Montag, 21. November 2022

Jede Dissoziation ist anders.

aus spektrum.de, 21. 11. 2022                                                                                                   zuJochen Ebmeiers Realien

Jede Form von Dissoziation hat ihr eigenes Muster
Dissoziative Symptome entstehen in der Regel nach schweren Kindheitstrauma-ta. Hirnscans können diese Spuren nicht nur sichtbar machen, sondern auch die verschiedenen Symptome unterscheiden.


von Christiane Gelitz

Dissoziationen können viele Formen annehmen: von emotionaler Taubheit bis hin zu wechselnden Identitäten. Ursache ist meist ein Trauma in der Kindheit. Für unterschiedliche Formen von Dissoziationen hat ein US-Forschungsteam nun bei Frauen typische Aktivitätsmuster im Gehirn gefunden. Das berichtet die Gruppe um Lauren Lebois vom McLean Hospital in Belmont in der Fachzeitschrift Neuropsychopharmacology.

Mit einem bildgebenden Verfahren, der funktionellen Magnetresonanztomografie, suchte das Team bei 91 Probandinnen nach Auffälligkeiten in der Aktivität von bestimmten neuronalen Netzwerken, die in Vorversuchen individuell bestimmt wurden. Zur Stichprobe zählten Frauen mit oder ohne Kindheitstrauma, die eine dissoziative Störung oder eine Posttraumatische Belastungsstörung mit oder ohne dissoziative Symptome entwickelt hatten.

Bei Frauen mit Dissoziationen fanden die Forschenden eine vermehrte Konnektivität, also eine verstärkte Koaktivierung oder gekoppelte Aktivität von drei Netzwerken, deren Zusammenarbeit dem »Triple-Network-Modell« zufolge bei vielen psychischen Störungen eine Rolle spielt, etwa bei Depressionen und Autismus. Beteiligt waren: erstens das zentrale exekutive Netzwerk zwischen Stirn- und hinterem Scheitellappen, das Informationen im Arbeitsgedächtnis verarbeitet. Zweitens das »Default-mode«-Netzwerk, das Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen verbindet und dann aktiv wird, wenn gerade keine Informationen zielgerichtet verarbeitet werden, etwa beim Tagträumen. Und drittens das Salienz-Netzwerk, zu dem die Mandelkerne zählen: Es reagiert auf auffällige Reize und beeinflusst die Interaktion der beiden anderen Netzwerke.

Dissoziationen sind messbar

Bei den Versuchspersonen mit Dissoziationen war die Konnektivität der drei Netzwerke stärker ausgeprägt, die mit anderen Regionen hingegen war schwächer. Außerdem entdeckten die Forschenden typische Koaktivierungsmuster für verschiedene dissoziative Syndrome, zum Beispiel für die dissoziative Identitätsstörung im zentralen exekutiven Netzwerk. »Die typischen Dissoziationen bei PTBS und bei dissoziativen Identitätsstörungen sind jeweils mit eigenen Hirnsignaturen verbunden«, erläutert Lebois, Direktorin des Forschungsprogramms für dissoziative Störungen und Traumata am McLean Hospital, in einer Pressemitteilung.

Solche Auffälligkeiten hatte die Psychologin schon 2020 in ersten Daten ihrer Patientinnen beobachtet: Je mehr die Aktivitäten von Default-mode-Netzwerk und dem zentralen exekutiven Netzwerk miteinander verbunden waren, desto schwerer waren die dissoziativen Symptome. Auch andere Studien hatten bereits Hinweise auf eine verstärkte Konnektivität bei Dissoziationen gefunden.

Einige Fachleute zweifeln allerdings bis heute daran, dass dissoziative Störungen überhaupt existieren. Die neuen Befunde könnten dazu beitragen, die Zweifel zu beseitigen. »Dissoziationen und dissoziative Störungen werden unterschätzt, oft nicht erkannt oder fehldiagnostiziert«, sagt Lebois. Die Forschung mache die unsichtbaren Spuren der Traumata sichtbar und zeige, dass dissoziative Symptome messbar sind.


Kurz erklärt: Dissoziationen

Bei einer Dissoziation spalten sich psychische Funktionen voneinander ab, die eigentlich zusammengehören. Ursache sind in der Regel schwere Kindheitstraumata wie Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch: Die Psyche schützt sich gegen diese Erfahrungen zum Beispiel, indem sie sie aus dem Gedächtnis verdrängt oder die damit verbundenen Gefühle dämpft. Eine solche Dissoziation kann zu einem dauerhaften Schutzmechanismus und so zu einer eigenen Störung werden, wie im Fall der dissoziativen Identitätsstörung oder der Depersonalisations-/Derealisationsstörung. Sie kann aber auch ein Symptom im Rahmen einer anderen Traumafolgestörung bilden, wie die emotionale Taubheit bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung.


Nota. - Seit zweihundert Jahren beherrscht wo nicht als Glaubenssatz, so immerhin als heimliche Referenz das scheinbar dynamische Konflikt-Modell der Psychoanalyse das psychiatrische Denken. Zwei autonome, aber antagonistische Energien liegen miteinander in einem Streit, der Schmerz verursacht und darum ins Reich der Unbewussten verdrängt wird - wo er erst recht Schmerz verursacht: nämlich umso mehr, als er ja nicht erkannt wird.

Keine psychiatrische Theoriebildung des 20. Jahrhunderts hat sich nicht daran orientiert, nämlich mindestens in Gegnerschaft. In dieser Lehre war nichts objektivierbar oder hätte irgendwie vermessen können, es war alles so oder auch anders interpretierbar, die Theorie fand ihre Grenzen allein in der engeren oder weiteren Phantasie des Analytikers, und ermöglichte großzügige Honorare.

Das hier vorliegende Modell ist nicht minder dynamisch und ant-agonisch, aber man kann einen Ort zeigen, wo etwas geschieht, und kann verstehen, warum es geschieht, denn die beteiligten Hirnpartien tun nichts anderes, als sie entwicklungsbedingt in allen Gehirnen tun, aber mal kommen sie nicht zusammen, wo sie einander finden sollten, und mal versperren sie einander den Weg. Das lässt sich zwar auch in diesem Modell nicht objektivieren, denn 'psychogen' und unberechenbar sind die Störungen auch hier; doch es wird einsichtig, wozu es geschieht: um einem unmittelbaren Schmerz auszuweichen - mit dem Risiko, dass sie einander dort, wo sie gespeichert werden, multiplizieren.

Und eins ist hier geklärt: Wie "unbewusst" das eine oder andere auch wäre - ihren Ort haben sie alle im Gehirn und nicht im Thymus oder der Bauchspeicheldrüse. Und zweitens haben sie auch ihren Moment: hier und jetzt. Nach Gesetzlichkeiten braucht man gar nicht erst zu suchen. Dafür kann man jetzt alle Phantasie auf den gegebenen Fall verwenden.
JE

 

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