Die Theranos-Betrügerin Elizabeth Holmes, der Twitter-Gründer Jack
Dorsey und der Ex-Gouverneur Arnold Schwarzenegger – sie alle berufen
sich auf die Philoso-phie der Stoa. Zahlreiche LinkedIn-Posts, Medium-Beiträge und Artikel bei Forbes
versprechen Resilienz, Innovationsfähigkeit, Führungsqualitäten,
letztlich auch beruflichen Erfolg, wenn man sich nur auf die Prinzipien
dieser antiken philosophischen Strömung besinnt. Zitate aus dem Umfeld
der Stoa werden in der modernen Unternehmenskultur wie Bibelzitate oder
Kalendersprüche verbreitet. Sie dienen als Mantra und Motivation einer
rationalen Haltung, die gegen die Unwägbarkeiten des Spätkapitalismus
immer ausreichend gewappnet sind. Wer sich auf die Stoa besinnt, der
gehört zu den Gewinnern der Gesellschaft. Wie aber kam es dazu, dass die
Stoa zu der Philosophie der modernen Unternehmerwelt wurde? Und warum ist dieser Trend ungebrochen?
Bevor wir uns auf die Suche nach den Antworten auf diese Fragen
machen, ist ein Blick in die Philosophiegeschichte nötig. Wer waren die
Stoiker und was waren ihre Thesen? Manche kennen vielleicht die
sprichwörtliche “stoische Gelassenheit”, die solchen Menschen attestiert
wird, die sich auch von schwersten Rückschlägen nicht aus der Fassung
bringen lassen. Andere haben möglicherweise von den
“Selbstbetrachtungen” gehört, die der “Philosoph auf dem Kaiserthron”
Marcus Aurelius verfasste und die Bundeskanzler Helmut Schmidt als eines
seiner Lieblingsbücher benannte. (Noch zwei Machtmenschen mit Interesse
an der Stoa.)
Körper und Gelassenheit
Als philosophische Schule entstand die Stoa etwa um 300 vor unserer
Zeitrechnung in Auseinandersetzung mit der Philosophie Platons und des
Kynismus. Als ihr Gründer gilt Zeno von Citium, der beide Strömungen
studierte und sie in der Stoa zu einem gewissen Grad synthetisierte. Die
ersten 150 Jahre werden oft als die “frühe Stoa” bezeichnet, gefolgt
von der mittleren Stoa und der späten Stoa um die Zeitenwende und in den
ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung.
Von Anfang an teilte die Stoa die Philosophie in drei Teilbereiche:
Physik (Kosmologie und Naturphilosophie), Logik (wozu auch
Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes
zählten) und Ethik (verstanden im antiken Sinne als allgemeine Theorie
des guten Lebens). Dabei sahen die Stoiker diese Teilbereiche jedoch
nicht als isoliert, sondern im wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis
voneinander stehend. Wie wir sehen werden, ist vor allem der
Zusammenhang zwischen Physik und Ethik interessant.
Die Physik der Stoa ist materialistisch: nur Körper existieren
eigenständig. Zwar existieren auch nicht-körperliche Dinge, wie Raum und
Zeit, aber deren Existenz ist abhängig von der Existenz von Körpern.
Das ist deswegen wichtig, weil es die Stoiker zu einem deterministischen
Bild des Universums führt. Alle Ereignisse sind das Resultat der
Interaktion zwischen Körpern. Das bedeutet, alles, was geschieht, ist
ein Glied in einer Kausalkette und daher vollständig determiniert durch
die vorangegangenen Ereignisse und seinerseits determinierend für
zukünftige Ereignisse. Das gesamte Weltgeschehen kann nur so und nicht
anders sein.
Die Stoa versteht die Ethik ganz im Sinne der antiken Philosophie
nicht nur als System von Handlungsregeln, sondern als Theorie des guten
Lebens. Damit muss sie die Frage nach dem höchsten Gut beantworten, also
nach dem Zweck, um dessen Willen alles andere getan wird, und der
selbst kein Mittel zu einem anderen Zweck mehr ist. Dieses höchste Gut,
sagen die Stoiker, ist das Leben in Übereinstimmung mit sich selbst und
dem Universum. Glücklich ist, wer die eigene Rolle im Großen Ganzen
kennt und sie frei von inneren Widersprüchen erfüllt. Dieses höchste Gut
ist dann der Maßstab dafür, ob etwas gut, schlecht oder indifferent
ist, abhängig davon, ob es für das Leben in Übereinstimmung mit sich
selbst und dem Kosmos, zuträglich, abträglich oder irrelevant ist.
Hier kommt dann die sprichwörtliche stoische Gelassenheit ins Spiel,
auf Griechisch “Ataraxía”, was sich mit “Unerschütterlichkeit”
übersetzen lässt. Denn da in der stoischen Kosmologie das gesamte
Weltgeschehen kausal determiniert ist, besteht die einzige Möglichkeit
der Übereinstimmung mit sich selbst und dem Universum darin, sich dem Flow
der Ereignisse zu überlassen. Ich kann nicht kontrollieren, was
geschieht, ich kann aber kontrollieren, wie ich mich zu dem verhalte,
was geschieht. Um mich auf die richtige Weise zu dem zu verhalten, was
geschieht, muss ich dann verstehen, dass die Leidenschaften
grundsätzlich fehlgeleitet sind. Der Grund dafür ist, dass die
Leidenschaften sich aus zwei Elementen zusammensetzen: die Überzeugung,
dass ein bestimmter Gegenstand oder Zustand, den ich habe oder bald
haben werde, gut oder schlecht ist, und die Überzeugung, dass bestimmte
Handlungen die angemessene Reaktion sind.
Weil aber der einzige Maßstab des Guten und Schlechten die
Übereinstimmung mit dem Universum ist, sind beide Überzeugungen falsch.
Meine Überzeugung, dass Gesundheit gut für mich ist, ist falsch, weil
Gesundheit meinem Leben in Übereinstimmung mit dem Weltganzen weder zu-
noch abträglich ist. Sie ist also indifferent. Meine Überzeugung, dass
ich Grund habe, mich über meine Gesundheit zu freuen, ist
dementsprechend auch falsch. Dasselbe gilt für die Möglichkeit, in der
Zukunft zu erkranken und meine Angst davor. Oder für Wohlstand und
Armut, oder Einsamkeit und Freundschaft etc. Die Ataraxía speist sich
also aus der Einsicht, dass nichts von dem, was im Allgemeinen als
wichtig gilt, wirklich wichtig ist.
Stoa als Beststeller
Soweit der Ausflug in die antike Philosophie. Aber wie konnte diese
Lehre zur Leittheorie des modernen Managertums werden, und was ist aus
ihr geworden? Die zweifelhafte Ehre, diesen Trend begründet zu haben,
gebührt sehr wahrscheinlich Ryan Holiday, dem ehemaligen Marketingchef
von American Apparel. Holiday veröffentlichte 2014 das Buch The Obstacle Is the Way: The Timeless Art of Turning Trials into Triumph, das sich im selben Jahr 230.000 mal verkaufte. Der Titel ist eine Anspielung auf eine Stelle in den Selbstbetrachtungen von Marcus Aurelius, Holidays hauptsächliche Inspirationsquelle in dem Buch. Es folgten Ego Is The Enemy (2016), Stillness is the Key (2018) und weitere “X ist Y”-Titel.
Fünf Jahre nach seinem Erscheinen erreichte The Obstacle Is The Way Platz 1 der Bestseller-Liste des Wall Street Journal.
Diesen Erfolg verdankte das Buch vor allem der öffentlichen Bewerbung
durch Profisportler, die erklärten, es zur Vorbereitung auf Wettkämpfe
gelesen zu haben. Von dort aus war es nur noch ein kurzer Weg in die
Bücherregale der CEOs großer Online-Unternehmen. Dazu kommen öffentliche
Auftritte bei der Stoicon und anderen Veranstaltungen und die Website The Daily Stoic.
Man kann also durchaus sagen, dass der PR-Spezialist Holiday die
Philosophie der Stoa in eine Marke verwandelt hat, die er mit sehr viel
Aufwand vermarktet. (Selbst die Geburt seines ersten Kindes nutzte er,
um eine Anleitung für “stoische” Elternschaft zu schreiben.)
Holiday selbst sagt, sein ursprüngliches Interesse an der Stoa sei
dadurch geweckt worden, dass sie ihm helfe, resilienter zu werden,
klarer zu denken und sich selbst zu meistern. Dies sind typische Ziele
jeder Art von Selbstoptimierung. Das erscheint zumindest auf den ersten
Blick nicht weit hergeholt. Gerade das Ideal der Ataraxía lässt
sich ja als Resilienz deuten – in Kombination mit der Kontrolle über
die eigenen Emotionen als klareres Denken und Meisterung des Selbst.
Ein kurzer Blick über verschiedene Artikel auf einschlägigen Websites
zeigt, dass dieses Versprechen der Selbstoptimierung bei der
Vermarktung der Stoa im Mittelpunkt steht. Letztlich soll es darum
gehen, im Geschäftsleben erfolgreicher zu werden, indem man die Lehren
der Stoa verinnerlicht. Hier stellt sich die Frage, ob dies nicht ein
reichlich unstoisches Versprechen ist, jedenfalls dann, wenn sich der
Erfolg im Quartalsbericht niederschlagen soll. Denn die Stoa würde ja
gerade sagen, dass Armut und Reichtum indifferent sind, und der Wunsch
nach mehr Erfolg daher eine persönliche Fehleinschätzung. Allerdings
bleiben die Kriterien des Erfolgs recht unklar, sodass man das
Versprechen auch großzügiger interpretieren könnte. Dann ginge es darum,
einzusehen, dass Erfolg, der sich im Quartalsbericht niederschlägt,
eben nicht alles ist.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die “Lehren” nicht so sehr in
der Stoa begründet sind, sondern dass die Stoa herangezogen wird, um
bestehende Meinungen und Einsichten philosophisch zu verbrämen. Dass man
wissen sollte, was man erreichen will und wie man es erreichen kann,
bevor man sich an ein neues Projekt macht, ist eigentlich ein recht
trivialer Grundsatz im Geschäftsleben und auch sonst. Dafür braucht man
kein Zitat von Epiktet. Das Zitat dient hier nur noch dazu, den Eindruck
zu erwecken, man habe eine uralte Weisheit angezapft.
Dieser Eindruck verstärkt sich noch an solchen Stellen, an denen
stoische Lehren kurzerhand umgedeutet werden. So wird in einem Artikel
ein Satz von Epiktet, wonach das Gute und das Übel eines Menschen in
seinem Willen lägen, so gedeutet, dass es hier um persönliche
Verantwortung gehe. Viel näherliegend ist es jedoch, die Bemerkung auf
die Leidenschaften zu beziehen. Dann ginge es darum, einzusehen, dass
Äußerlichkeiten wie Reichtum, Gesundheit oder sozialer Status
indifferent sind und das Gute darin besteht, zu wollen, was ohnehin
geschieht.
LinkedIn-Philosophen
Die Aneignung der Stoa und ihre Umwandlung zu einer Marke, die es zu
verkaufen gilt, ist ein Phänomen, das sich an verschiedenen Beispielen
beobachten lässt. Man denke hier an die Popularität von Yoga und anderen
fernöstlichen Praktiken. Der metaphysische Hintergrund, durch den die
betreffende Praxis erst ihren Sinn erhält, verschwindet. Die Ethik wird
zum Lifehack. Eigentlich geht es nicht um eine allgemeine
Haltung zum Leben, sondern um Prinzipien, nach denen ganz bestimmte
Entscheidungen getroffen werden, was konträr steht zum antiken Gedanken
der Ethik als allgemeine Theorie des richtigen Lebens.
Dadurch wird der Bezug auf die Stoa zu einem gewissen Grad beliebig. Ein LinkedIn-Post,
der bizarrerweise mit einem Foto von Donald Trump bebildert ist,
verspricht, dass die Stoa eine Hilfe für “Male Business Owner[s] in
[their] 30s to 60s” sein kann. Der Post spricht dabei aber in erster
Linie von Weisheit, Mut, Beherrschung und Gerechtigkeit, den sogenannten
Kardinaltugenden, die nicht nur von der Stoa vertreten wurden, sondern
bereits zwei bis drei Jahrhunderte früher in der Literatur erwähnt
werden. Der Name der antiken Schule wird hier zu einem austauschbaren
Buzzword, das der Vermarktung dient. Inhaltlich hätte es keinen
Unterschied gemacht, ob der Text sich auf Platon, Aristoteles, die Stoa
oder Thomas von Aquin bezogen hätte.
Was erklärt den Erfolg der Marke Stoa? Auffällig ist zunächst, dass
die Ideale, die durch die Berufung auf die Stoa eine philosophische
Legitimation erhalten sollen, einen klaren Gender-Aspekt haben. Es geht
um die Kontrolle der Leidenschaften zugunsten einer “rationalen”
Herangehensweise und um emotionale Unerschütterlichkeit. Das Ideal der Autarkía,
der Selbstgenügsamkeit, erfährt ebenfalls eine Umdeutung. In der Antike
war damit gemeint, dass man sich emotional unabhängig machen solle von
Äußerlichkeiten, die für das gute Leben indifferent sind. Daraus wird
dann in den Anleitungen für Manager der Aufruf, die Ratschläge und
Ansichten anderer zu ignorieren. Der stoische Manager lässt sich auch
nicht davon beirren, dass andere von seiner Geschäftsidee nicht
überzeugt sind. Gerne wird hier dann ein Ausspruch von Cicero zitiert,
der sagte, dass es eine Errungenschaft und keine Verfehlung sei, für
seine Opposition gegen den Mainstream verachtet zu werden. Die stoischen
Tugenden stellen sich dieser Interpretation nach als
Charaktereigenschaften heraus, die genau in Opposition zu traditionell
“weiblich” konnotierten Eigenschaften stehen.
Der stoische Manager ist also emotional distanziert, behält immer
einen kühlen Kopf, ist unbeirrbar und bedingungslos von sich selbst
überzeugt. Damit erfüllt er ein sehr stereotypes Bild von Männlichkeit,
was auch nicht unbedingt überrascht, wenn man bedenkt, dass
Unternehmensführung immer noch ein sehr männlich dominiertes Feld ist.
Das erklärt dann auch, warum die Stoa als Lifehack für männliche Geschäftseigentümer zwischen 30 und 60 vermarktet wird.
Eine weitere mögliche Antwort würde auf eine historische Parallele
zurückgreifen. Denn bereits in Rom um die Zeitenwende gab es eine
gesellschaftliche Elite, die sich für die Stoa begeistert hat. Vom 1.
Jh. v.u.Z. bis ins 4. Jh. u.Z. gab es immer wieder politisch
einflussreiche Männer mit einem Interesse für die Stoa: Cicero, Konsul
in der späten Republik, Seneca, Prinzenerzieher von Nero und eine Weile
de-facto-Herrscher des Römischen Reichs, der bereits erwähnte Marcus
Aurelius. Dazwischen gab es andere Kaiser, die stoische Philosophen zu
ihren Beratern machten. In beiden Fällen gibt es also eine Weltmacht,
deren Elite sich zur Stoa hingezogen fühlt. Und in beiden Fällen
verschwindet der metaphysische Hintergrund weitestgehend. In der
römischen Stoa werden Physik und Logik kaum noch diskutiert. Senecas
“Briefe an Lucilius” lesen sich teilweise wie eine Lifestyle-Kolumne.
Klar ist, dass solche Parallelen mit Vorsicht zu genießen sind, und
ihre Erklärungskraft zumindest fragwürdig ist. Es ist dennoch
interessant, dass in beiden Fällen Menschen, die entweder direkt an den
Schaltstellen der Macht sitzen oder über immense Vermögen sowie
technologische Infrastruktur verfügen, die das Zusammenleben gestaltet
(Twitter), einer philosophischen Strömung anhängen, die eine gewisse
Passivität gegenüber einem vollständig determinierten Weltgeschehen
predigt. Einige andere Texte, die dem Phänomen des
Silicon-Valley-Stoizismus ebenfalls auf den Grund gehen wollen, machen
darauf aufmerksam, dass damit eine Affirmation der gesellschaftlichen
Verhältnisse verbunden ist. Wenn alles, was geschieht, so und nicht
anders geschehen muss, dann ist der eigene Reichtum und Einfluss
moralisch auch nicht anfechtbar.
Sicherlich gehört noch mehr dazu, aber es ist nicht unplausibel, dass
ein Teil der Erklärung für die Popularität der Stoa damit zu tun hat,
dass die Reichen und Mächtigen ihre eigene Position und das soziale
Gefüge, das diese Position erst möglich macht, als Resultat eines
vorbestimmten Geschehens rationalisieren. Zwar betont Ryan Holiday, dass
der Stoiker seine soziale Verantwortung akzeptieren solle, aber es ist
fraglich, wie viel davon bei seinen Jüngern ankommt. Die Popularität der
Marke Stoa ist jedenfalls ungebrochen. Für diejenigen, denen die
Kultivierung der stoischen Gelassenheit zu anstrengend ist, gibt es
sogar eine Liste mit 7 Prompts für ChatGPT, die eine Abkürzung zur Ataraxía verspricht.
Nota. - Das ist, wie das Mordsmannsbild, immer noch ein Selbstbild, das Männern seit Jahrtausenden von Frauen anerzogen wird. Das ließe sich ändern - aber nur, wenn Jungens nicht weiterhin, und in zunehmendem Maß, Frauenhänden überlassen blieben.
JE