Donnerstag, 10. November 2022

Die Geburt einer ungelehrten Öffentlichkeit durch den Bauernkrieg.

1525                                                     zu öffentliche Angelegenheiten
aus FAZ.NET, 10. 11. 2022

PUBLIZISTIK DES BAUERNKRIEGS
Die Hassreden der Gutenberg-Galaxis
Das Internet hat die Hassrede nicht erfunden. Schon im Bauernkrieg blühten die Schmäh-schriften. Voraus ging eine andere Medienrevolution

von  Wolfgang Krischke

1520, drei Jahre nachdem Martin Luther seine Thesen veröffentlicht hatte, warnte der elsässische Humanist und Franziskanerpriester Thomas Murner vor einem gewissen Hans Karst. Aufgewiegelt von der Reformation, würden er und seine „ungelehrte und aufrühre-rische Gemeinde“ die christliche Ordnung bedrohen. Der Spottname Hans Karst oder auch Karsthans, der von der Bezeichnung einer Feldhacke abgeleitet ist, stand für das altherge-brachte Stereotyp des ungehobelten Bauerntölpels. Doch dieser Sinn wurde von Murners lutherischen Gegnern postwendend umgeprägt: In ihren Flugschriften mutierte der Karst-hans vom groben Klotz zum Typus des aufrechten, reformatorisch gesinnten Mannes aus dem Volk. Gewitzt und unverstellten Geistes bietet er dem „Mur-Narr“ und all den anderen akademisch verbildeten Theologen die Stirn. Hans Karst kann die Bibel zwar selbst nicht lesen, aber er versteht Gottes Wort besser als die gelehrten Geistlichen, die „mehr auf der Narrenwiese gevögelt als in der Heiligen Schrift studiert“ haben.

Schon bald nachdem die Flugschriften gegen Murner erschienen waren, wechselte die literarische Figur des Karsthans ins wirkliche Leben: Unter seinem Namen traten jetzt im Südwesten des Reiches reformatorische Wanderprediger auf. Die rustikale Schlichtheit dieser leibhaftigen Karsthänse war allerdings häufig nur Schau. So zum Beispiel bei einem ehemaligen Mönch, der die Schriften, die er mit sich führte, verkehrt herum hielt, um seinen Analphabetismus zu demonstrieren, während er seine offenbar auswendig gelernten Predigten druckreif vortrug.

Die einander hochschaukelnden Agitationsreden und Streitschriften dieser Jahre bildeten das kommunikative Vorfeld zum Bauernkrieg. Als der im Jahr 1524 mit Aufständen im Schwarzwald und am Bodensee losbrach und sich schnell ausdehnte, waren die echten an die Stelle der inszenierten Karsthänse getreten, um sich mit realen Hacken und Sensen gegen Adel und Obrigkeit zu erheben.

Welche Wirkungen die Texte und Bilder der Flugblätter und broschürenartigen Flugschriften auf die Entstehung und Dynamik des Bauernkrieges hatten, untersucht der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, der seit Kurzem Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg ist. Seine Ausgangsthese, dass ihnen eine Schlüsselrolle zukommt, liegt nahe. Schließlich gilt die aufs Engste mit dem Bauernkrieg verknüpfte Reformation als eines der ersten massenmedial gespeisten Großereignisse. Kaufmann selbst charakterisiert Luther in Analogie zu den Digital Natives der Gegenwart als einen Printing Native, eine durch und durch „typographische Existenz“, die ohne den Buchdruck nie zur geschichtsmächtigen Gestalt geworden wäre.

Doch wie konnten die Druckmedien unter den mehrheitlich analphabetischen Bauern überhaupt ihre Wirkung entfalten? Kaufmann verweist auf die Besonderheiten der frühneuzeitlichen Rezeption. Die Flugschriften, gedruckt in Auflagen von einigen Hundert, manchmal auch mehreren Tausend, wurden auf Märkten oder in den Druckereien vertrieben. Die damalige Gewohnheit, laut zu lesen, ließ Umstehende auch dann an der Lektüre teilhaben, wenn die Schriften nicht vorgelesen wurden. So erreichten die Pamphlete, Satiren und polemischen Dialoge auch viele, die sie nicht lesen oder sich ihren Kauf nicht leisten konnten. Eine etwas umfangreichere Flugschrift kostete immerhin so viel wie ein Pfund Honig – kaum erschwinglich für einen Tagelöhner.

Zurück ins emotionale Archaikum

Für Kaufmann liegt in dieser massenmedial erzeugten Kommunikation ein entscheidender Unterschied zu früheren bäuerlichen Aufständen. Sie erst brachte die verstreuten Erhebungen der Jahre 1524/25 in einen Zusammenhang und verknüpfte sie schon in den Augen der Zeitgenossen zu einem übergeordneten Ereignis. Zum wichtigsten publizistischen Bindeglied wurden die im März 1525 verfassten „Zwölf Artikel“, ein Manifest, das die Forderungen der Bauern von der Aufhebung der Leibeigenschaft über die Verminderung der Abgaben und Frondienste bis zur Freigabe von Jagd und Fischerei und zu dem Ende der Willkürjustiz aufführt. Verbreitet in zwei Dutzend Drucken, ist es einer der meistgedruckten Texte dieser Zeit. Er bildete die Grundlage für die programmatische Verständigung „aller Baurschafft“ und für das Zusammengehen mit der reformierten Bewegung und mit städtischen Bürgern.

Enorm war auch die Resonanz, die Luthers mediale Interventionen hervorriefen. Mit ihnen fügte sich der Reformator nach Kaufmanns Einschätzung den größten Rufschaden seiner Laufbahn zu. In seiner „Ermahnung zum Frieden auf die Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ vom April 1525 äußerte Luther noch gewisse Sympathien für die Forderungen der Bauern. Doch wenig später, als die Gewalt zunahm und die bestehende Ordnung bedroht schien, eiferte er „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“ und rief zum gnadenlosen Kampf gegen die Aufständischen auf. Luther selbst veröffentlichte diesen Text zusammen mit einem Nachdruck seiner ersten Bauernschrift, was sein anfängliches Wohlwollen demonstrieren sollte. Doch seine katholischen Gegner ließen das bauernfeindliche Pamphlet separat nachdrucken und veröffentlichten es in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Schlacht bei Frankenhausen, bei der Tausende der militärisch hoffnungslos unterlegenen Bauern niedergemetzelt wurden. Diese Umkontextualisierung – eine sehr modern anmutende Medienstrategie, die auch Luther gelegentlich einsetzte – ließ den Reformator mit seiner Kreuzzugsrhetorik als den unmittelbaren geistigen Urheber des Massakers erscheinen. Aus dem kühnen Rebellen war in vieler Augen ein „Fürstenknecht“ geworden.

Die publizistischen Auseinandersetzungen der reformatorischen Glaubenskämpfe und des Bauernkriegs waren von Hassreden, Pöbeleien und Beleidigungen geprägt, nicht selten gespickt mit Fäkaljargon und sexuellen Schmähungen. „Die Drucktechnik erreichte ein breites Publikum und schuf damit Resonanzräume, die eine Entfesselung der Polemik bewirkten“, sagt Thomas Kaufmann. Die nur rudimentär ausgeprägten staatlichen Institutionen der frühen Neuzeit konnten diese Entwicklungen nicht kontrollieren. Die aggressiven Energien und die sprachliche Drastik der vormodernen Medienkommunikation scheinen in den virtuellen Resonanzräumen der postmodernen Netzwerkkommunikation mit ihren Shitstorms eine Neuauflage zu erleben. „Zu sagen, dass wir wieder im emotionalen Archaikum angekommen sind, geht mir im Moment aber noch zu weit“, meint Thomas Kaufmann zum Forschungsstand. Kein Zweifel besteht jedenfalls an der Überwindung des medientechnischen Archaikums: Die Rasanz der digitalen Eskalationen vermochten die Druckerpressen noch nicht zu erzeugen.


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