf. Das war eine gute Wahl. Die Insel lag noch außerhalb des Operationsgebiets arabischer Flotten, verklammerte die beiden Exarchate in Ravenna und Karthago und war eine der wichtigsten Kornkammern des Reiches.

Umgehend begann der Kaiser, Siziliens Ressourcen für den Aufbau einer Flotte zu mobilisieren. Die Untertanen waren wenig begeistert, wie ein Chronist berichtete: „Den Menschen, Besatzern und Eigentümern ... erlegte er (der Kaiser; Anm. d. Red.) jahrelang große Not auf, indem er Land und Leute registrieren ließ und Abgaben für die Schifffahrt in nie gekannter Höhe einführte und Ehefrauen von ihren Ehemännern und Söhne von ihren Eltern trennte.“ Denn sie mussten die Schiffe bemannen. Auch Ravenna hatte sich an diesem kostspieligen Aufbauprogramm zu beteiligen, wurde aber mit Privilegien ruhiggestellt.

Offenbar plante Konstans wirklich, die kaiserliche Residenz ganz in den Westen zu verlegen. Dafür spricht der Versuch, seine Frau und seine drei Söhne nachkommen zu lassen. Das Vorhaben verhinderten jedoch Senatoren in Konstantinopel, die der Hauptstadt und damit sich selbst ihren Rang sichern wollten. Das gleiche Motiv trieb auch Höflinge in Syrakus 668 zu einer Verschwörung, nachdem die Nachricht eingetroffen war, dass ein arabisches Heer auf Konstantinopel marschiere. Sollte die Stadt fallen, wollten die kaiserlichen „Eunuchendiener“ ihre Position festigen, indem sie mit dem Gardegeneral Mizizios einen eigenen Anführer proklamierten. Im September 668 erschlug ein Diener Konstans im Dampfbad.

Aber der Exarch in Ravenna hielt zum Kaiserhaus und schlug die Usurpation nieder. Bis zu seiner Eroberung durch die Langobarden 751 blieb Ravenna der Sitz des Exarchats und diente als der Leuchtturm, über den „das Imperium das Ideal einer effizienten, per Gesetz sanktionierten Regierung im Westen aufrechterhielt“, resümiert Judith Herrin. Die Nachfolge trat eine Siedlung auf einigen Inseln an, auf die sich Flüchtlinge im Norden der Adria zurückgezogen hatten: Venedig.


Judith Herrin: „Ravenna. Hauptstadt des Imperiums – Schmelztiegel der Kulturen“. (A. d. Engl. von Cornelius Hartz. wbg/Theiss, Darmstadt. 704 S., 39 Euro)

Nota. - Die Stadt Rom konnte wirtschaftlich und kulturell ein Weltreich zusammenhalten, weil sie die europäischen Handelswege kontrollierte und seit der Niederlage Karthagos das Mittelmeer beherrschte. Mit der geographischen Überdehnung des Reichs bildeten sich regionale Subzentren, die Roms sachliche Vorherrschaft unterliefen, und mit der schleichenden Faudalisierung - encomendatio - der vormals freien Bauernschaft das gesellschaftliche Gewicht von den Städten aufs Land und von den Behörden auf die Latifundien verlagerte. Zugleich führte der ständige Druck auf die Reichsgrenzen zu einer Provinzialisierung des Militärs (garnierte Festungen anstelle von Grenzwällen) zu einer Zerfaserung der polizeilichen Kontrolle, und die Hauptstadt wurde aufs militärische Oberkommando und administrativen Schriftverkehr reduziert - wofür das urbane Zentrum Rom überflüssig und gar hinderlich war. 

Schon Konstantin hatte seinen Sitz darum nach Trier im westlichen Germanien verlegt. Der Zerfall des Reichs war seither nur eine Frage der Zeit; einer, wie sich zeigte, noch langen.

JE



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