Mittwoch, 30. November 2022

Thriller!


aus nzz.ch, 30. 11. 2022

«Thriller» wird 40 Jahre alt
Michael Jacksons Hit-Album war ein Meilenstein – für schwarze Künstler sowie die Kommerzialisierung von Pop-Musik. 
Kein Album wurde weltweit häufiger verkauft als «Thriller». Das Werk beeinflusste Generationen von Musikerinnen und Musikern.

von Franco Arnold

Michael Jackson wollte im Frühling 1982, als er mit den Aufnahmen des Albums «Thriller» begann, eine Platte erschaffen, auf der «jeder Song ein Killer» ist, wie er später in einem Interview sagte. Denn Alben «mit nur einem guten Song und der Rest B-Sides» gab es aus Sicht des damals 23-jährigen Künstlers schon zur Genüge.

Tatsächlich setzte «Thriller», welches Michael Jackson mit dem wegweisenden Jazz- und Pop-Produzenten Quincy Jones aufgenommen und am 30. November 1982 veröffentlicht hatte, in vielerlei Hinsicht neue Massstäbe. Es brannte sich ins kollektive Gedächtnis des Pop-Publikums ein und sollte das meistverkaufte Album aller Zeiten werden – mit bis heute je nach Zählweise zwischen 50 und 100 Millionen verkauften Kopien.

Von den neun Songs der Platte wurden sieben als Single ausgekoppelt, alle schafften sie es in die Top Ten der amerikanischen Billboard-Charts. Ein Rekord nach dem anderen purzelte; kein Album stand länger an der Spitze der amerikanischen Charts, niemals zuvor hatten es mehr Single-Auskoppelungen eines Albums in die Top Ten geschafft, kein Künstler heimste mit einem Album mehr Grammys ein. Mit «Beat It» und «Billie Jean» schuf Michael Jackson überdies zwei Hits, die auch vierzig Jahre nach Veröffentlichung noch jeder mitsummen kann.

Jackson hatte mit «Thriller» das erreicht, was er sich zum Ziel gesetzt hatte: ein Album, auf dem jeder Song ein «Killer» ist. Darüber hinaus stiess er Veränderungen an, die fortan die Karriere von Generationen von Künstlerinnen und Künstlern beeinflussten.

Ein Weg mit Hindernissen

Der Start von «Thriller» war indes wenig verheissungsvoll. Die erste Single «The Girl Is Mine» erschien am 18. Oktober 1982, doch das Duett mit dem Ex-Beatle Paul McCartney überzeugte die Kritiker nicht. Sie hielten die Ballade für fade und insofern für eine «schlechte Wahl» als erste Single.

Dass sich Jackson durch die Zusammenarbeit mit McCartney den europäischen Markt zu erschliessen versuchte, betrachtete sie als Anbiederung. Generell wurde kritisiert, er wolle sich der weissen Hörerschaft andienen. Und obwohl «The Girl Is Mine» beim Publikum gut ankam, schrieben viele Kritiker mit der ersten Single gleich das ganze Album ab.

Auch beim Musiksender MTV, der ab seinem Sendestart im Jahr 1981 entscheidend für die Verkaufszahlen amerikanischer Musiker war, wurde «Thriller» nicht mit offenen Armen aufgenommen. Dass es «Billie Jean», die zweite Single im Januar 1983, überhaupt ins MTV-Programm schaffte, kam einer kleinen Revolution gleich. In den Anfangsjahren dominierte Rockmusik den Sender, in den Videos waren ausschliesslich weisse Musiker zu sehen. Jacksons «Billie Jean» war zu «wenig rockig» – schlicht zu «schwarz».

Jacksons Plattenlabel insistierte und drohte mit Boykott. «Ich gehe an die Öffentlichkeit und werde verdammt noch mal erzählen, dass ihr die Musik eines Schwarzen nicht spielen wollt», so soll ein Plattenboss gedroht haben. Zwar begründete MTV sein Vorgehen damit, dass der Sender den Fokus auf Rockmusik lege. Weil man sich den Vorwurf des Rassismus aber nicht gefallen lassen wollte, wurde «Billie Jean» ab März 1983 dann doch auf MTV ausgestrahlt. Bald schon in der «heavy rotation», was rund fünfzig Wiederholungen pro Woche bedeutete.

Damit waren Schwarze nicht mehr länger ausgeschlossen von einem der gewichtigsten Medien der Unterhaltungsindustrie. Vielen weiteren schwarzen Künstlerinnen und Künstlern gelang im selben Jahr ebenfalls der Sprung in die «heavy rotation» von MTV – unter anderem Prince, Donna Summer oder Lionel Richie.

Generell setzte sich Jackson mit «Thriller» über die starren ethnischen Grenzen der Populärmusik hinweg und vermischte Soul, Funk, Disco mit Rock. Nach dem Rock-Song «Beat It» insbesondere, in dem auch Eddie van Halens Gitarrenkünste zu hören sind, lehnte er sich weit aus der R’n’B-Schublade hinaus. Die musikalische Entwicklung ging dabei mit einem stimmlichen Reifeprozess einher: Jackson habe nun eine «vollständig erwachsene Stimme», schrieb der «Rolling Stone».


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Michael Jackson war nun nicht mehr bloss eine Grösse in der Black Music, er galt jetzt als König der Populärmusik – obwohl sein Beiname «King of Pop» erst in den späten Achtzigerjahren aufkam.

Auch mit seinen Musikvideos unterstrich Jackson seine Einzigartigkeit. Genau wie MTV steckte das Musikvideo in den frühen Achtzigern noch in den Kinderschuhen, bis es Jackson mit «Thriller» – dem titelgebenden Song des Albums – in kommerzielle Professionalität und ins künstlerische Erwachsenenalter überführte. «Thriller» war mit knapp 14 Minuten Länge allerdings eher ein Kurzfilm als ein Clip, das Budget war mit rund 900 000 Dollar exorbitant hoch

Die im Video tanzenden Zombies begeisterten die Massen, hielten Einzug in den Kanon der Populärkultur – und aus dem Musikvideo, das bis anhin einzig Promo-Zwecke erfüllte, wurde eine eigenständige Kunstform.

Das ungekürzte Video von «Thriller» dauert knapp 14 Minuten.

Ein vollkommenes Pop-Produkt

Jackson schuf neue Dimensionen; als künstlerische Persönlichkeit sowie als umsatzstarke Marke. Kein Musiker vor ihm strich derart hohe Lizenzgebühren ein – damals rund 2 Dollar pro verkauftem Album.

Neben dem Album verkaufte sich auch die VHS-Kassette zu «Thriller» mehr als eine Million Mal. Ebenfalls die Dokumentation zum Musikvideo, «Making of Michael Jackson’s Thriller», fand reissenden Absatz. Daneben sorgte eine grosse Merchandising-Maschinerie für zusätzliche Einnahmen, unter anderem konnten Fans ab 1984 eine Michael-Jackson-Puppe für 12 Dollar erwerben.

Michael Jackson erhielt für das Album Thriller zusammen mit seinem Produzenten Quincy Jones bei den Grammy Awards 1984 acht Preise – bis heute ein Rekord.

Böse Vorahnungen?

Doch allen Rekorden zum Trotz schien das teilweise düstere Album thematisch vorwegzunehmen, was in Michael Jacksons Leben noch kommen sollte. Mit zunehmendem Erfolg überschatteten dunkle Wolken den strahlenden Stern am Pop-Himmel.

Es war nicht mehr die Musik, welche ab Mitte der Neunzigerjahre das öffentliche Bild des Pop-Stars prägte. Im Zentrum der Diskussionen standen andere Themen; Jacksons immer heller werdende Haut und seine Gesundheit, seine skandalträchtigen Auftritte, die Vorwürfe des Kindsmissbrauchs. Seine Musik rückte zusehends in den Hintergrund.

Nach Jacksons Tod im Jahr 2009 und der Dokumentation «Leaving Neverland», in der ihm zwei Männer Kindsmissbrauch vorwerfen, wurde der Ruf laut, Michael Jackson überhaupt nicht mehr zu spielen. Doch ein Meisterwerk wie «Thriller» darf nicht in der Versenkung verschwinden – wie auch die ambivalente Persönlichkeit Jacksons nicht in Vergessenheit geraten sollte. Auch Radio SRF spielt die Musik des «King of Pop» weiterhin: «da seine Werke prägend für die Pop-Musik sind», wie das Unternehmen auf Anfrage mitteilt. «Thriller» wird noch weitere Musikergenerationen beeinflussen – auch vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung.

Mittwoch, 23. November 2022

Guido Reni im Frankfurter Städel.

aus FAZ.NET, 23. 11. 2022                                          Bacchus und Ariadn                                            zu Geschmackssachen

Beleuchter göttlicher Schauspiele
Im siebzehnten Jahrhundert war kein Maler teurer als Guido Reni, im neunzehn-ten vergaß man ihn fast. Wie „göttlich“ er wirklich war, zeigt nun das Städel Museum in Frankfurt.

von Stefan Trinks

Der 1575 in Bologna geborene und 1642 auch dort gestorbene Barockmaler Guido Reni hat mit seinem Nachleben eine Hollywoodlaufbahn vollführt: From hero to zero to hero, eine Achterbahnfahrt von ganz oben nach sehr weit unten und nun wieder empor. Noch in Renis siebzehntem Jahrhundert, 1678, befand sein erster bedeutender Biograph, der Adelige und eifrige Besucher von Renis Atelier Carlo Cesare Malvasia: „Kein Museum hält man für vollständig, keine Galerie für beachtenswert, die vom großen Guido nicht wenigstens ein Stück besitzt.“

Im neunzehnten Jahrhundert dagegen krähte kaum ein Hahn mehr nach dem schon zu Lebzeiten als „göttlich“ Bezeichneten. Der damals als noch viel göttlicher, weil vergeistigter und subtiler erachtete Raffael und Renis mythologiestärkerer Lehrer Lodovico Carracci wurden weit über den barocken Überschwang des Bolognesen gestellt, dessen Werke teils sogar aus den Galerien genommen. Von dort und sechzig anderen Leihgebern kommen nun erstaunliche Stücke nach Frankfurt, die die Ausstellung im Städel Museum, 34 Jahre nach der letzten Präsentation in der Stadt, mit 130 eigenhändigen Werken des Malers tatsächlich zur größten jemals gezeigten zu Renis Gemälden, Zeichnungen und Druck-graphiken macht.

Himmelfahrt Mariens 1599

Farbfeuerwerke ohne Konkurrenz

Ob Vergöttlichung oder Vergessen berechtigt waren, war bei diesem Maler, man muss es so vage sagen, meist Geschmacksache. Auf einem frühen Hauptwerk, der vom Städel-Muse-umsverein zum zweihundertsten Bestehen des Hauses 2015 geschenkten „Himmelfahrt Mariae“, jetzt das erste Bild der Schau auf der Auftaktwand links, erweist sich, warum: Auf eine Kupferplatte gemalt, strahlen die Farben metallisch klar, das Blau des aufflatternden Marienmantels unterseeisch azurblau, die durch dunkle Wolken brechenden goldenen Strah-len überirdisch stark, als prassle wie in der Mythologie bei Danaë eine Wand unausgesetzten Goldregens auf die Muttergottes herab – tatsächlich verzichtet Reni völlig auf die Heilig-geisttaube, Gottvater in Menschengestalt sowie Christus –, allein sein Goldlicht vermag die Maria im Himmel aufnehmende Trinität zu verkörpern.

Noch vor der Jahrhundertwende 1599 gemalt, sind solche Farbfeuerwerke ohne wirkliche Konkurrenz und prägten nordalpine Italienreisende wie Rubens massiv. Überraschend – oder auch nicht – finden sich im Reigen der knabenhaften Putten um die Muttergottes auch sehr raffaeleske Engel: Von dem längst verstorbenen Meister lernen hieß schließlich auch achtzig Jahre später noch siegen lernen. Doch ist bei diesem frühen Werk und vielen späte-ren auch nicht auszublenden, was ausgerechnet das durchaus pathosaffine neunzehnte Jahrhundert an dem tiefreligiösen Maler störte, der auf Abertausenden Einlegebildchen in katholischen Gebetbüchern durch den erst beginnenden, noch unzulänglichen Farbdruck zusätzlich ins Grell-Süßliche verschoben wurde: Es geht bei Reni selten ohne das hohe Pathos, die Tränendrüse. 

Kopfstudie für Christus in roter Kreide, 1620 

Höchste Zeit für eine Wiederentdeckung.

Die Äuglein der Frankfurter Madonna und der anderen fünf Himmelfahrten im ersten Saal sind rotgeweint, selbst Tränensäcke der Dauerrührung hat der Maler ihr mitgegeben. Doch hier muss die Ehrenrettung einsetzen: Bolognesen sind bis heute begnadete Händler des Möglichen mit einem wunderbar galligen Humor, und Reni, pathologisch spielsüchtig, kannte menschliche Abgründe nicht nur aus den allabendlich aufgesuchten Spielhöllen. Frauen duldete er nur zum Modellsitzen in seinem Haus, ansonsten fürchtete er permanent, vom anderen Geschlecht vergiftet zu werden, während er seine Mutter als mariengleich vergötterte.

Bevor es auf der Frankfurter Himmelfahrt zur divinen Aufnahme kommt, muss die Gottesmutter erst derb wie auf eine Stufe auf das Haupt eines etwas älteren Engels treten, der wie ein Ringer bei dieser sehr haptisch-materiellen Assumptio in einer Art Befreiungs­ges­te ihren azurblauen Mantel berührt und ihr offenbar ein Zeichen seiner Überforderung geben will. Archäologen wiederum würden sagen, dass mit ihm ein Atlant oder der Firma-mentgott Coelus zitiert und transformiert sein könnte. In jedem Fall zeigt sich, dass es sich bei Reni um hohes, aber nicht hohles Pathos handelt.

„Ich, Guido Reni“ steht mehrfach neben Männerbeinen

Im selben Jahr wie die „Himmelfahrt“ entsteht eine Serie von Radierungen, darunter „Belaubter Bogen mit Einzugsmarsch“, die wie nahezu der gesamte be­kann­te Rest von Renis detailreicher Druckgrafik im Frankfurter Kupferstichkabinett liegt und zu Recht gleichrangig gezeigt wird. Auch hier ist es kein hohles Pathos, das er dem Triumphbogen mitgibt; vielmehr überzieht er die ephemere Architektur vollständig mit einer surreal wirkenden Blätterhaut, bekrönt sie zusätzlich mit drei Bäumchen im Keramiktopf und macht die in Bologna – Teil des Kirchenstaats! – einziehenden Anhänger von Papst Clemens VIII. im Vergleich zum monumentalen Bogen zu Ameisen.

Überhaupt agiert er mit Körpern in allen Größen und Verrenkungen sehr freizügig; ein um 1600 entstandenes Skizzenblatt mit „Diversen Figurenstudien und Signaturproben“, vor allem herabbaumelnden Männerbeinen, kann zwar keinem konkreten Werk zugeordnet werden. Es ist aber ein Exerzitium der Fingerfertigkeit, tastend fein und das Gegenteil so mancher böser Deutung, die aus dem auf dem Blatt mehrfach wiederholten Namenszug „Io Guido Reni“ egomanische Hybris herauslas – Reni war Beinahe-Analphabet und übte hier neben dem nötigen Barockbeinschwung auch das flüssige Signieren.

Christus an der Geißelsäule, um 1604

Göttlich ist Reni aber nicht, weil er göttlich-christliche Themen verewigt, das träfe auf die meisten Barockmaler zu. Seine ureigene Qualität ist das Licht als Bedeutungsträger und erzählerisches Element in jedem seiner Bilder. Renis gesamtes Lebenswerk lässt sich am jeweils unterschiedlichen Einsatz des Lichts in drei Phasen unterteilen: Anfangs stark von der unterkühlten Lichtregie des Manieristen Parmigianino beeinflusst, mit einem grellgelb-blauen Mantel Sankt Katharinas über einem Untergewand in Rosa in ihrem „Martyrium“ von 1606 , bei dem der Henker Rot und Ocker trägt und ähnliche Retina-Kitzeleien, entscheidet er sich, nach Rom umgezogen, früh für Caravaggios Hell-Dunkel-Gefühlsbäder. Ab 1606, mithin ein Jahrzehnt vor den heute bekannten Anhängern des Malers, wird Reni Caravaggist. Seinen „Christus an der Geißelsäule“ setzt er 1604 vor einen nachtschwarzen, alle Schmerzensschreie schluckenden Hintergrund; der einzige Hinweis auf die absenten Geißel-Schergen ist der glutrote Schein von deren Fackeln in Christi dunklem Haar – effektvoller hätte auch Caravaggio das nicht zu inszenieren vermocht.

Studie für Apoll im Aurora-Fresko im römischen Palazzo Pallavicini Rospigliosi, 1612-14.

Zusätzlich verdunkelt Reni noch die eigentlich weiß gesprenkelte Martersäule aus Santa Prassede, die anhand ihrer garnspulenartigen Form sofort zu identifizieren ist und die er sehr gut kannte – er wohnte mit zwei Künstlerfreunden in einer WG gleich neben dieser römischen Kirche, die für sich beanspruchte, die Reliquie der originalen Geißelsäule zu besitzen. Zwei Jahre nach Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs zeigt er hingegen in schweflig gelber Gewitteratmosphäre einen sadistischen, darin sehr menschlichen Gott, wenn Apoll in unschuldig weißem Teint dem derb rothäutigen Marsias die Haut abzieht und mit der Schindung in der Achselhöhle beginnt.

Unvollendete Bilder und furios freie, die nur so wirken

Nach diesen caravaggesken Lichtinszenierungen hellt sich die Palette wieder auf. Ein besonderes goldenes Licht strahlt nun aus allen Poren der Figuren und Stoffe, nicht nur der Heiligen. „Bacchus und Ariadne“ vor einer Tourismus-Adria mit weißen Segelbooten leuchten trotz Ehezwist um die Wette. Und der späte Johannes der Täufer von 1636, sechs Jahre vor Renis Tod gemalt, vereint noch einmal beide „Licht-Phasen“ des Malers und weist weit voraus in die Zukunft: Der jugendschöne Körper des in die Ferne auf den Kommenden zeigenden Propheten badet in warmem Licht, doch über Johannes dräuen die dunklen Gewitterwolken seines Schicksals. Sein Kamelhaarmantel wiederum ist mit nur wenigen Pinselstrichen als freies „Abozzo“ hingeworfen.

Seine Kunst hielt Reni eigenen Aussagen zufolge nie für göttliche Geniegabe, vielmehr für harte Arbeit, aufwendigst vorbereitet in mindestens zweitausend Vorzeichnungen, die man im Nachlass fand: Von ihnen sind die Kopfstudien ei­nes „Alten Bärtigen“ und einer „Alten Frau“ trotz nur weniger Rötelstriche und Weißhöhungen in den Wangen so lebensnah atmend, dass man beinahe erschrickt. Er wusste jedoch um sein Nachleben und wollte es unbedingt: Manchmal malt er auf so beständiger wie teurer Seide statt Leinwand, die qualitätvollen Farben sind ungewöhnlich sorgfältig angerieben; alles in seiner Malerei zielt auf die lange Dauer des Ruhms. Die Frankfurter Schau zeigt mit dreizehn famosen Neuzuschreibungen, dass Guido Reni auch dem 21. Jahrhundert viel geben kann.

Guido Reni. Der Göttliche. Städel, Frankfurt, bis 5. März 2023. Der Katalog kostet 39,90 Euro

Hippomenes und Atalante um 1615-18 

Nota. -  Schönheit und Natürlichkeit nannte Vasari als die kennzeichnenden Besonderheit der Kunstauffassung, die er zum rinascimento der Antike ausgerufen hatte - 'besonders' nämlich gegenüber der vorangegangenen maniera greca alias(!) gotica, die seit dem ostgo-tischen Reich des Theoderich in Italien zur vorherrschenden geworden war. 

Als deren Höhepunkt gilt den meisten bis heute die Malerei Raffaels - und nach dem löste sich die Renaissance in eine Vielzahl von Unterströmungen auf, bis in den Effekten des Manierismus der Tizian und Tintoretto von Schönheit und Natürlichkeit kaum noch was übrigwar,

Da griffen zwei große Meister mit fester Hand ein, um das Barock zu begründen und Natürlichkeit und Schönheit neu zur Geltung zu bringen. Natürlichkeit, das war Caravag-gios Sache, der sie als Ausdruck verstand, doch für die Schönheit war Guido Reni zuständig, der sich enger an Raffael anschloss. Raffael gilt freilich bösen Zungen als Erfinder des Kitschs. 

Bemerkenswert ist an der Ausstellung im Städel - oder an dem Bericht von Stefan Trinks? -, dass auch Reni zunächst unter dem Eindruck Caravaggios stand, wie übrigens die meisten Zeitgenossen, Rubens inklusive; nur Rembrandt konnte nicht zugeben, dass Caravaggio ihm über war

Ich nehme an, dass Reni einsah, dass er gegen diesen Meister keine Chance hatte, und sich zum Epigonen Raffaels beschied. Weshalb er heute vielen als Kitschmaler gilt.
JE

Montag, 21. November 2022

Jede Dissoziation ist anders.

aus spektrum.de, 21. 11. 2022                                                                                                   zuJochen Ebmeiers Realien

Jede Form von Dissoziation hat ihr eigenes Muster
Dissoziative Symptome entstehen in der Regel nach schweren Kindheitstrauma-ta. Hirnscans können diese Spuren nicht nur sichtbar machen, sondern auch die verschiedenen Symptome unterscheiden.


von Christiane Gelitz

Dissoziationen können viele Formen annehmen: von emotionaler Taubheit bis hin zu wechselnden Identitäten. Ursache ist meist ein Trauma in der Kindheit. Für unterschiedliche Formen von Dissoziationen hat ein US-Forschungsteam nun bei Frauen typische Aktivitätsmuster im Gehirn gefunden. Das berichtet die Gruppe um Lauren Lebois vom McLean Hospital in Belmont in der Fachzeitschrift Neuropsychopharmacology.

Mit einem bildgebenden Verfahren, der funktionellen Magnetresonanztomografie, suchte das Team bei 91 Probandinnen nach Auffälligkeiten in der Aktivität von bestimmten neuronalen Netzwerken, die in Vorversuchen individuell bestimmt wurden. Zur Stichprobe zählten Frauen mit oder ohne Kindheitstrauma, die eine dissoziative Störung oder eine Posttraumatische Belastungsstörung mit oder ohne dissoziative Symptome entwickelt hatten.

Bei Frauen mit Dissoziationen fanden die Forschenden eine vermehrte Konnektivität, also eine verstärkte Koaktivierung oder gekoppelte Aktivität von drei Netzwerken, deren Zusammenarbeit dem »Triple-Network-Modell« zufolge bei vielen psychischen Störungen eine Rolle spielt, etwa bei Depressionen und Autismus. Beteiligt waren: erstens das zentrale exekutive Netzwerk zwischen Stirn- und hinterem Scheitellappen, das Informationen im Arbeitsgedächtnis verarbeitet. Zweitens das »Default-mode«-Netzwerk, das Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen verbindet und dann aktiv wird, wenn gerade keine Informationen zielgerichtet verarbeitet werden, etwa beim Tagträumen. Und drittens das Salienz-Netzwerk, zu dem die Mandelkerne zählen: Es reagiert auf auffällige Reize und beeinflusst die Interaktion der beiden anderen Netzwerke.

Dissoziationen sind messbar

Bei den Versuchspersonen mit Dissoziationen war die Konnektivität der drei Netzwerke stärker ausgeprägt, die mit anderen Regionen hingegen war schwächer. Außerdem entdeckten die Forschenden typische Koaktivierungsmuster für verschiedene dissoziative Syndrome, zum Beispiel für die dissoziative Identitätsstörung im zentralen exekutiven Netzwerk. »Die typischen Dissoziationen bei PTBS und bei dissoziativen Identitätsstörungen sind jeweils mit eigenen Hirnsignaturen verbunden«, erläutert Lebois, Direktorin des Forschungsprogramms für dissoziative Störungen und Traumata am McLean Hospital, in einer Pressemitteilung.

Solche Auffälligkeiten hatte die Psychologin schon 2020 in ersten Daten ihrer Patientinnen beobachtet: Je mehr die Aktivitäten von Default-mode-Netzwerk und dem zentralen exekutiven Netzwerk miteinander verbunden waren, desto schwerer waren die dissoziativen Symptome. Auch andere Studien hatten bereits Hinweise auf eine verstärkte Konnektivität bei Dissoziationen gefunden.

Einige Fachleute zweifeln allerdings bis heute daran, dass dissoziative Störungen überhaupt existieren. Die neuen Befunde könnten dazu beitragen, die Zweifel zu beseitigen. »Dissoziationen und dissoziative Störungen werden unterschätzt, oft nicht erkannt oder fehldiagnostiziert«, sagt Lebois. Die Forschung mache die unsichtbaren Spuren der Traumata sichtbar und zeige, dass dissoziative Symptome messbar sind.


Kurz erklärt: Dissoziationen

Bei einer Dissoziation spalten sich psychische Funktionen voneinander ab, die eigentlich zusammengehören. Ursache sind in der Regel schwere Kindheitstraumata wie Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch: Die Psyche schützt sich gegen diese Erfahrungen zum Beispiel, indem sie sie aus dem Gedächtnis verdrängt oder die damit verbundenen Gefühle dämpft. Eine solche Dissoziation kann zu einem dauerhaften Schutzmechanismus und so zu einer eigenen Störung werden, wie im Fall der dissoziativen Identitätsstörung oder der Depersonalisations-/Derealisationsstörung. Sie kann aber auch ein Symptom im Rahmen einer anderen Traumafolgestörung bilden, wie die emotionale Taubheit bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung.


Nota. - Seit zweihundert Jahren beherrscht wo nicht als Glaubenssatz, so immerhin als heimliche Referenz das scheinbar dynamische Konflikt-Modell der Psychoanalyse das psychiatrische Denken. Zwei autonome, aber antagonistische Energien liegen miteinander in einem Streit, der Schmerz verursacht und darum ins Reich der Unbewussten verdrängt wird - wo er erst recht Schmerz verursacht: nämlich umso mehr, als er ja nicht erkannt wird.

Keine psychiatrische Theoriebildung des 20. Jahrhunderts hat sich nicht daran orientiert, nämlich mindestens in Gegnerschaft. In dieser Lehre war nichts objektivierbar oder hätte irgendwie vermessen können, es war alles so oder auch anders interpretierbar, die Theorie fand ihre Grenzen allein in der engeren oder weiteren Phantasie des Analytikers, und ermöglichte großzügige Honorare.

Das hier vorliegende Modell ist nicht minder dynamisch und ant-agonisch, aber man kann einen Ort zeigen, wo etwas geschieht, und kann verstehen, warum es geschieht, denn die beteiligten Hirnpartien tun nichts anderes, als sie entwicklungsbedingt in allen Gehirnen tun, aber mal kommen sie nicht zusammen, wo sie einander finden sollten, und mal versperren sie einander den Weg. Das lässt sich zwar auch in diesem Modell nicht objektivieren, denn 'psychogen' und unberechenbar sind die Störungen auch hier; doch es wird einsichtig, wozu es geschieht: um einem unmittelbaren Schmerz auszuweichen - mit dem Risiko, dass sie einander dort, wo sie gespeichert werden, multiplizieren.

Und eins ist hier geklärt: Wie "unbewusst" das eine oder andere auch wäre - ihren Ort haben sie alle im Gehirn und nicht im Thymus oder der Bauchspeicheldrüse. Und zweitens haben sie auch ihren Moment: hier und jetzt. Nach Gesetzlichkeiten braucht man gar nicht erst zu suchen. Dafür kann man jetzt alle Phantasie auf den gegebenen Fall verwenden.
JE

 

Montag, 14. November 2022

Kulturelle Aneignung.

                                                                  zu öffentliche Angelegenheiten

Der erste Zweck einer Kultur mag es sein, ihre Träger ihrer Zusammengehörigkeit zu ver- gewissern. Ihr zweiter Zweck ist aber gewiss, ins Erbe der Menschheit einzugehen.

Das ist als eine historische Abfolge zu verstehen. Ist die erste Aufgabe erfüllt, tritt die zwei-te in den Vordergrund. Hatten die Rastafarians genügend Zeit, die Jamaikaner ihrer pp. Iden-tität zu versichern? Dann darf sich ein jeder auf der Welt zu Dreadlocks und Reggae beken-nen. Jamaica nützt das, und schwarz müssen sie auch nicht alle sein. Der Negus, der in ih-rem Glauben die Hauptrolle spielt, war ziemlich hellhäutig.



Donnerstag, 10. November 2022

Die Geburt einer ungelehrten Öffentlichkeit durch den Bauernkrieg.

1525                                                     zu öffentliche Angelegenheiten
aus FAZ.NET, 10. 11. 2022

PUBLIZISTIK DES BAUERNKRIEGS
Die Hassreden der Gutenberg-Galaxis
Das Internet hat die Hassrede nicht erfunden. Schon im Bauernkrieg blühten die Schmäh-schriften. Voraus ging eine andere Medienrevolution

von  Wolfgang Krischke

1520, drei Jahre nachdem Martin Luther seine Thesen veröffentlicht hatte, warnte der elsässische Humanist und Franziskanerpriester Thomas Murner vor einem gewissen Hans Karst. Aufgewiegelt von der Reformation, würden er und seine „ungelehrte und aufrühre-rische Gemeinde“ die christliche Ordnung bedrohen. Der Spottname Hans Karst oder auch Karsthans, der von der Bezeichnung einer Feldhacke abgeleitet ist, stand für das altherge-brachte Stereotyp des ungehobelten Bauerntölpels. Doch dieser Sinn wurde von Murners lutherischen Gegnern postwendend umgeprägt: In ihren Flugschriften mutierte der Karst-hans vom groben Klotz zum Typus des aufrechten, reformatorisch gesinnten Mannes aus dem Volk. Gewitzt und unverstellten Geistes bietet er dem „Mur-Narr“ und all den anderen akademisch verbildeten Theologen die Stirn. Hans Karst kann die Bibel zwar selbst nicht lesen, aber er versteht Gottes Wort besser als die gelehrten Geistlichen, die „mehr auf der Narrenwiese gevögelt als in der Heiligen Schrift studiert“ haben.

Schon bald nachdem die Flugschriften gegen Murner erschienen waren, wechselte die literarische Figur des Karsthans ins wirkliche Leben: Unter seinem Namen traten jetzt im Südwesten des Reiches reformatorische Wanderprediger auf. Die rustikale Schlichtheit dieser leibhaftigen Karsthänse war allerdings häufig nur Schau. So zum Beispiel bei einem ehemaligen Mönch, der die Schriften, die er mit sich führte, verkehrt herum hielt, um seinen Analphabetismus zu demonstrieren, während er seine offenbar auswendig gelernten Predigten druckreif vortrug.

Die einander hochschaukelnden Agitationsreden und Streitschriften dieser Jahre bildeten das kommunikative Vorfeld zum Bauernkrieg. Als der im Jahr 1524 mit Aufständen im Schwarzwald und am Bodensee losbrach und sich schnell ausdehnte, waren die echten an die Stelle der inszenierten Karsthänse getreten, um sich mit realen Hacken und Sensen gegen Adel und Obrigkeit zu erheben.

Welche Wirkungen die Texte und Bilder der Flugblätter und broschürenartigen Flugschriften auf die Entstehung und Dynamik des Bauernkrieges hatten, untersucht der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, der seit Kurzem Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg ist. Seine Ausgangsthese, dass ihnen eine Schlüsselrolle zukommt, liegt nahe. Schließlich gilt die aufs Engste mit dem Bauernkrieg verknüpfte Reformation als eines der ersten massenmedial gespeisten Großereignisse. Kaufmann selbst charakterisiert Luther in Analogie zu den Digital Natives der Gegenwart als einen Printing Native, eine durch und durch „typographische Existenz“, die ohne den Buchdruck nie zur geschichtsmächtigen Gestalt geworden wäre.

Doch wie konnten die Druckmedien unter den mehrheitlich analphabetischen Bauern überhaupt ihre Wirkung entfalten? Kaufmann verweist auf die Besonderheiten der frühneuzeitlichen Rezeption. Die Flugschriften, gedruckt in Auflagen von einigen Hundert, manchmal auch mehreren Tausend, wurden auf Märkten oder in den Druckereien vertrieben. Die damalige Gewohnheit, laut zu lesen, ließ Umstehende auch dann an der Lektüre teilhaben, wenn die Schriften nicht vorgelesen wurden. So erreichten die Pamphlete, Satiren und polemischen Dialoge auch viele, die sie nicht lesen oder sich ihren Kauf nicht leisten konnten. Eine etwas umfangreichere Flugschrift kostete immerhin so viel wie ein Pfund Honig – kaum erschwinglich für einen Tagelöhner.

Zurück ins emotionale Archaikum

Für Kaufmann liegt in dieser massenmedial erzeugten Kommunikation ein entscheidender Unterschied zu früheren bäuerlichen Aufständen. Sie erst brachte die verstreuten Erhebungen der Jahre 1524/25 in einen Zusammenhang und verknüpfte sie schon in den Augen der Zeitgenossen zu einem übergeordneten Ereignis. Zum wichtigsten publizistischen Bindeglied wurden die im März 1525 verfassten „Zwölf Artikel“, ein Manifest, das die Forderungen der Bauern von der Aufhebung der Leibeigenschaft über die Verminderung der Abgaben und Frondienste bis zur Freigabe von Jagd und Fischerei und zu dem Ende der Willkürjustiz aufführt. Verbreitet in zwei Dutzend Drucken, ist es einer der meistgedruckten Texte dieser Zeit. Er bildete die Grundlage für die programmatische Verständigung „aller Baurschafft“ und für das Zusammengehen mit der reformierten Bewegung und mit städtischen Bürgern.

Enorm war auch die Resonanz, die Luthers mediale Interventionen hervorriefen. Mit ihnen fügte sich der Reformator nach Kaufmanns Einschätzung den größten Rufschaden seiner Laufbahn zu. In seiner „Ermahnung zum Frieden auf die Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ vom April 1525 äußerte Luther noch gewisse Sympathien für die Forderungen der Bauern. Doch wenig später, als die Gewalt zunahm und die bestehende Ordnung bedroht schien, eiferte er „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“ und rief zum gnadenlosen Kampf gegen die Aufständischen auf. Luther selbst veröffentlichte diesen Text zusammen mit einem Nachdruck seiner ersten Bauernschrift, was sein anfängliches Wohlwollen demonstrieren sollte. Doch seine katholischen Gegner ließen das bauernfeindliche Pamphlet separat nachdrucken und veröffentlichten es in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Schlacht bei Frankenhausen, bei der Tausende der militärisch hoffnungslos unterlegenen Bauern niedergemetzelt wurden. Diese Umkontextualisierung – eine sehr modern anmutende Medienstrategie, die auch Luther gelegentlich einsetzte – ließ den Reformator mit seiner Kreuzzugsrhetorik als den unmittelbaren geistigen Urheber des Massakers erscheinen. Aus dem kühnen Rebellen war in vieler Augen ein „Fürstenknecht“ geworden.

Die publizistischen Auseinandersetzungen der reformatorischen Glaubenskämpfe und des Bauernkriegs waren von Hassreden, Pöbeleien und Beleidigungen geprägt, nicht selten gespickt mit Fäkaljargon und sexuellen Schmähungen. „Die Drucktechnik erreichte ein breites Publikum und schuf damit Resonanzräume, die eine Entfesselung der Polemik bewirkten“, sagt Thomas Kaufmann. Die nur rudimentär ausgeprägten staatlichen Institutionen der frühen Neuzeit konnten diese Entwicklungen nicht kontrollieren. Die aggressiven Energien und die sprachliche Drastik der vormodernen Medienkommunikation scheinen in den virtuellen Resonanzräumen der postmodernen Netzwerkkommunikation mit ihren Shitstorms eine Neuauflage zu erleben. „Zu sagen, dass wir wieder im emotionalen Archaikum angekommen sind, geht mir im Moment aber noch zu weit“, meint Thomas Kaufmann zum Forschungsstand. Kein Zweifel besteht jedenfalls an der Überwindung des medientechnischen Archaikums: Die Rasanz der digitalen Eskalationen vermochten die Druckerpressen noch nicht zu erzeugen.


Mittwoch, 9. November 2022

Jahrestag.

 Liebknecht, Totenmaske                                                                  zu öffentliche Angelegenheiten

Heute jährt sich nicht nur der Tag, an dem die von der SA organisierte Judenhatz den nationalsozialistischen Völkermord einläutete, und auch nicht nur der Tag, an dem die Berliner Mauer fiel.

Heute jährt sich vor allem der Tag, an dem Karl Liebknecht vom Berliner Schloss aus die Sozialistische Republik, und Philipp Scheidemann vom Reichstag aus 'die Republik' ausrief. 

Liebknecht hat das nicht lange überlebt, weil Scheidemanns Genossen die Freikorps nach Berlin riefen, um der deutschen Revolution ein Ende zu setzen. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gehörten zu ihren ersten Opfern. Scheidemann überlebte, aber kümmerte dahin wie seine "Weimarer" Republik. Die Konterrevolution, die er gerufen hatte, wurde er nicht mehr los, und die Revolution konnte die Schläge, die die Sozialdemokratie ihr versetzt hatte, nicht verwinden. 

Ohne sie wäre die "Kristallnacht" nicht möglich und der Fall der Berliner Mauer nicht nötig gewesen.



Dienstag, 8. November 2022

Was macht das mit uns...

                                        zu öffentliche Angelegenheiten

...wenn verschwurbelte Narrative viral gehen?
Ich sags euch: Dann sind wir ganz bei uns. 





Montag, 7. November 2022

Geschlecht, Gender und trans: Ein Schlusswort.

                                        zu Männlichzu öffentliche Angelegenheiten
aus nzz.ch, 4.11.2022

Es ist verpönt, das Verhalten von Männern und Frauen biologisch zu erklären. Das wäre jedoch wichtig, um einander besser zu verstehen.
Warum tun wir uns so schwer damit auszusprechen, was wir ohnehin ahnen: dass sich Männer und Frauen unterscheiden – zum Beispiel bei der Gewalt oder beim Sex.


von Reto U. Schneider

Wenn es in diesem Text um die bio­logischen Verhaltensunterschiede der Geschlechter im Tierreich ginge, dann könnte er ohne Umschweife mit den Breitfuss-Beutelmäusen beginnen, deren Männchen bis zu 14 Stunden kopulieren und danach – kaum ein Jahr alt – tot zusammenbrechen, während die Weibchen die Jungen zur Welt bringen und sich erneut fortpflanzen.

Aber dieser Text dreht sich um Verhaltensunterschiede bei Menschen und erfordert deshalb als erstes eine Definition.

Die Begriffe Mann und Frau meinen in diesem Artikel das biologische Geschlecht, wie es noch bis vor kurzem unumstritten war: Männer sind Menschen, die normalerweise viele kleine Spermien erzeugen, Frauen sind Menschen, die wenige grosse Eier bereitstellen. «Aus Sicht der Evolution ist das biologische Geschlecht binär. Beim Menschen gibt es zwei und nur zwei Geschlechter, die durch die Grösse der Keimzellen definiert sind. Es gibt keine Zwischenformen», sagt der Evolutionspsychologe David Buss von der University of Texas in Austin. Mittlerweile gibt es zwar Fachleute, die auch das biologische Geschlecht als Spektrum verstehen, etwa aufgrund unterschiedlicher Hormonspiegel oder Variationen bei der Ausbildung der Geschlechtsorgane. Aber die Einteilung in Spermienproduzenten und Eierproduzentinnen bleibt davon unberührt.

Diese binäre Einteilung der Geschlechter mag antiquiert klingen in einer Zeit, in der sich jede Stellenausschreibung an Männer, Frauen und Diverse wendet. Doch für Buss ist sie aus einem einfachen Grund sinnvoll: Einige der grössten durchschnittlichen Verhaltensunterschiede in der Psychologie treten zwischen Spermienproduzenten und Eierproduzentinnen auf. Manche lassen sich einfach durch die Umwelt erklären, etwa durch stereotype Erziehung oder die systematische Benachteiligung von Frauen. Andere blieben – soweit man das weiss – über alle Kulturen und Zeiten derart stabil, dass eine ausschliesslich gesellschaftliche Erklärung unwahrscheinlich scheint. Dazu gehören zum Beispiel die höhere Gewaltbereitschaft von Männern, ihr grösseres Verlangen nach Gelegenheitssex mit wechselnden Partnerinnen und Partnern oder ihre stärkere Reaktion auf visuelle erotische Reize.

In seinem neusten Buch, «When Men Behave Badly», zeigt David Buss auf, wie sich diese Unterschiede direkt aus der Grösse von Ei und Spermium und den dadurch vorgegebenen Rollen der Geschlechter bei der Fortpflanzung ergeben. Wie es dazu kommt, ist eigentlich schon lange bekannt und wird in immer neuen Studien bestätigt. In den Biologieunterricht oder in die Sexualpädagogik haben diese bio­logisch verankerten Differenzen bisher trotzdem kaum Eingang gefunden. Damit wird möglicherweise eine grosse Chance vergeben. «Sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen ist nach wie vor das am weitesten verbreitete Menschenrechtsproblem der Welt», sagt Buss, «die Aufklärung darüber, dass Männer und Frauen ein unterschiedliches sexuelles Innenleben haben, wäre da hilfreich.» Auch die Evolutionspsychologin Maryanne Fisher von der Saint Mary’s University in Halifax, Kanada, ist der Meinung, dass die Kenntnis der ausgeprägten geschlechtsspezifischen Unterschiede den Menschen helfen könnte, «sich in ihren Beziehungen zurechtzufinden, sich selbst besser zu verstehen oder vergangene Situationen zu verarbeiten».

In der Weiterbildung von Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen werde neben den Sozialwissenschaften auch die Evolutionspsychologie einbezogen, sagt Daniel Kunz, Fachmann für sexuelle Gesundheit an der Hochschule Luzern. Auch er beobachtet Unterschiede zwischen Männern und Frauen: etwa dass Männer viel stärker auf Pornographie ansprechen und sich häufiger selbst befriedigen. Wie diese markanten Unterschiede in der Evolution entstehen konnten, wird allerdings nicht behandelt. «Die Sexualpädagogik ist sehr pragmatisch und auf die Lebenswelt der Jugendlichen ausgerichtet. Sie soll Wissen liefern, das dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen entspricht.» Wie das genau geschehe, hänge stark von den Lehrpersonen ab. beiden Geschlechter in ihrem Sexualverhalten aus evolutionären Gründen grundsätzlich unterscheiden. In Hintergrundgesprächen zeigten mehrere Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen grosse Skepsis gegenüber biologischen Erklärungen. In gesichteten Unterrichtsmaterialien taucht das Thema gar nicht erst auf. «Manche Leute scheinen zu glauben, dass die Evolution ein Prozess sei, der zwar auf den menschlichen Körper angewandt wurde, aber nicht auf das menschliche Gehirn», sagt David Buss.

Eine Schwierigkeit vermutet Buss darin, dass viele Lehrpersonen gar nicht wüssten, wie die unterschiedliche Fortpflanzungsbiologie von Mann und Frau durch die Evolution zu den geschlechtstypischen Verhalten führten.

Hier die Kurzversion: Die Evolutionspsychologie geht davon aus, dass unsere Gefühle und Verlangen Resultat der Evolution während unserer Stammesgeschichte sind, die wir in einer Welt ohne Kinderkrippen, Verhütungsmittel und Pornographie verbrachten. Sex bedeutete damals immer die Möglichkeit, Kinder zu zeugen, und nackte Menschen gab es nur zu sehen, wenn sie vor einem standen.

In dieser Welt hat die kalte Logik der natürlichen Auslese jenen Erb­anlagen zum Durchbruch verholfen, die ein Verhalten begünstigten, das zu mehr Nachwuchs führte. Wie der Bauplan der Gebärmutter oder der Hoden, so wurde auch der Bauplan des Gehirns, das diese Verhalten erzeugte, an die nächste Generation weitergegeben.

Das ist kein aktiver Vorgang. Vielmehr sorgten zufällige Mutationen im Erbgut für immer neue Eigenschaften, von denen sich einige wenige positiv auf die Zahl der Nachkommen auswirkten.

Die Tragik des Menschen, die Sexualtherapeuten und Eheberaterinnen bis heute viel Arbeit beschert, liegt nun darin, dass das Verhalten, das einem einzelnen Mann die meisten Nachkommen verschaffte, nicht dasselbe ist, das einer Frau viele Kinder bescherte. Da die Geschlechter aber zusammenkommen müssen, um ein Kind zu zeugen, kommt es zu dem, was in der Evolutionspsychologie strategische Interferenz heisst, die Wurzel von Missverständnissen, Täuschungen und Konflikten.

Die Spannung entsteht, weil sich die biologische Investition der Geschlechter in den Nachwuchs dramatisch unterscheidet. Für den Mann waren es im Extremfall fünf Minuten Sex und ein Kaffeelöffel Sperma aus einem unerschöpflichen Vorrat. Für die Frau hingegen ein kostbares Ei, neun Monate Schwangerschaft, eine gefährliche Geburt und schliesslich ein Säugling, der über mehrere Jahre gestillt werden musste.

Die Gene der Frauen gelangten in die nächste Generation, wenn sie ihre Sexualpartner sorgfältig auswählten, denn die Überlebenschancen ihrer Kinder stieg, wenn der Vater nach der Zeugung nicht abhaute, sondern die Familie versorgte. Auch für Männer lohnt sich aus evolutionärer Sicht dieses Modell, doch weil sie nach der Zeugung kein Kind austragen mussten, konnten sie durch zusätzlichen Sex mit anderen Frauen die Anzahl ihrer Kinder erhöhen.

Die biologisch verankerten Verhalten werden nicht bewusst gesteuert, sonst würden sich die Männer heute bei Samenbanken anstellen, um ihr Erbgut möglichst weit zu verbreiten. Kein Mann denkt, ich muss mit jeder Frau ins Bett, damit meine Gene in vielen Kindern weiterbestehen. Vielmehr haben sich bestimmte Triebe, Gefühle und Verlangen als vorteilhaft für den Fortpflanzungserfolg erwiesen. Männer, deren Gehirn sich von einer Frau zum Beispiel schnell sexuell erregen liess und die rasch zu Sex mit unterschiedlichen Frauen bereit waren, hinterliessen ganz einfach mehr Nachkommen mit diesen Neigungen. Bei Frauen war das nicht der Fall: egal mit wie vielen Männern sie schliefen, sie konnten ihr Erbgut höchstens einmal alle neun Monate in die nächste Generation schleusen.

Das klingt alles nach üblen sexistischen Klischees aus dem letzten Jahrhundert, und man versteht die Zurückhaltung der Sexualpädagogik, diese Zusammenhänge zu vermitteln. Daniel Kunz von der Hochschule Luzern erinnert daran, dass es noch nicht lange her ist, als man das Verhalten sexuell übergriffiger Männer mit der Biologie entschuldigte. «Die Männer müssen sich halt die Hörner abstossen», hiess es da oder «die Hormone sind mit ihm durchgegangen».

Doch nicht die Beschreibung der unterschiedlichen Sexualpsychologie von Mann und Frau ist sexistisch, sondern die Idee, dass moralisch richtig sei, was die Natur hervorgebracht habe; die Erwartung, dass uns die Evolution eine ethische Richtschnur bereitstelle. «Genauso wie die Untersuchung der vielfältigen Ursachen von Krebs nicht bedeutet, dass man Krebs für eine gute Sache hält, bedeutet die Untersuchung der vielfältigen Faktoren, die zu sexueller Nötigung beitragen, nicht, dass sexuelle Nötigung in irgendeiner Weise akzeptabel ist», sagt David Buss. Die Evolution hat weder Glück noch Moral zum Ziel. Sie erzeugt ganz von selbst jene Eigenschaften, die zu den meisten Nachkommen führen. «Die Evolution ist von Natur aus amoralisch und gleichgültig gegenüber dem Leiden, das sie verursacht», sagt David Buss, «sie hat einige unangenehme menschliche Anpassungen hervorgebracht.»

Nachdem die Männer lange Zeit jeden biologischen Vorwand benutzt hatten, um die Frauen zu bevormunden und in ihrer sexuellen Selbstbestimmung einzuschränken, wendeten sich viele Feministinnen gegen die Idee, gewisse typische Geschlechterverhalten könnten biologischen Ursprungs sein. Das ist bis heute so geblieben.

Weil wir nicht in der Zeit zurückreisen und der Evolution bei der Arbeit zuschauen können, ruht der Nachweis der evolutionären Herkunft der Geschlechterunterschiede immer auf einem Indizienbeweis.

Doch in einem besonderen Fall lässt sich dieser lückenlos führen, weil dieses Verhalten sichtbare Spuren am Körper hinterlassen hat: bei der Gewalt.

Dass Männer im Durchschnitt gewalttätiger sind als Frauen, gehört zu den traurigen Konstanten der Menschheit. Dass dieser Unterschied teilweise biologischen Ursprungs sein muss, beweist die Körpergrösse. Männer sind im Mittel grösser und kräftiger gebaut als Frauen. Die Evolution ist aber ein effizienter Prozess, der nicht grundlos einen kräftigen Körper herstellt. Es ist unmöglich, den Unterschied im Körperbau zu erklären, ohne anzunehmen, dass Kämpfen in der Evolutionsgeschichte des Mannes eine wichtige Rolle gespielt habe. Der kräftige Körper ist fleischgewordenes Verhalten.

Bei der Gewalt zeigt sich aber auch eindrücklich, dass wir nicht Sklaven unserer Gene sind. In der Liste mit den Tötungen pro 100000 Einwohner offenbart zwar jedes Land den grossen Unterschied zwischen Männern und Frauen, aber ein Vergleich der Länder untereinander belegt die Macht der Lebensumstände: in Jamaika wird 285 Mal häufiger gemordet als in Japan. Das hat nichts mit Biologie zu tun.

Auch das Verlangen der Männer nach Gelegenheitssex folgt einer plausiblen evolutionären Erklärung und zeigt sich über alle Kulturen, politischen Schattierungen und Zeiten weg. In einer Studie mit 16288 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus 52 Nationen von Argentinien bis Simbabwe wünschten sich Männer im folgenden Monat durchschnittlich 1,87 Sexpartner, Frauen 0,87. In den nächsten zehn Jahren wollten Männer sechs verschiedene Frauen, Frauen aber nur zwei Männer. Aus anderer Perspektive sind die Unterschiede noch grösser. In Südamerika wollten 35 Prozent der Männer im nächsten Monat mehr als einen Sexpartner aber nur 6 Prozent der Frauen, in Japan waren es 18 Prozent der Männer und 2,6 Prozent der Frauen.

Auf Datingwebsites zeigt sich das gleiche Bild: Für ein Experiment haben Forscher vierzehn männliche und weibliche Profile auf Tinder geladen. Auf die Profile der Frauen reagierten 8248 Männer, auf jene der Männer magere 532 Frauen. Besonders dramatisch sind die Zahlen der Fremdgehseite Ashley Madison, die 2013 gehackt wurde. Dort suchten 20 Millionen Männer nach einer Affäre mit bloss 1492 registrierten Frauen – jede Frau hätte 13404 Männer abbekommen. Um zu einem ausgeglicheneren Geschlechterverhältnis zu kommen, mussten die Angestellten 70000 gefälschte Profile von Frauen anlegen.

Was geschieht, wenn männliche Sexualpsychologie ungebremst auf sich selber trifft, zeigen Untersuchungen bei homosexuellen Männern. Ihre durchschnittliche Zahl von Sexualpartnern ist sechs bis acht Mal höher als jene heterosexueller Männer und auch viel höher als jene lesbischer Frauen.

Doch könnten junge Leute überhaupt einen Nutzen aus diesem Wissen ziehen? «Die evolutionäre Sichtweise ist ganz pragmatisch im Alltagswissen der Jugendlichen verankert», sagt Daniel Kunz. Sie ausschliesslich an sozialwissenschaftliche Fakten und nicht auch an die Biologie zu binden sei vielleicht eine gewisse Schwäche.

Warum also nicht aussprechen, was die jungen Leute ohnehin ahnen: dass sich Männer und Frauen im Durchschnitt unterscheiden und dass manche dieser Unterschiede soziale Gründe haben, andere aber biologische. Und dass es darum geht, einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen Unterschieden zu finden, weil einige davon nie verschwinden werden.

Was geschehen kann, wenn man glaubt, die Sexualpsychologie der Geschlechter sei identisch, zeigt ein junger Brauch aus der Digitalpornographie: das Dick-Pic, das Versenden von Handybildern «dekontextualisierter männlicher Genitalien». «Manche Männer wollen Frauen damit vielleicht schockieren oder verärgern», sagt David Buss, «aber viele denken: ‹Ich fände es attraktiv, wenn mir eine Frau Nacktbilder schicken würde, also schicke ich ihr ein Pimmel-Bild.›» Ein Fall von «Totalversagen in intrasexuellem Gedankenlesen», wie Buss es nennt: von den Vorstellungen des eigenen Geschlechts auf jene des anderen schliessen.

Selbst in kapitalistischen Staaten, in denen sich die Bevölkerung Spaghetti aus der Dose und Nasenhaartrimmer aufschwatzen liess, gelang es nie, den Frauen die Pornographie im grossen Stil zu verkaufen. «Playgirl», das zur Blütezeit des Feminismus gegründete Erotikmagazin für Frauen, wurde vor allem von homosexuellen Männern gekauft.

Buss hatte noch andere Fehleinschätzungen entdeckt. Eine davon: Viele Männer überschätzen systematisch das Interesse von Frauen an ihnen. «Sie sollten wissen, dass die Frauen, die sie anlächeln, in den meisten Fällen nur freundlich oder höflich sind und kein sexuelles Interesse signalisieren», sagt Buss. Und gleichzeitig müssten Frauen wissen, dass viele Männer dazu neigen, schon aus den kleinsten Anzeichen auf sexuelle Anziehung zu schliessen. Diese evolutionäre Logik zeigt sich auch bei der unterschiedlichen Wahrnehmung sexueller Belästigung. In einer Befragung gaben 63 Prozent der Frauen an, sie würden sich belästigt fühlen, wenn ein Mann sie um Sex bäte. 67 Prozent der Männer wären im umgekehrten Fall geschmeichelt. Auch wenn es nicht auf magische Weise alle Probleme löst, findet Buss, es wäre ein erster Schritt, diese Asymmetrien anzuerkennen.

Die Evolutionspsychologie schliesst übrigens weder andere sexuelle Orientierungen noch fluide Geschlechter aus, sie legt bloss nahe, wie einige der grossen durchschnittlichen Unterschiede zwischen Spermienproduzenten und Eierproduzentinnen entstanden sind. Dass es bei einem so komplizierten System wie dem Menschen viele und starke Abweichungen vom Durchschnitt gibt, ist keine Überraschung. Diese Streuung ist genauso ein biologisches Phänomen wie die durchschnittlichen Unterschiede. Deshalb darf man auch nie von einem Mittelwert auf eine einzelne Personen schliessen. Die Frauenrechtsaktivistin Louise Perry sagt es in ihrem Buch «The Case Against the Sexual Revolution» so: «Wir können gleichzeitig darauf bestehen, dass es viele Ausnahmen von der Regel gibt und dass es nichts Schlimmes ist, eine Ausnahme von der Regel zu sein, während wir zugleich die Existenz der Regel anerkennen.»

Auch die britische Philosophin Helena Cronin hält fluide Geschlechter problemlos mit der Evolutionspsychologie vereinbar. «Die fluiden Geschlechter sind Teilmengen innerhalb der Hauptmenge einer sich sexuell fortpflanzenden Spezies, die sich mittels zweier Geschlechter reproduziert.» Ohne zwei differenzierte Geschlechter gäbe es so etwas wie Fluidität nicht; es gäbe nichts, in dem man «fluid» sein könnte.

David Buss wird nächstes Jahr 70 Jahre alt. Dass der Widerstand, der ihm entgegenschlägt, in den vergangenen Jahrzehnten nicht kleiner geworden ist, trägt er mit Fassung. Es ist keine Überraschung, wo er eine Erklärung dafür gefunden hat: «Die Evolution hat den Menschen halt nicht als objektiven Wissenschafter geschaffen, sondern als parteiischen und ideologischen Interessenvertreter.»


Nota. - Ich denke, damit ist alles gesagt, was des Lesens wert ist. Ich werde es dabei belassen, solange sich nicht eine Transperson an Duchamps Magnum opus festklebt.

Ich übrigen glaube ich, dass der von alters her so genannte Geschlechterkampf auch die nächsten hundert Generationen überdauern wird.

JE

Dienstag, 1. November 2022

Oskar Zwintscher im Albertinum.

Unter der Überschrift Der sächsische Klimt bringt der Berliner Tagesspiegel heute einen Bericht über eine Ausstellung in Dresden:

"Das Albertinum Dresden feiert die späte Wiederentdeckung des Fin-de-Siècle Malers Oskar Zwintscher mit eine Retrospektive unter dem Titel Weltflucht und Moderne."

Hier ein früherer Beitrag aus meinen Geschmackssachen

Der entschlossen Unmoderne: Oskar Zwintscher in Dresden.


aus FAZ.NET, 31. 5. 2022                Oskar Zwintscher Selbstbildnis mit Tod 1897                   zu Geschmackssachen

Sächsischer Klimt in Ziegelrot
Oskar Zwintscher war bislang der große Unbekannte der Malerei um 1900. Dresdens Albertinum ändert das nun glänzend.

Von Stefan Trinks

Es gilt, eine Neuentdeckung zu feiern: Den 1870 in Leipzig geborenen und schon 1916 mit nur 46 Jahren in Dresden verstorbenen Fin-de-siècle-Maler Oskar Zwintscher. Er ist der große Unbekannte der Kunst um 1900, obwohl man ihn nicht ohne Grund den „sächsi-schen Klimt“ nannte – mit Klimt war er befreundet und stellte ge­mein­sam mit ihm aus. Malerisch kann Zwintscher allemal mit den Symbolisten Böcklin, Hodler und Klimt mithalten. Sein Dresdner „Bildnis einer Dame mit Zigarette“ von 1904 ist eine Ikone der selbstbewussten Frau, die in der Lebensreformbewegung und im Jugendstil eine völlig neue Wahrnehmung erfuhr.

Die frontal uns ge­gen­über­sitzen­de Rothaarige mit den großen grünen Augen lässt sich vom Betrachter nicht begaffen, sie hält dem Blick mühelos stand – dem Gesichtsausdruck nach zu schließen auch intellektuell. Im lockeren, korsettlosen Reformkleid sitzt sie Schwarz vor Schwarz – wüsste man es nicht besser, hielte man sie für eine französische Intellektuelle der Sechzigerjahre – mit überschlagenen Beinen da, während die auf dem Knie ruhende Hand grazil eine Zigarette hält, deren Spitze tiefrot glimmt. Dass Zwintschers Bild mit vollem Recht den abgegriffenen Titel „Ikone“ verdient, lässt sich an drei Alleinstellungsmerkmalen erkennen: ungewöhnliche, ausdrucksstarke Augen, auf den Kopf gestellte Formen (Hals und Handrücken der Selbstbewussten sind modern als Fläche „zugespachtelt“, um die filigranen Finger und das fotografisch präzise modellierte Ge­sicht umso feiner wirken zu lassen) und ein Farbeinsatz, der nicht einmal den wildesten Symbolisten einfiel. Mit dem Feuerrot der Zigarettenglut lodert zudem ein inneres Feuer des früh Vollendeten aus dem Bild, das seinesgleichen sucht.

Bildnis einer Dame mit Zigarette

Ohne die begüterte Frau wäre er wohl verhungert

Im Dresdner Albertinum ist dem Maler nun eine Einzelausstellung gewidmet. Fünfzig Gemälde stammen von ihm, der insgesamt nur 140 Gemälde hinterlassen hat, von denen noch einmal ein Großteil verschollen ist oder in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in Dresden verloren ging. Fünfzig weitere Werke sind von be­freundeten Malern wie Klimt, bewunderten wie Böcklin und Hodler oder Zwintschers „Nachfolgern“. Selbst in Dresden ist es erst die zweite Schau nach 1982, obwohl der Maler hier den Großteil seines Lebens verbrachte. Das Albertinum besitzt zwar mit fünfzehn Gemälden den größten Ei­gen­bestand an Zwintscher, doch geriet er rasch in Vergessenheit durch seinen jähen Tod inmitten des Ersten Weltkriegs, den Stilwechsel zum Expressionismus schon zu seinen Lebzeiten sowie durch fehlende Schülerschaft – dabei lehrte er seit 1903, also bereits mit nur 33 Jahren, als Professor an der Kunstakademie in Dresden. Erschwerend hinzu kam Zwintschers geradezu legendäre Geschäftsuntüchtigkeit ohne nennenswerte Netzwerke, die ihm ein ruhmreiches Nachleben gesichert hätten. Aus finanzieller Not zeichnete er zahlreiche Karikaturen für die Meggendorfer Blätter, einem politisch milderen Konkurrenten des „Simplicissimus“.

"Die Herrin tadelt den Diener", 1896, aus Meggendorfer Blätter

Die Ausstellung im Albertinum beginnt sensibel damit, anhand gut ausgewählter Beispiele erst einmal ein Bewusstsein für die malerischen Qualitäten Zwintschers herzustellen. Das erste Bild rechts vom Eingang, „Mondnacht“ von 1897, könnte eine Kitschszene aus der romantikseligen Heidelberger Altstadt des neunzehnten Jahrhunderts sein, wären da nicht die roten Dächer und vor allem fast psychedelisch wilde Jugendstilranken am Gemäuer.

Daneben hängt eins seiner vielen Selbstbildnisse, in denen er sich als „altdeutscher“ Malerrebell mit meist längerem of­fe­nem Lockenhaar inszeniert; auf jenem in Holbeins Malertradition von 1895 ist sein rechtes Bernsteinauge verschattet, das linke strahlt grün aus dem Bild. Es folgen die spektakulären „Roten Dächer – Meißen“ von 1905 als Orgie in Ziegelrot. Wie Schiele immer wieder die organischen Dachlandschaften seines ge­liebten Krumau porträtierte, zeigt Zwintscher die Dächer Meißens, wo er jahrelang lebte und arbeitete, wie sonnenverbrannte Epidermis fließend ineinander übergehend oder wie ein wogendes Feld leuchtenden Klatschmohns. Dass es ihm dabei nicht um eine perspektivisch korrekte Darstellung geht, unterstreicht der schwarze Keil der gotischen Domterrasse, der von seinem Bergsporn geradezu surreal kantig in das Fleisch der roten Dachhäute zu schneiden scheint.

 

Rote Dächer (Meißen) 1905

Auch auf dem Vorgängerbild von 1895 leuchten diese flammend als Fläche aus dem Bild. Zwintscher war also nicht nur begnadeter und gefragter Porträtist, auch seine Landschaften hätten die Kunst revolutioniert, wenn das Œuvre nicht so frühzeitig abgebrochen wäre. Beleg dafür ist das extreme Hochformat „Frühling“, auf dem ein Knabe mit Querflöte vor einer mächtigen Bergzinne musiziert, während drei Viertel des Bildes von einem stechenden Himmelblau als Fläche eingenommen werden. Ein Jahr später steigert er dieses Verhältnis noch, indem auf „Der Sommertag“ nun sechs Siebtel des Hochformates mit Azur gefüllt sind, während weit oben ein Raubvogel vor diesem ab­strakten Hintergrund und im Weiß einer leonardesk eine Fratze bildenden Wolke einsam seine Kreise zieht.

Frühling, 1894

Ein Kennzeichen von Zwintschers Landschaften liegt darin, dass größere Teile von ihnen wie Denkblasen konturiert und flächig in einer traumschönen Endlos-Skala von Grüntönen abstrahiert sind, während andere Partien im Hintergrund beinahe fotorealistisch nach vorn gezogen werden. Auf „O Wandern, O Wandern!“ von 1903 sind das beispielsweise acht feuerrote Dächer in einem weit entfernten Tal, die hell aus dem wogenden Grün stechen. So nimmt es auch nicht wunder, dass auf einem Bildnis-Paar von Zwintscher und seiner Dutzende Male als Modell und Muse por­trätierten Frau Adele, die er 1893 als Tochter eines wohlhabenden Böttchers in Meißen kennen und lieben gelernt hatte, die Hälfte seines „Selbstbildnisses mit Tod“ von roten Dächern eingenommen wird, während auf dem Pendant des Bildpaares „Adele als Braut“ die Gemäldehälfte neben der Porträtierten von stark abstrahierten Birken bedeckt ist – was Malern bei diesem streng schwarz-weiß gemusterten Baum ja stets leichtfällt.

Eltern und Bürgermeister in Tannengrün

Hintergrund auch der beiden in einem Rahmen zusammengefassten und wiederum von Holbein inspirierten „Bildnisse meiner Eltern“ von 1901 ist ein waldtiefes Tannengrün, ebenso wie neun Jahre später das überlebensgroße „Bildnis des Oberbürgermeisters Dr. Beutler“ von einem tannengrünen Vorhang und einem gleichfarbigen Samtfrack mit den vielen Orden des Honoratioren geprägt wird. Zwintschers Signaturfarben sind dementsprechend außergewöhnliche ziegelrote Töne und ein Tannengrün, das noch über jenes vom Jugendstil geliebte hinausgeht. Wiederzuerkennen ist er ebenfalls an den stets übergroßen leuchtenden Augen, die geradewegs in die Seele der Porträtierten, vor allem seiner Frau Adele mit ihrem manchmal fast überzeichnet wirkenden Augenpaar, leiten und diese auszuloten scheinen.

Diesem psychologisierenden Durchröntgen hielt nicht jeder stand. Im Jahr 1902 fährt Zwintscher auf Einladung des Malerfreundes Heinrich Vogeler in die Künstlerkolonie Worpswede, wo er Otto und Paula Modersohn-Becker trifft, vor allem aber Clara Rilke-Westhoff porträtiert. Von deren meist ein face ins beste Licht gerückten Attraktivität auf Fotografien bleibt auf Zwintschers Porträt nicht viel übrig. Er dreht sie ins Halbprofil, wodurch die auffällig breiten Julia-Roberts-Lippen zu einem verkniffenen Mund entgleisen, was wie Unsicherheit oder Verstellung wirkt. Zeitlebens behält er das Bild in seinem Dresdener Atelier, weil Rilke es ihm nicht abnimmt. Auch diesen porträtiert er auf moderne Weise, aber nicht im erwartbaren Worpsweder Naturidyll, vielmehr leicht von oben gesehen in einem Innenraum mit Fenster und mit irrlichternden Augen, vielleicht etwas zu sehr auf deinen jungenhaften Charme bei Frauen vertrauend. Auch dieses heute verschollene Bildnis kauft der Dichter Zwintscher nicht ab, wohl nicht zuletzt, weil dieser ihn auf einem Titelblatt der Meggendorfer Blätter als kleinen Mann neben der hochgewachsenen Clara karikiert hat. Selbstkritik oder Humor zählten bekanntlich nicht zu Rilkes Stärken.

Seine Errungenschaft sind demnach beinahe immer mit der Persönlichkeit der Dargestellten korrespondierende Hintergründe, deren oft der Natur entlehnte Symbolik er in der Manier des Jugendstils mit der jeweiligen Person verschmilzt. Weil er die Porträtierten ungewöhnlicherweise nicht auf der Grundierung der Gemälde vorzeichnete und ständig Änderungen vornahm, entstehen oft erstaunliche Formlösungen ohne Vorbild in der Kunstgeschichte. Das lebensgroße Bildnis seiner verehrten Adele ist das schlagendste Beispiel der Schau hierfür. Sie steht burschikos in Hosen und ganz in Schwarz mit weißem Spitzenkragen vor einem - natürlich tannengrünen - Granatapfeldekor. Ihren linken Arm stemmt sie in die Hüfte. Ihre rechte Hand ist abgewinkelt, als ruhe sie auf einer Lehne, doch ist da kein Stuhl. Ursprünglich saß Adele in dem Hochformat, wie das Röntgenbild belegt. Dann setzte ihr Zwintscher einen Hut auf den Kopf, stellte sie auf und ließ sie sich abstützen. Im Malprozess warf er all das über den Haufen. Zurück blieb die prekäre Balance einer selbstbewussten Frau, die auch im buchstäblichen Nichts offenbar dennoch einen festen Halt zu finden vermag.

Warum aber wurde Zwintscher der sächsische Klimt genannt? Aus gleich mehreren Gründen. Auch Klimt verband Jugendstil mit Symbolismus, war wie er ein begnadeter Zeichner der Frauen und stellte mit diesem gemeinsam aus. In Zwintschers „Fruchtsegen“, mit einer Art Madonna über paradiesischem Obstbaumhang, meint man Klimts „Apfelbaum“ zu erkennen. Es kann jedoch auch gerade umgekehrt sein, und Gustav Klimt hat das Motiv von seinem Dresdner Kollegen übernommen. Angesichts der Qualität dieser wiederentdeckten Malerei würde das niemanden verwundern.

Weltflucht und Moderne. Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900. Im Albertinum, Dresden; bis 15. Januar 2023. Der hervorragend gestaltete Katalog im Sandstein-Verlag kostet 42 Euro.

 

aus schmiertiger, 29. 5. 2022
 
Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 im Albertinum

 O Wandern, o Wandern! 1903

Oskar Zwintscher (1870 – 1960) zählt nicht zu den ganz großen Namen der Kunstgeschichte, die weltweit Menschen in Museen ziehen. In Dresden und Umgebung aber, wo er überwiegend wirkte, kennt man seine Bilder von den Wänden der Städtischen Galerien sowie des Albertinums. Größeren Ruhm genoss er wohl zu seiner Zeit: 1910 brachte er es zu einer Einzelausstellung auf der Biennale in Venedig. Die neu eröffnete große Werkschau Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900, der auch ein zweijähriges Forschungsprojekt vorausging, bringt Oskar Zwintscher und Weggefährten neu in Erinnerung.

 Fruchtsegen, 1913

Träumerische, fast, märchenhafte Landschaften bei Tag und Nacht, in Meißen und Umgebung, meistens im Frühling, empfangen den Besucher der Ausstellung: Oskar Zwintscher, geboren in Leipzig, studierte in Dresden und lebte in Meißen, hielt mit dem Pinsel fest, was ihm nah war. Gleich mehrmals begegnen dem Besucher Selbstportraits und Bildnisse seiner Frau, die Dächer Meissens bei Tag und Nacht sowie des nahen Spaargebirges. Die Romantik und der folgende Impressionismus, den Zwinscher wohl nicht schätzte, waren vorbei und die Zeit des Historismus, des Jugendstils, des Realismus und des Symbolismus waren gekommen. Ohne die Erläuterungen zu den Bildern gelesen zu haben, erwecken gerade die frühen Landschaftsmalereien mit blauem, weiten Himmel, blühender Natur, in der Menschen als Teil der Szenerie erscheinen, das Gefühl, als hätte impressionistische Leichtigkeit die Melancholie der Romantik verweht. Aber das ist mehr Wirkung als Stilistik. Die hellen Farben, die realen Vorlagen, der Frühling sprechen die Sprache des Jugendstils. Es sind also überaus angenehm zu betrachtende Bilder, die, meteorologisch betrachtet, natürlich wunderbar in die Saison passen.

Proschwitzer Höhe bei Meißen. Um 1893.

Dem Jugendstil hängt ja auch der vermeintliche Makel des Dekorativen an. Schön anzusehen, aber nicht ohne Inhalt sind Zwintschers Gemälde, die in der Bildfindung neben realen Orten und Personen oft Bezug auf antike und religiöse Motive nehmen, vor allem in den eher dem Symbolismus zuzuordnen Werken. In den Bildern schwingen neue Einstellungen zu den Geschlechtern mit. Nacktheit, die nicht allein auf Jugend und Schönheit reduziert ist, wird immer wieder dargestellt. Bemerkenswert sind die Frauenbildnisse, für die oft Oskar Zwintschers Frau Adele Vorbild war. Mit selbstbewusstem Blick schauen sie nach vorn, werden selbst nackt nicht um Objekt des männlichen Blicks. “Gold und Perlmutter” (1909) zeigt Adele als stolze Venusfigur, die, mit nichts als Schmuck bekleidet, sich stolz dem Betrachter präsentiert, ohne erste Alterungserscheinungen zu verstecken. “Gram” zeigt einen von Trauer bedrückten Mann über den nackten Leichnam seiner Frau. Eines seiner bekanntesten Bilder, “Bildnis einer Dame mit Zigarette” (1904), zeigt eine streng, fast herausfordernd schauende junge Frau.

Gold und Perlmutter (1909)

Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 zeigt mehr als einnehmende Portraits und schöne Frühlingslandschaften, sondern präsentiert auch die Forschungsergebnisse eines vorausgegangenen Projekts. Der Besucher bekommt somit Einblicke in die vielseitige Maltechnik des Künstlers – zum Teil mit Röntgenblick, der die Komposition unter dem fertigen Bild preisgibt. Natürlich bringt die Ausstellung Informationen zum biografischen und kunsthistorischen Kontext zusammen, zu sehen ist so auch das zur Kriegszeit als Auftragsarbeit entstandene Bild “Der Sieger”, das mit seinem plumpen Symbolismus weniger gefällt. Ebenso ausgestellt sind Gemälde von Zeitgenossen wie Gustav Klimt, Ferdinand Hodler oder Paula Modersohn-Becker. Fotografien, Exponate zum Malwerkzeug Zwintschers sowie Arbeiten für Magazine komplettieren eine Schau, die man sich wirklich nicht entgehen lassen sollte.

Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 ist bis zum 15.01.2023 im Albertinum zu sehen.

 

Nota. - Nach Shirley Jaffe und Judit Reigl schon wieder eine Offenbarung! Auch ich habe von Oskar Zwintscher nie etwas gehört oder gar gesehen, dabei ist er für einen ganz Vergessenen im Internet reichlich vertreten, die obigen Beiträge zu illustrieren war ganz einfach. 

Mit der künstlerischen Bewertung ist es schwieriger. Denn reflexhaft drängt sich eine kunsthistorische Einordnung auf, aber die ist für Galeristen und Käufer interessant, das einfach Publikum will doch zuerst einmal etwas sehen, und das ist ein ästhetischer Akt 

In einem Katalogeintrag fand ich folgende Formulierung: "Beispiel für den Übergang des reifenden Malers vom realistischen Naturalismus zum Symbolismus und schließlich zur neuen Sachlichkeit. Es zeigt beachtliche Ähnlichkeit zum 1895 geschaffenen Selbstbildnis Zwintschers. Aufgelöste Formen und Grenzen vermitteln noch impressionistische Züge." 

Da fällt mir ein: Zwintscher ist dehalb im Internet so leicht zu finden, weil seine Sachen noch zu Verkauf stehen! Wirklich künstlerisch wäre aber nicht der Umstand, dass er dieser oder jener Richtung zugerechnet werden kann, sondern dass die Zuordnung etwas Erzwungenes hat. Er hat vielmehr so gemalt, wie er es wollte. 

Als er jung war, wäre es ein Zeichen von Überheblichkeit gewesen, wenn er nicht die Malweisen versucht hätte, die seine Zeitgenossen gerade bedienten. Natürlich war am Anfang ein impressionistischer Anklang zu bemerken:

 

Auch Anklänge an Victorian aestheticism fehlen nicht:

Knabe mit Lilie, 1904

Symbolismus:

Die Melodie 1903

Spielende Trolle (Sturm) 1895

Weidenbäume bei Nacht 1904

Jugendstil:

Bildnis der Gattin des Künstlers am Meer, 1912


Bildnis der Gattin des Künstlers

 

Hodler:


Begegnung, 1914

Einen Anklang an Klimt habe ich tatsächlich nur dies ein Mal gefunden:

Fruchtsegen Datun? 

Aber das sind Anklänge, keine Nachahmungen; ein Maler, der sich nicht beeindrucken ließe von dem, was es um ihn herum zu sehen gibt, hätte die falsche Kunstgattung gewählt. Zwintscher malt immer ein ganz eigenes Bild. Weder schließt er sich einer Richtung an, noch sorgt er sich um eine unverkennbar eigene Handschrift. Doch vor allen Dingen ist ihm an Avantgarde kein bisschen gelegen. Er ist ganz sorglos unmodern.
JE, 
1. 6. 2022




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