Sonntag, 30. April 2023

Stammt die Musik aus dem Sprechen?

 F. Hodler 
aus Die Presse, Wien, 28.04.2023                                                  zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien 

Asiaten haben mehr Gefühl für Melodie, wir für Rhythmus
Wer eine „tonale“ Sprache spricht, unterscheidet Tonhöhen besser.

Wer es mit Chinesisch versucht, muss höllisch aufpassen: Wenn man über ein Pferd schimpft, kann man leicht jemandes Mutter beleidigen. Für beides steht die Silbe „ma“, der Unterschied ist nur die Tonhöhe. Solche Feinheiten gibt es in mehr als der Hälfte aller Sprachen. Sie konzentrieren sich in Asien und Afrika. „Tonal“ sind zum Beispiel Thailändisch, Vietnamesisch, Burmesisch, Panjabi oder Zulu. Haben ihre Sprecher ein besseres Gefühl für Melodien? Die bisherigen Studien konnten die Vermutung nicht klar belegen: Meist wurden nur zwei Sprachen verglichen, und hier mögen viele kulturelle Faktoren mithineinspielen.

Aber nun hat Courtney Hilton von Yale mit einem Team webbasierte Daten von fast einer halben Million Menschen gesammelt, die 54 Sprachen abdecken (Current Biology, 26. 4.). Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Sprecher sämtlicher inkludierten tonalen Sprachen schafften es im Schnitt besser, Melodien auseinanderzuhalten, die sich nur minimal unterscheiden.

Überraschend war: Umgekehrt konnten die Sprecher sämtlicher vertretenen nicht tonalen Sprachen (wie Deutsch oder Englisch) im Schnitt besser erkennen, ob ein Schlaginstrument einen Song im Takt begleitet oder nicht. Die Erklärung der Forscher dafür: Weil Chinesen und Co. sich in der Kommunikation so auf die Tonhöhe konzentrieren müssen, achten sie weniger auf den Rhythmus.

Die respektiven Vorteile machen jeweils die Hälfte des Effekts aus, für den sonst ein regelmäßiger Musikunterricht sorgen könnte. Das belegt nun: Es geht um die Sprachen, nicht um Kulturkreis, Bildung oder Einkommen.
(gau)


Donnerstag, 27. April 2023

Der Einfluss der Muttersprache auf die Musikalität.


aus scinexx.de                                                                                                 zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien     

Wie Muttersprache unsere Musik-Fähigkeiten beeinflusst

Rhythmusgefühl und melodisches Gehör hängen von der Art der Muttersprache ab


Auf die Sprache kommt es an: Ob wir den richtigen Ton treffen oder den Takt halten können, hängt überraschend stark von unserer Muttersprache ab, wie eine weltweite Studie bestätigt. Demnach fördern nicht-tonale Sprachen wie das Deutsche oder Englische ein gutes Rhythmusgefühl. Tonale Sprachen wie Chinesisch und Yoruba bringen dagegen ein gutes Gehör für Tonhöhen und Melodien mit sich. Der Effekt der Muttersprache ist dabei ebenso groß wie der einer musikalischen Ausbildung, wie Forschende in „Current Biology“ berichten.

Unsere Muttersprache prägt uns vom Mutterleib an: Schon im letzten Schwangerschaftsdrit-tel hört das Ungeborene die charakteristische Sprachemelodie seiner Mutter, als Neugebore-nes spiegeln seine Schreie dann diese typischen Muster wider. Dabei ist auch erkennbar, ob das Kind in eine Familie mit tonaler oder nicht-tonaler Sprache hineingeboren wurde.


Übersicht über tonale und nicht-tonale Sprachen. 
Als pitch-accented (tonakzentuiert) werden Sprachen bezeichnet, bei denen Wortsilben nicht nur durch Lautstärke, sondern auch durch Tonhöhe betont werden. Sie bilden eine Zwischenform.

Bei nicht-tonalen Sprachen wie dem Deutschen ist die Bedeutung der Wörter unabhängig von ihrer Betonung – wir verstehen das Wort „Mutter“, egal ob es hoch, tief, mit auf- oder absteigender Tonhöhe gesprochen wird. Anders ist dies bei einigen asiatischen und afrikanischen Sprachen: Bei ihnen verändert sich je nach Aussprache die Bedeutung der Wörter. Im chinesischen Mandarin kann „ma“ je nach Wortmelodie beispielsweise Mutter oder Pferd bedeuten.

Prägt Sprache unseren Sinn für Musik?

Schon länger vermuten Wissenschaftler, dass diese von frühester Kindheit eingeübten Sprachmuster auch unseren Sinn für Musik beeinflussen. „Die lebenslange Erfahrung im Sprechen und Hören von Sprache könnte unsere akustische Wahrnehmung auf eine Weise prägen, die auch auf andere Bereiche wie die Musik übertragen wird“, erklären Jingxuan Liu von der Columbia University in New York und ihre Kollegen. Tatsächlich lieferten einige Studien Hinweise darauf, dass eine tonale Muttersprache den Sinn für Melodien stärken.

Das Problem jedoch: „Diese Studien verglichen immer nur zwei Sprachen miteinander, meist Englisch mit Mandarin oder kantonesisch“, erklärt Liu. Aber bei Testpersonen aus so unterschiedlichen Kulturkreisen spielen neben der Sprache auch viele andere Einflussfaktoren eine Rolle. „Wenn man nur zwei solcher Gruppen vergleicht, ist es daher sehr schwer, diese kulturellen Einflüsse von den sprachlichen zu trennen“, so Liu. Hinzu kommt, dass andere Studien keinen Zusammenhang von Sprachart und melodischem Gehör finden konnten.

Hörtests für rund 500.000 Menschen

Deshalb haben Liu und ihr Team diesen möglichen Zusammenhang noch einmal genauer untersucht und ihn um eine weitere Fragestellung ergänzt: Sie wollten auch wissen, inwieweit die Muttersprache das Rhythmusgefühl beeinflusst. Dafür verglichen sie mithilfe einer Online-Studie die musikalischen Fähigkeiten von rund 500.000 Menschen in 203 Ländern. Unter den 54 von diesen Testpersonen gesprochenen Muttersprachen waren 19 tonale und 29 nicht-tonale Sprachen.

Alle Testpersonen erhielten drei Typen von Höraufgaben in jeweils unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden: Sie sollten erkennen, ob sich zwei sehr ähnliche Melodien unterscheiden, ob ein Beat im Takt zum Lied spielt und ob eine Stimme in der richtigen Tonhöhe zur Begleitung singt.

Tonale Sprachen erkennen Melodien besser

Das Ergebnis: Menschen mit einer tonalen Muttersprache scheinen tatsächlich ein besser ausgeprägtes melodisches Gehör zu haben. „Die Muttersprachler unserer 19 tonalen Sprachen waren besser darin, zwischen den ähnlichen Melodien zu unterscheiden“, berichtet Liu. Sie schnitten bei diesen Tests durchschnittlich um rund 22 Prozent besser ab als Menschen mit nicht-tonaler Muttersprache. Diese Unterschiede waren zudem unabhängig von Kulturkreis, Bildung oder anderen Faktoren.

Überraschend waren dagegen die Resultate der beiden anderen Tests. Anders als erwartet brachten die tonalen Sprachen keine Vorteile beim Hören „schiefer“ Töne einer Singstimme. Dies widerspricht der Annahme, dass die Tonhöhen-Modulationen beispielsweise im Chinesischen auch das Gehör in Bezug auf die richtige Tonhöhe und damit Frequenz schulen. „In Bezug auf diese Fähigkeit scheinen tonale Sprachen nur minimalen bis keinen Einfluss zu haben“, so die Forschenden.

Defizite im Taktgefühl

Die zweite Überraschung: Der Vorteil der tonalen Sprachen beim melodischen Gehör wird durch Nachteile beim Rhythmusgefühl erkauft. „Testpersonen mit tonalen Sprachen schnitten bei den Rhythmustests deutlich schlechter ab als Muttersprachler nicht-tonaler Sprache“, berichten Liu und ihr Team. Der Unterschied lag auch hier bei rund 22 Prozent und war damit ziemlich deutlich. Auch hierbei spielten Kulturkreis und andere Einflussfaktoren nur eine geringe Rolle.

Warum Menschen mit tonaler Sprache ein schlechteres Taktgefühl haben als beispielsweise Deutsch oder Englisch sprechende Menschen ist noch nicht vollständig geklärt. Die Wissenschaftler vermuten aber, dass dies auf unterschiedliche Prioritäten bei der Sprachwahrnehmung zurückgeht: Weil der Rhythmus für die tonalen Sprachen weniger wichtig ist als die Tonhöhe, wird dieser weniger beachtet. Dadurch ist auch das Gehirn weniger gut auf darauf trainiert.

Zusammengenommen stützen diese Ergebnisse die Vermutung, dass unsere Muttersprache auch allgemeine Aspekte unserer akustischen Wahrnehmung prägt. Je nach Muttersprache verdanken wir ihr ein gutes melodisches Gehör oder ein gutes Taktgefühl – zumindest im Durchschnitt. Das heißt nicht, dass es nicht auch unter Deutschsprachigen völlig „taktblinde“ Menschen gibt oder Menschen mit nahezu perfektem Melodiegehör. Zudem kann musikalisches Training einige Defizite ausgleichen.

Wie genau die Spracherfahrungen unsere Wahrnehmung prägen und welche neuronalen Mechanismen dahinter stehen, ist noch offen. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, wie Liu und ihre Kollegen betonen. (Current Biology, 2023; doi: 10.1016/j.cub.2023.03.067)

Nota. - Eine Besonderheit im Deutschen ist, dass hier der tonale Akzent zwar nicht die Bedeutung einer Vokabel, wohl aber bei einer komplexen Syntax die Stellung eines Wort in der Sinnhierarchie des ganzen Satzes verändern kann (Prosodie).
JE

Meldungen des Unbewussten.

 bing                                                  zuJochen Ebmeiers Realien zu Philosophierungen  
aus spektrum.de, 25. 4. 2023

BEWUSSTSEIN

»Ein Großteil unseres Verhaltens entsteht unbewusst«
Der Hirnforscher Joseph LeDoux erzählt von seinen merkwürdigsten Fällen. Was er aus ihnen gelernt hat: »Wir erfinden unbewusst Geschichten, um unser Verhalten zu erklären.«

Joseph LeDoux ist ein Pionier der Hirnforschung. Seine Vorfahren stammten aus dem französischsprachigen Kanada und waren im 18. Jahrhundert in den US-Bundesstaat Louisiana ausgewandert. Dort wurde LeDoux 1949 geboren. Seine Eltern betrieben eine Metzgerei, und der kleine Joseph half mit, Kugeln aus geschlachteten Tieren zu entfernen. So hielt er schon als Kind das erste Mal ein Gehirn in den Händen. Doch bis er in der Hirnforschung arbeitete, sollte noch einige Zeit vergehen: Zunächst studiert er Marketing. 

Er ist Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der New York University und Direktor des Emotional Brain Institute, einer gemeinsamen Initiative der New York University und der New York State University. Er erforscht die neuronalen Grundlagen der Angst bei Tier und Mensch. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Bewusstsein. Die ersten vier Milliarden Jahre«.

Spektrum.de: Wie gelangt jemand mit einem Abschluss in Marketing in die Neurowissen-schaften?

Joseph LeDoux: Ich wollte schon als Teenager unbedingt studieren. Meine Eltern erlaubten mir das, unter der Bedingung, dass ich zurückkomme und Geschäftsmann oder Banker werde. Deshalb habe ich Marketing studiert. Ich schämte mich ein bisschen für das Fach, denn es passte nicht zum damaligen Hippie-Zeitgeist. Aber ich interessierte mich sehr für die Psychologie dahinter. In meinem Abschlussjahr kam ich mit jemandem in Kontakt, der Rattenhirne untersuchte. Ich durfte eine Zeit lang in seinem Labor arbeiten, und wir haben gemeinsam einige Studien veröffentlicht. Diese Art von Arbeit wollte ich dann fortsetzen. Nach meinem Masterabschluss bewarb ich mich dazu an einigen Universitäten und wurde an der Stony Brook University in New York angenommen. Dort traf ich meinen Doktor-vater Michael »Mike« Gazzaniga, der mit Split-Brain-Patienten arbeitete. Diese Forschung bot einen faszinierenden und relativ einfachen Weg, in die Hirnforschung einzusteigen. Mitte der 1970er Jahre wusste man noch nicht viel über das Gehirn, so dass man kaum etwas über Biochemie, Neurophysiologie oder Genetik wissen musste.

Was genau sind Split-Brain-Patienten?

Bei den Betroffenen ist die zentrale Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften operativ durchtrennt worden [um epileptische Anfälle zu verhindern, die Red]. Die beiden Hemi-sphären sind zwar noch vorhanden, können aber nicht mehr miteinander kommunizieren. Eine solche Operation wird bei einer extremen Form der Epilepsie durchgeführt, bei der keine andere Behandlung mehr hilft.

Hat eine solche Operation nicht gravierende Folgen für die Patienten?

Alles in allem ist es nicht so schlimm. In der Regel ist ihr Leben nach der Operation besser, weil die epileptischen Anfälle stark nachlassen. Aber natürlich hat es Folgen. Die beiden Hirnhälften haben unterschiedliche Funktionen, sie sind jeweils für die gegenüberliegende Körperhälfte zuständig. Die linke Hemisphäre sieht alles auf der rechten Seite des Gesichtsfelds und steuert die rechte Hand sowie das Sprechen. Als wir einem Patienten einen Apfel zu seiner Linken zeigten, konnte die linke Hemisphäre ihn also nicht sehen. Und da nur sie allein fürs Sprechen zuständig ist, sagte der Patient auch, er sehe nichts. Die rechte Hemisphäre sah den Apfel jedoch, wie wir daran erkennen konnten, dass die linke Hand den Apfel ergriff. Die rechte Hirnhälfte war wie ein schlauer Schimpanse: Sie konnte auf den Apfel reagieren, aber nicht über ihn sprechen.

»Wir erfinden unbewusst eine Geschichte, um unser Verhalten zu erklären«

Was war Ihre interessanteste Erkenntnis aus dieser Zeit?


Einmal hatten wir einen ungewöhnlichen Patienten: Wie alle anderen konnte er dank seiner linken Hemisphäre Sprache verarbeiten und sprechen. Aber er war außerdem noch in der Lage, mit seiner rechten Hemisphäre zu lesen. So konnten wir auch mit dieser Hälfte kommunizieren. Wir projizierten Fragen zu seiner Linken und ließen ihn die Antwort mit Scrabble-Buchstaben mit der linken Hand buchstabieren. Auf diese Weise teilte er uns mit, dass er Paul hieß und Rennfahrer werden wollte. Beim Kommunizieren mit seiner linken Hirnhälfte sagte er zwar ebenfalls, dass er Paul hieß, gab aber an, Architekt werden zu wollen. Ich möchte aus dieser Beobachtung nicht zu viel folgern, da es sich nur um einen Fall handelte. Aber die Vermutung wäre, dass diese Person zwei Bewusstsein hatte. Beide waren Paul, hatten aber unterschiedliche Ziele im Leben.


Das klingt spektakulär. Haben Sie mit dem Patienten noch weiter untersucht?

Ja, ein weiteres Experiment hatte großen Einfluss auf meine späteren Ideen. Wir projizierten ein Bild einer Hühnerklaue in sein rechtes Blickfeld und ein Bild einer Schneelandschaft in das linke. Zusätzlich hatten wir Bilder vor ihm platziert und ihn gebeten, auf ähnliche Bilder zu zeigen. Mit seiner rechten Hand zeigte er auf eine Schaufel und mit der linken auf ein Huhn. Er sagte, er habe das Huhn wegen der Hühnerklaue gewählt und die Schaufel, weil man sie zum Reinigen des Hühnerstalls braucht. In Wirklichkeit hatte seine linke Gehirnhälfte nur die Hühnerklaue gesehen und nicht die Schneelandschaft, deretwegen seine rechte Hirnhälfte die Schaufel wählte. Um das dennoch rational zu erklären, erfand die linke Hirnhälfte eine Geschichte, die die Schaufel mit dem Huhn in Verbindung brachte. Wir haben dies dann auch auf andere Weise getestet. Als wir ihn beispielsweise über die rechte Hemi-sphäre aufforderten, aufrecht zu stehen, erklärte er über die linke Hemisphäre, sich kurz die Beine vertreten zu wollen. Jedes Mal erfand die linke Hemisphäre eine Geschichte, um das Verhalten zu erklären.

Warum tut sie das?

Unsere Hypothese war, dass es um das Gefühl der Kontrolle geht. Wir alle glauben, einen freien Willen zu haben und eine psychologische Einheit zu sein. Aber Pauls Hirnhälften bildeten keine Einheit mehr, und seine linke Hand tat Dinge, die von der linken Hemi-sphäre nicht geplant waren. Um das Gefühl von Einheit und Kontrolle zurückzuerlangen, dachte sich die linke Hemisphäre eine Geschichte aus. Am selben Abend sprachen Mike Gazzaniga und ich über dieses Thema. Er meinte, dass das, was wir bei Paul gesehen hatten, vielleicht uns alle betrifft. Ein Großteil unseres Verhaltens entsteht unbewusst. Das stellt den freien Willen in Frage; deshalb erfinden wir unbewusst eine Geschichte, um unser Verhalten zu erklären, und glauben dann selbst daran. Das Bewusstsein interpretiert unser unbewusst entstandenes Verhalten. Diese Vorstellung hatte einen großen Einfluss auf mich. Seitdem denke ich, dass Emotionen dazu da sind, jene unbewussten Prozesse zu deuten, die unser Verhalten steuern.

Der Schritt zu den Emotionen war also getan?

Richtig. Eines Abends sagte Mike, dass es nicht so viel neurowissenschaftliche Forschung zu Emotionen gäbe. Von da an wusste ich, dass ich Emotionen erforschen wollte. Aber zu dieser Zeit gab es nicht die nötige Technik, um das auch beim Menschen zu tun. Also begann ich wieder, Ratten zu untersuchen. Ich landete im Labor von Donald Reis, der damals über so ziemlich jede mögliche neurowissenschaftliche Technik verfügte und mir die Freiheit ließ zu tun, was ich wollte. Ich erforschte Ratten mittels der pawlowschen Angstkonditionierung. Dabei bekommen die Tiere immer dann einen Elektroschock, wenn sie einen bestimmten Ton hören, und schließlich erstarren sie bereits, wenn sie den Ton hören. Ich habe im Gehirn der Ratten bestimmte Teile weggeschnitten, um herauszufinden, wie sich das auf die beschriebene Reaktion auswirkt.

»Die Amygdala ist verantwortlich für körperliche Angstreaktionen, 
aber nicht für das Gefühl der Angst«

So sind Sie auf die Amygdala gestoßen?

Genau. Damals interessierte mich besonders der Weg, den der Ton im Rattenhirn nimmt, um eine Reaktion wie das Erstarren auszulösen. Neue Techniken ermöglichten es uns, diesen Weg durch das Gehirn zu verfolgen. Auf diese Weise stießen wir unter anderem auf die Amygdala. Obwohl schon seit Jahrzehnten bekannt war, dass die Amygdala eine Rolle bei der Angst spielt, war sie bisher kaum erforscht. Als wir die Amygdala entfernten, stellte sich heraus, dass sie für die körperlichen Angstreaktionen verantwortlich war: für Kampf-, Flucht- und Erstarrungsreaktionen sowie für den Anstieg von Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz

Und auch für das Gefühl von Angst?

Nein, das ist ein verbreiteter Irrglaube. Die Amygdala ist ein Gefahrendetektor, der nur unbewusste körperliche und physiologische Reaktionen steuert. Diese Reaktionen dienen dem Überleben und gehen auf die allerersten Zellen auf der Erde zurück. Auch Bakterien bewegen sich bei Gefahr weg. Sie brauchen dafür keine Angst zu spüren. Aber da dieses Gefühl in der Regel gleichzeitig mit den körperlichen und physiologischen Reaktionen auftritt, denken wir fälschlicherweise, dass unsere Angst die Ursache für diese Reaktionen ist.

Woher kommt denn dann das bewusste Angstgefühl?

Viele meinen, das Bewusstsein befinde sich im visuellen oder auditiven Kortex. Das sind die Teile des Gehirns, die Seh- und Hörreize verarbeiten. Aber meiner Meinung nach müssen die Reize auch im präfrontalen Kortex interpretiert werden. Dieser Teil des Gehirns ist stark an kognitiven und emotionalen Funktionen beteiligt. Emotionen sind meiner Meinung nach kognitive Interpretationen der Situation, in der man sich befindet. Angst zum Beispiel ist die Erkenntnis, dass man sich in Gefahr befindet. Dieses Gefühl entsteht aus einer Vielzahl von Informationen. Angenommen, vor Ihnen befindet sich eine Schlange. Dann brauchen Sie Ihre Wahrnehmung, um die Schlange zu sehen. Sie brauchen Ihr Gedächtnis, um zu wissen, dass manche Schlangen gefährlich sind, und um sich daran zu erinnern, dass Ihre Eltern Sie vor Schlangen gewarnt haben. Ihre Amygdala versetzt Sie in einen Zustand der Reaktionsbereitschaft, fixiert Ihre Aufmerksamkeit auf die Schlange und aktiviert körperliche und physiologische Reaktionen. Ich glaube, all diese Informationen laufen im Arbeitsgedächtnis zusammen und verdichten sich dort zu einem Gefühl der Angst.

Warum denken dann alle, dass die Amygdala für Angstzustände verantwortlich ist?

Daran bin ich zum Teil selbst schuld. Ich habe die Amygdala als Ort der »impliziten Angst« bezeichnet. Damit wollte ich eigentlich den körperlichen und physiologischen Reaktionen einen Namen geben. Aber viele Leute dachten, ich meinte damit das bewusste Gefühl der Angst, die »explizite Angst«. Zunächst war mir das egal, aber nach einer Weile dachte ich: Das ist falsch. Ich musste meinen Standpunkt klarstellen, nicht nur für mich selbst, sondern vor allem, weil es sich auf die Behandlung von Ängsten auswirken kann. Medikamente, die auf die Amygdala einwirken, sind eher geeignet, körperliche und physiologische Reaktionen zu verändern, als die Angstzustände selbst zu lindern. Das ist zwar auch wichtig, aber es reicht nicht aus. Die irrige Vorstellung, dass wir alle Angstprobleme mit einer Pille lösen können, die auf die Amygdala wirkt, rührt daher, dass wir implizite und explizite Angst verwechseln. Wenn man ein Angstmedikament an Ratten testet und sie daraufhin weniger erstarren, weiß man nur, dass das Medikament ihre körperlichen Reaktionen beeinflusst. Man weiß nichts über etwaige Angstgefühle.

Lassen Sie uns über das Bewusstsein von Tieren sprechen. Ich habe gelesen, dass Ihre Ansichten zu diesem Thema oft missverstanden werden.

Viele Leute meinen, ich würde sagen, dass Tiere keine Gefühle und kein Bewusstsein haben. Aber das stimmt nicht. Ich sage nur, dass wir das nicht erforschen können. Wenn ein Hund von einem Auto angefahren wird und heult und sich windet, sind das körperliche, reflexartige Reaktionen. Wir projizieren darauf ein Schmerzgefühl, aber das können wir von außen nicht feststellen. Ich sage nicht, dass sie kein Bewusstsein haben, sondern dass wir darüber nur spekulieren können.

Bedeutet das nicht auch, dass ich nur spekulieren kann, dass Sie ein Bewusstsein haben?

Das könnte man so sagen. Aber jeder Mensch hat ein menschliches Gehirn. Wenn ich ein Bewusstsein habe, haben Sie es wahrscheinlich auch. Ein Tier hat das nicht, es verarbeitet Informationen anders als wir. Es gibt natürlich Ähnlichkeiten. Beispielsweise haben wir Menschen einige Bereiche im präfrontalen Kortex mit allen Säugetieren gemeinsam, andere wiederum nur mit Primaten. Doch es gibt dort einen Bereich, den wir offenbar nur mit anderen Menschen teilen. Vielleicht sogar mit Menschenaffen, aber das wissen wir nicht, da Hirnforschung an Menschenaffen nur begrenzt möglich ist. Wenn wir wüssten, was diese Hirnregionen zu unserem Bewusstsein beitragen, könnten wir daraus auf das Bewusstsein anderer Tiere rückschließen.

Abgesehen von der Wissenschaft: Glauben Sie, dass Tiere Gefühle haben?

Absolut! Man muss nicht immer durch die wissenschaftliche Brille gucken. Ich habe selbst Katzen. Wenn ich sie streichle und sie schnurren, gehe ich davon aus, dass sie glücklich sind.

Das heißt, dass Sie zwar daran glauben, aber als Wissenschaftler können Sie es nicht wissen?

In der Tat, wir wissen es nicht. Genau wie beim freien Willen. Ich glaube daran, dass wir einen freien Willen haben, ich schreibe auch in meinem neuen Buch darüber. Aber sicher sein kann ich mir nicht. Wenn man sich mit so komplexen Themen beschäftigt, muss man bereit sein zu sagen, dass man etwas nicht weiß. Ich habe meine Vorstellungen. Ob sie richtig sind, wird die Zeit zeigen.


Nota. - Man wird selten fehlgehen, wenn man das, was ein empirischer Psychologe mit Bewusstsein bezeichnet, als das versteht, was ein Philosoph Reflexion nennen würde. Das Wort kommt in beiden Disziplinen vor, und natürlich steht die sachliche Forschung dem umgangssprachlichen Ausdruck näher als die abstrakte Spekulation. Das ist auch gar kein Problem, wenn sich beide nicht ungebeten in die Angelegenheiten der jeweils andern ein-mischt, wie es die Hirnforschung zeitweilig getan hat. Die Etikette für die Begriffe sind austauschbar, solange man nicht die Begriffe selber vermengt.

Die Übergriffe der Neurophysiologen hatten die Philosophen allerdings selbst erst möglich gemacht. Seit über hundert Jahren machen sie aus dem Bewusstsein einen Fetisch, der mehr vertuscht als er erhellt, denn so freigiebig sie ihn im Munde führten, so wenig machten sie ihn doch zum Gegenstand der Reflexion, sondern vermengten ihn mit einem naturalisti-schen Begriff vom Ich, der in der Tat mehr in die Psychologie gehört als in die Philosophie.

Am Anfang der Ich-Philosophie stand Kant. Bewusstsein ist bei ihm gar kein eignes The-ma. Seine kritische Aufmerksamkeit galt der Vernunft, und das Bewusstsein kommt nur kursorisch vor als deren Ort und Stelle. Genauer gesagt: immer nur als solche. Bewusstsein wird ihm immer nur als vernünftiges Bewusstsein zum Thema, ebenso wie ein Ich nur vor-kommt als der vernünftige Anteil an den lebenden Personen. 

Zugespitzt wurde dies von Fichte, der allenthalben als der Ich-Philosoph par excellence angesehen wird. Der aber nannte das Ich - das 'transzendentale', wohlbemerkt - ausdrück-lich ein Noumenon: ein bloßes Gedankending, das in Raum und Zeit gar nicht angetroffen wird und überhaupt nur dazu dient, den Gang der Vernunft zu erklären. Und wenn irgend-wo von Bewusstsein die Rede ist, so nur, um das Ich zu erklären: als... deren Ort und Stelle. Damit ist in philosophischer Hinsicht das Thema Bewusstsein erschöpft.

*

Doch ganz ohne Berührung mit dem Transzendentalphilosophen Fichte kommt auch Joseph LeDoux nicht aus. Was sie empirische Forschung Bewusstsein nennt, käme bei den Philosophen unter dem Etikett Reflexion vor, schrieb ich oben.

Kant hatte nur zwischen Anschauung und Begriff unterschieden. Anschauung war bei ihm synonym mit Sinnlichkeit. Zur Anschauung müsse der Begriff kommen, damit Erfahrung möglich würde, und die sei die Quelle, aus der all unser reales Wissen stammt.

Das Gefühl als solches kommt bei Kant nicht vor. Für Fichte ist das Gefühl "faktisch das erste Ursprüngliche". Ohne es 'gibt es' gar nichts. Doch ein Etwas 'gibt es' nicht. Es gibt immer nur dieses oder jenes. Damit aus dem Gefühl in mir ein Ding oder Sachverhalt außer mir werden kann, muss es bestimmt werden: als dieses oder jenes. Ich muss vom Gefühl Abstand nehmen, es aus mir heraus setzen, um es anschauen zu können.

Der springende Punkt: Im Fühlen bin ich passiv, mein System der Sinnlichkeit bleibt rein (er)leidend, im Anschauen aber werde ich tätig. Indem ich mein Gefühl anschauend von mir abscheide, entsteht mir eine gegenständlich Welt; indem ich mich anschauend von meinem Gefühl abscheide, entstehe ich mir. Ein Ich und eine gegenständlich Welt sind nur gemein-sam möglich; nicht erst die eine, dann die andere, oder gar dieses aus jenem oder jenes aus dieser, sondern beide zugleich und auf einmal in demselben Akt, der Anschauung. Ab hier kann ich tun, was mich in Sonderheit zu einem Ich macht: Ich kann urteilen.

*

Es sollte mich wundern, wenn Joseph LeDoux Fichte gelesen hätte. Er hat akribische For-schung betrieben. Doch so soll es sein: Was die Transzendentalphilosophie spekulativ im abstrakten Modell entworfen hat, muss sich auf die eine oder andere Weisen in den Daten der Forscher wiederfinden lassen, wenn nicht heute, dann morgen. Wenn die Daten aber etwas ganz anderes oder gar das Gegenteil anzudeuten schienen, müsste die Transzenden-talphilosophie nochmal nachdenken.
JE


Dienstag, 25. April 2023

Schöne Nachhaltigkeit.


aus welt.de, 25. 4. 2023             Landschaft mit Windkraftästhetik: Tulpenfelder von Monet, 1886, und von heute     zu Geschmackssachen

NACHHALTIGE SCHÖNHEIT
Die Symbole des Fortschritts gehören zur schönen Landschaft dazu


von Richard Kämmerlings

Erst wenn wir Natur nicht als Zweck und Ressource wahrnehmen, wird sie zur Landschaft. Das heißt aber nicht, dass die Spuren der Zivilisation darin keinen Platz hätten – im Gegen-teil. Die Utopie der Landschaft lebt gerade von ihren Widersprüchen. 

Die Landschaft wurde an einem Tag Ende April erfunden. Im Jahre 1336 macht sich der italienische Dichter Francesco Petrarca daran, den Mont Ventoux zu besteigen, den er in seinen in Avignon verbrachten Kindheitstagen stets vor Augen gehabt hatte. Der Aufstieg ist äußerst mühsam, und als die Wanderer endlich oben angelangt sind und die Wolken unter ihnen liegen, ist Petrarca so vom Anblick überwältigt, dass es ihm die Sprache ver-schlägt.

Auf die Idee, auf einen Berg zu kraxeln, einfach nur um von oben runterzuschauen und die Aussicht zu genießen, war bis dahin niemand gekommen. Petrarca gilt seither als erster Bergsteiger und als Pionier eines neuen, kontemplativen, ästhetischen Verhältnisses zur Natur, als Erfinder der Landschaft.

Der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt hat Petrarcas Gipfeltour in seinem Klassiker „Die Kultur der Renaissance in Italien“ von 1860 einen prominenten Platz zugestanden: „Die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit“ lautet das Kapitel, in dem es über Petrarca heißt, er habe „die malerische Bedeutung einer Landschaft von der Nutzbarkeit“ zu trennen gewusst. Landschaft ist nicht einfach nur Natur, irgendwie eine mehr oder weniger beliebige Addition von Feldern, Wäldern, Bergen, Tälern und Flüssen, sondern die subjektive Wahrnehmung einer Ganzheit.

Mit der berühmten Formulierung Kants ist diese gekennzeichnet durch „interesseloses Wohlgefallen“ – woraus sich ergibt, dass jeder praktische, professionelle, forschende Blick die Landschaft verfehlt. Der Bauer sieht keine Landschaft, sondern Felder mit guten oder weniger guten Böden, der Rheinschiffer keine Flusslandschaft, sondern einen Transportweg mit einem bestimmten Wasserstand. Zugespitzt gesagt: Wer als Nutznießer oder auch Wissenschaftler schaut, der sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Wer eine Landschaft aber als solche wahrnimmt und nicht einfach nur Gelände, Ressourcen oder Hindernisse sieht, fällt automatisch auch ein ästhetisches Urteil: „Das ist schön.“ Das gilt paradoxerweise auch und gerade dann, wenn diese Landschaft „verschandelt“ ist: weil das, was den Gesamteindruck stört, etwa ein Windrad oder ein Funkmast, einen ästhetischen Blick auf Ganzheit voraussetzt. Wenn man auf der Autobahn durch manche Gegenden in Brandenburg fährt, könnte man meinen, dass manche Landschaften überhaupt erst durch ihre extensive Windradbewirtschaftung in den Blick geraten.

Für die Entstehung des modernen Begriffs von Landschaft war aber mehr notwendig als nur die müßiggängerische Stimmung von Dichtern oder Malern. Denn vor der Industrialisierung gab viel mehr ungenutzte, intakte Natur (auch wenn jede Landschaft immer schon gestaltete Kulturlandschaft ist und unberührte Natur ein Mythos). Warum also kommt Landschaft – in der Kunst etwa – gerade in einer Epoche auf, als der Mensch in Mitteleuropa die Natur immer mehr und in großem Stil nutzbar machte und ihr gerade nicht frei und „interesselos“ begegnete?


Das große Zeitalter der Landschaftskunst – von der niederländischen Malerei des Barock bis zur Romantik – lief parallel zu ihrer Unterwerfung unter den menschlichen Erfindergeist: durch die Gewinnung von Bodenschätzen im Bergbau, der Erschließung des Raums durch Kanalprojekte und einen Ausbau des Straßennetzes, den es in Europa in dieser Dimension zuletzt im antiken Rom gegeben hatte.

Als Petrarca auf den Mont Ventoux stürmte

Der Philosoph Joachim Ritter hat in einem Aufsatz von 1963 mit dem Titel „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“veine folgenreiche These aufgestellt: Landschaft ersetze in der Neuzeit das, was früher der geschlossene Kosmos antiker oder christlicher Weltbilder gewesen sei. Sie sei eine Art Kompensation für die Entzweiung von der Natur, die der Mensch in der Moderne notwendigerweise erleiden müsse. Als Preis für die Befreiung aus den unmittelbaren Naturzusammenhängen, also eines Daseins als Bauer, Hirte oder Fischer, das ganz im Einklang mit und in Abhängigkeit von der Natur steht, ist für den städtischen, zweckrationalen Menschen der Neuzeit die Natur keine Ganzheit mehr, in die er fraglos einbezogen ist, im Guten wie im Schlechten.

Interessanterweise nimmt sich auch Ritter die Ventoux-Besteigung von Petrarca vor, aber er deutet sie anders als Burckhardt. Denn warum beschreibt der Dichter die Schönheit des Blicks vom Gipfel nicht, den er mühsam als vermeintlich Erster bestiegen hat? Oben angekommen liest Petrarca in den „Bekenntnissen“ des Augustinus Folgendes: „Die Menschen gehen hin und sehen staunend die Gipfel der Berge und die Fluten des Meeres ohne Grenzen, die weit dahinfließenden Ströme, den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, aber sie haben so nicht acht ihrer selbst.“ Petrarca verstummt, weil ihm klar wird, dass er in der Bewunderung von „Irdischem“ sich selbst vergisst: Der Betrachtung wirklich wert ist nur das Innere der eigenen Seele, nämlich Gott.

Bis an die Schwelle der Neuzeit richtete sich, so Ritters Argumentation, das Nachdenken des Menschen, also die „Theorie“ der philosophischen Tradition, stets auf den ganzen Kosmos der Natur, auf eine göttliche Ordnung, in der Himmel und Erde zusammengehören. Auf einen Berg wagte man sich allenfalls, weil er der Sitz von Göttern war oder ein Ort der Offenbarung. Unter den zergliedernden Blicken der modernen Naturwissenschaft – durch Fernrohre, Prismen und Mikroskope – zerfällt das Ganze in Einzelteile und wird dadurch technisch nutzbar gemacht. Mit dem neuen kopernikanischen Weltbild treten das objektive Wissen über die Natur und die alltägliche, „naive“ Erfahrung auseinander: Wir sehen immer noch die Sonne auf- und untergehen und die Sterne um uns kreisen.

Ritters Pointe ist, dass in der ästhetischen Landschaftsbetrachtung die kopernikanische Wende wieder zurückgedreht wird, für den entzweiten Menschen Himmel und Erde weiter vereint sind: „Landschaft ist die ganze Natur, sofern sie als ‚ptolemäische‘ Welt zum Dasein des Menschen gehört“, so Ritter, der sich hier auf die „Briefe über Landschaftsmalerei“ des romantischen Malers und Philosophen Carl Gustav Carus bezieht. Carus, der mit Goethe, Caspar David Friedrich und Alexander von Humboldt befreundet war, hatte Landschaftskunst als „Erdlebenbildkunst“ definiert. „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ oder „Kreidefelsen auf Rügen“ zeigen eben nicht Natur, wie sie ein Geologe oder Meteorologe sehen würde, sondern eine Landschaft, die das Subjekt in eine vormoderne Einheit zurückästhetisiert.

Der große Bereinigungsfuror

Nun hat sich zwar die Landschaftsmalerei über die impressionistische Revolution und die symbolistischen Aufladungen weiterentwickelt, aber die romantische Sehnsucht nach Wiederherstellung verlorener Einheit prägt das populäre Naturgefühl bis heute. Wenn nicht mehr in der Kunst, dann definitiv noch im Tourismus, was schon Ritter in seiner milden Polemik gegen die „Prospektlandschaft des Reisens“ kritisierte. Wer heute zum Königsstuhl nach Rügen fährt oder eine Bootsfahrt auf dem Rhein macht, hat Caspar David Friedrich oder William Turner im Hinterkopf beziehungsweise in seiner Smartphone-Mediathek.

Aber die andauernde Wirkung der Romantik ist leicht verständlich, wenn man sie ihren historischen Kern als Entschädigung und Weltbildreparatur begreift: Die Beherrschung der Natur ist gewaltig vorangeschritten. Im Festhalten an einer längst in mathematischer Abstraktheit verblichenen Ganzheit hat die Rede von Landschaft immer schon einen nostalgischen oder sogar offen konservativen Zug. Der ist unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, also etwa von der politischen oder gesellschaftlichen Frage, ob gigantische Windräder für die Energiewende wirklich auch im Allgäu massenhaft aufgestellt werden müssen. Landschaft bezieht Künstliches, Menschengemachtes, sogar Industrielles immer mit ein. Folgt man der Kompensationsthese Ritters, liegt die Leistung der Ästhetik darin, dass sie das Entzweite versöhnt und integriert, auch noch ein Sinnbild der Naturferne wie das Windrad in den humanen Horizont reintegriert.

Gelungene Landschaftsmalerei (oder auch -dichtung) ist deshalb nicht einfach ein zeitloses Idyll, das Industrieschlote, Kanalbauten, Schleusen, Zechen ausblendet, sondern sie lässt all das zum Teil der Landschaft werden. Man denke an William Turners Gemälde „Rain, Steam, Speed – The Great Western Railway“, das geradezu eine Ikone des modernen Zeitalters ist. Oder an Vincent van Goghs „Brücke von Arles“. Dass der industrielle Fortschritt von gestern den Nachgeborenen als Idylle von heute erscheint, zeigen viele Beispiele, von den Windmühlen und Schleusen bis zu den Zechentürmen im Ruhrgebiet. Auch die klassisch gewordenen Schwarzweiß-Fotografien stillgelegter Industrieanlagen von Ernst und Hilla Becher lassen sich als Landschaftsbilder lesen.

Am historischen Beginn der Landschaft steht die Entzweiung von der Natur. Diese Entzweiung hat uns am Ende des fossilen Zeitalters in eine Lage gebracht, in der wir gezwungen sind, mit riesigen Windparks der Zerstörung Einhalt zu gebieten. Ästhetik reicht als Rettendes nicht mehr. Es mag unseren gewohnten Blick irritieren, vielleicht auch die tröstliche Idylle zerstören, in der sich Outdoor-Fans und Stadtmüde immer noch illusionär einrichten konnten: im Trugbild einer unberührten, in Harmonie mit dem Menschen ewig existierenden Natur. Doch im Begriff der Landschaft steckte immer schon der Urwiderspruch, dass der Mensch nur jene Natur genießt, die er sich zugleich untertan macht.


Nota. - Er fragt, und das ist löblich, seit wann und wie die Landschaft ästhetisch wahrge-nommen wurde. Interessanter ist aber, seit wann und wie die Landschaft ästhetisch wahr-genommen wird. Und das läuft auf die Frage hinaus: Wann und wie hat sich ästhetisches Wahrnehmen aus der Verstrickung mit thematisch-utilitären Motiven entbunden und eman-zipiert?

Weil er dieser Zuspitzung ausweicht, gelingt es ihm aber nicht, beim ursprüngliche Thema zu bleiben ist, von der Natur, die entweder ein wertfreie Abstraktion ist - oder ein schwül-stiges Ideologem. Nachhaltigkeit ist nicht ästhetischer als Ganzheit oder Stickstoffgehalt. Das Ästhetische ist nicht der Trost über die vorbürgerliche verlorene Heimat, sondern die Überwindung der bürgerlichen Zweckhaftigkeit. 

Und ob ein Windrad an dieser einen Stelle den Anblick stört oder bereichert, ist eine konkrete Frage im gegebenen Fall. 
 JE



Montag, 24. April 2023

Ursprünglichste Ontologie.

 Menhir, Filitosa, Korsika                                                         zu Philosophierungen

Eine Sache ‚bestimmen’ heißt: ihren Platz in einem Wirkungszusammenhang ausfindig ma-chen. Daß sie in einem Wirkungszusammenhang steht, ist a priori vorausgesetzt. Dieses Apriori erscheint als ein logisches; ist aber ein historisches. Cf. Habermas: die Leistungen des transzendentalen Subjekts sind ein Erwerb der Gattungsgeschichte. Die ‚Idee’ eines Wirk-Zusammenhangs (Animismus) kommt auf, sobald die ‚Menschen’ (Hominiden) ihre ‚Welt’ selber machen: auf selbstgewählte Zwecke absehen und ihnen gemäß handeln. Die Idee der Kausalität - alles ist Wirkung, also hat alles eine Ursache - ist Teleologie a tergo [Nietzsche]. Zugrunde liegt die (‚unvordenklich’ gewordene) Frage: Wozu mag das Ding taugen? Zuerst: mir taugen. Erweiterung: Wenn es zwar nicht mir taugt, dann wohl einem Andern... Was dieses Andere sei, ist das Problem der Metaphysik. Der Wirkungszusammen-hang, der nicht meiner ist, ist das An-sich.

Im allgemeinen Wirkungszusammenhang (‚das Absolute’ in Fichtes Grundlagen...) wird das Eine durch das andere ‚bedeutet’: Nicht Es bedeutet ‚sich-selbst’, sondern das Andere be-deutet es. Nur darum kann ein ‚Wesen’ (das eigentliche Sein) von der ‚Erscheinung’ unter-schieden werden. - Es ist Entwicklungsgeschichtlich aber nicht so, daß das ‚Wesen’ nach-träglich zur Erscheinung hinzu tritt; sondern umgekehrt:
 
Der animistischen ‚Welt’-Anschauung erscheinen alle Dinge als mit eignem Willen begabt. Sie werden nicht von Anderem bedeutet, sondern bedeuten sich selber. Diese eigenwillige Selbstbedeutung kann man den Dingen und namentlich den Tieren ansehen; wohl nicht entziffern, aber doch erschauen: weniger erkennen als erraten. 

Ursprünglich besteht die Welt aus lauter Rätseln. Und zwar so, daß, was nicht zum Rätsel wird, in die ‚Welt’ gar nicht recht eintritt: als nichts-sagend. ‚Wissen’ ist ursprünglich Physio-Gnosis. Will sagen, ‚ursprünglich’ sind Anschauen und Begreifen nicht getrennt, sondern in der animistisch-magisch-mythischen Für-wahr-Nehmung eins. - Mit der Erweiterung des eigenen Wirkungskreises schiebt sich im angesammelten Gedächtnis vieler Generationen zwischen die Wahrnehmung der je einzelnen Wirkungsakte ‚belebter Dinge’ die Erfahrung von Wirkungs-Zusammenhängen - die im Gedächtnis nun als ein besonderes Bild (daimôn: 'der zuteilt', vgl. Prellwitz), neben den Abbildern der belebten Dinge, bewahrt werden kön-nen: Der Begriff tritt hinzu - und trägt, qua Abstraktion, in die Anschauung die Reflexion hinein. Jetzt erst scheiden sich Wesen und Erscheinung, indem das Werden (genesis = Wir-kung) als Akzidens eines substanten Seins, alias Ur-Sache (ontos on = Zusammenhang der Wirkungen in einem Ursprung) gedacht werden kann. Die Anschauung wird "intellektual" - d. h. spekulativ; und scheidet sich von der gewöhnlichen, ‚sinnlichen’ Anschauung, die sie als roh verachtet. Seitdem zerfällt die Welt in Subjekt und Objekt.

im Juni 2002


Nachtrag. Die moderne Vorstellung von einem Allgemeinen Zusammenhang ist die Grundlage aller Vernünftigkeit. Wenn von Vernunft heute auch niemand mehr reden will, ist doch jeder darauf bedacht, in der Öffentlichkeit nicht unvernünftig zu erscheinen. Denn wenn man ihm das nachweisen könnte, würde ihn niemand mehr für seinesgleichen erken-nen.

Das ist das, was Fichte das 'gemeine Bewusstsein' nennt; common sense, gesunder Men-schenverstand. Das ist die Bewusstseinsverfassung eines normalen Alltagsmenschen und des Professors einer Realwissenschaft gleichermaßen. Zweck der Vernunftkritik (Kant) alias Wissenschaftslehre (Fichte) war, die Rechtfertigung dieser Auffassung zu prüfen, indem sie ihre Herkunft untersuchten. 

Ihr Ausgangspunkt ist eine Welt, in der Alles - wenigstens virtuell - schon bestimmt ist. Ihr Verfahren ist, die Bestimmungen, rückwärts gehend, Schritt für Schritt aufzulösen Und an einen Punkt zu gelangen, wo das Bestimmen allererst angefangen hat. Es wird sich finden, dass dieser Punkt nur als das Selbst-Bestimmen eines zuvor (so gut wie)* Unbestimmten gedacht werden, aber das spielt hier noch keine Rolle. Auf jeden Fall bedeutet 'bestimmen' in transzendentalphilosophischem Sinn nicht, einen vorgegebenen Zusammenhang aufzu-suchen. Es bedeu-tet übergehen vom (relativ) Unbestimmten zum (relativ) Bestimmten. Ob und wie die unterwegs angesammelten Bestimmungen sich schließlich zu einem Zusam-menhang fügen, ist das Thema der realen Wissenschaften - zu denen in diesem Fall auch die Logik zu zählen ist.

Der obige Eintrag war ein Versuch in realer Anthropologie.

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*) Eine ursprüngliche Agilität wird man ihm nachträglich doch zudenken müssen, sonst passierte gar nichts.
11. 6. 18 


Nota. -  Das ist eine - spekulative - Realgeschichte des wirklichen Bewusstseins. Die prag-matische Geschichte der Vernunft verfährt umgekehrt: Sie beginnt beim vollständigen Ver-nunftsystem und zieht von ihm wie die Häute von einer Zwiebel nach und nach die histo-risch gewordenen Bestimmungen ab - bis sie zum Schluss, als auf das Vorauszusetzende schon der allerersten Bestimmung, auf das Bestimmende selber stößt. Das ist keine Realge-schichte, sondern Transzendentalphilosophie.
18. 6. 20

Freitag, 21. April 2023

Bewusst sein ist keine Sache, sondern eine Tätigkeit.

 L. Boilly, Escapé                                                                                         zu Philosophierungen

Bewusstsein (oder Geist) ist kein Stoff, der ist, nämlich in Raum und Zeit, sondern die Handlung eines - nun ja, nennen wir es einstweilen: - Subjekts, das einem Phänomen, das es (in Raum und Zeit) sinnlich "merkt", eine Bedeutung zuschreibt. Das Phänomen "be-deutet" ihm etwas - nämlich wenn und sofern er die Absicht hat, etwas zu tun. Denn anders wäre die 'Bedeutung' ohne Bedeutung.


Nicht "Strukturen" sind "mit Bewusstsein korreliert", sondern handelnde Subjekte korre-lieren 'Strukturen' mit ihren Absichten. Letztere sind der Ausgangspunkt aller Vorstellung; auch der von Natur, Materie und Struktur.

*

Die Frage, was (qualedasjenige sei, das von der Naturwissenschaft in mathematischen Formeln beschrieben wird, unterstellt einen, der - in Raum und Zeit - Absichten hat; der dieses oder jenes will. Nicht nur wollen kann, sondern schlechterdings wollend ist. Die Frage nach dem Was kann nur von Menschen gestellt werden. Wenn von Bewusstsein die Rede ist, ist nur von ihnen die Rede; und zwar von ihnen, sofern sie in Raum und Zeit sind, aber nicht von dem an oder in ihnen, das durch mathematische Formen darstellbar ist. Ma-thematische Formeln sind Begriffe, und Begriffe ohne Anschauung sind leer. Ein Quale ist das Produkt eines Vorstellungsakts. Ohne den Vorstellenden ist es nicht zu beschreiben.

Historisch zu beschreiben und in Begriffe zu fassen - wenn vielleicht auch nicht in mathe-matische Formeln - ist, wie und durch welche Bedingungen die Menschen die Fähigkeit zum Vorstellen entwickelt haben. Die Wissenschaft, die das versucht, ist die Anthropologie. Sie tritt an die Stelle der Metaphysik





Mittwoch, 19. April 2023

Merken und Aufmerken.

 W. Busch
aus spektrum.de, 28.02.2023                                                                 zuJochen Ebmeiers Realien

KONZENTRATION
Bleib bei der Sache!
Sich für längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren, erfordert ein hohes Maß an Selbstkontrolle. Hirnforscher kennen inzwischen eine Reihe neuronaler Schaltkreise, die unsere Aufmerksamkeit steuern – und haben Ratschläge, wie man sie gezielt beeinflusst.


von Anna von Hopffgarten

AUF EINEN BLICK

DIE MACHT DER ABLENKUNG

  1. Ständig prasselt eine Vielzahl an Reizen auf uns ein. Unsere Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass das Gehirn damit nicht überfordert ist: Sie filtert alles Unwichtige aus, darunter auch belanglose Gedanken und Empfindungen.
  2. Dabei schwankt die Aufmerksamkeit periodisch. Viermal pro Sekunde steigt sie kurz an und fällt darauf wieder ab. Wer eine Konzentrationsschwäche hat, könnte in der Phase des Tiefpunkts gefangen sein, vermuten Fachleute.
  3. Wie lange man sich konzentrieren kann, ist individuell verschieden und hängt zudem vom Training ab. Allgemein förderlich sind ausreichend Schlaf, regelmäßige Bewegungspausen und kleine Arbeitsetappen.


... Unser Gehirn kann nur ganz wenige Sinnesinformationen gleichzeitig aufnehmen und verarbeiten«, erklärt die Neurowissenschaftlerin Sabine Kastner, die mit ihrem Team an der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey die neuronalen Grundlagen von Wahr-nehmung erforscht. Damit die Reize diesen Flaschenhals nicht nach dem Zufallsprinzip passieren, hat das Gehirn ein System entwickelt, das wir Aufmerksamkeit nennen. »Das sind eine Reihe von neuronalen Mechanismen, die die ankommenden Informationen selektie-ren.« Was gerade wichtig ist, wird durchgelassen, der Rest einfach ausgeblendet. Das kann zum Beispiel räumlich geschehen: »Im Moment richte ich meine Aufmerksamkeit auf Sie«, sagt Kastner, die mich während unseres Videotelefonats auf Ihrem Computerbildschirm sieht. »Die Vögel draußen vor dem Fenster nehme ich nicht wahr.

Das Aufmerksamkeitsfenster kann man sich vorstellen wie einen Scheinwerferkegel. Was sich außerhalb befindet, wird nicht verarbeitet. Fachleute sprechen auch von einer mexican-hat-Verteilung. Wie bei einem Sombrero befindet sich die höchste Stelle, also diejenige mit der intensivsten Wahrnehmung, in der Mitte. Drumherum ist eine Senke, also ein Bereich, in dem die Wahrnehmung unterdrückt ist.

Diese Art von neuronalem Filter befindet sich auf einer der ersten Verarbeitungsstufen der Sinnesreize im Gehirn – in den frühen sensorischen Arealen. Im weiteren Verlauf, im Schei-tellappen und im frontalen Kortex, liegen so genannte Aufmerksamkeitsnetzwerke, die die neuronalen Filter steuern. »Das Frontalhirn bestimmt, wo die Spitze des mexikanischen Huts sein soll«, erklärt Kastner.
...

Wie eine Gruppe um den Neurowissenschaftler Michael Halassa vom Massachusetts Institute of Technology 2019 herausfand, bewertet der präfrontale Kortex, wie relevant die Reize sind. Erachtet er sie als unwichtig, schickt er über die Basalganglien ein hemmendes Signal an einen Teil des Thalamus – ein Kerngebiet im Zwischenhirn –, der den Informati-onsfluss stoppt. Dabei ist der Filter nicht auf Sehinformationen beschränkt: Lesen wir zum Beispiel einen Text in der Unibibliothek, unterdrückt er die Geräusche, etwa das ...


Nota. - Es ist anzunehmen, dass dies zu den Bereichen zählt, wo sich die Menschen von den Tieren unterscheiden: weil sie ihre Aufmerksamkeit nämlich willkürlich lenken können. Denn nur so wird der "mexikanische Hut" zu seinem Normalzustand. Nur so kann die Autorin ihre Darstellung nämlich bei der Ablenkung beginnenals dem, was stört. Beim Tier wäre die Ablenkung vom flackernd-halbzerstreuten Standard vielmehr das, was stört: die von außen kommende Hin lenkung auf den 'Gegen'stand, auf die Sache...
JE

Am Beginn der Wissenschaft steht das Staunen.

                                                                zu Philosophierungen Anfang der Philosophie sei das Staunen, heißt es sei...