Freitag, 31. März 2023

Typisch deutsch verschaltet.


aus spektrum.de, 30. 3. 2023                                                   
Die Diffusions-Tensor-Bildgebung, eine Form der Magnetresonanz-tomografie, macht die Verdrahtung von Hirnarealen sichtbar                                                                         zu Jochen Ebmeiers Realien 

HIRNANATOMIE
Typisch »deutsch« verschaltet
Deutsch und Arabisch haben beide ihre Tücken, aber in unterschiedlicher Weise. Das zeigt sich auch im Gehirn: Die Sprachnetzwerke passen sich den besonderen Eigenschaften der Muttersprache an.

von Christiane Gelitz   

Sprachen können auf unterschiedliche Weise schwierig sein: Arabisch etwa ist schwer zu lesen, weil einige Laute nicht geschrieben werden. Und der deutsche Satzbau ist so kompliziert, dass man leicht den Überblick verliert. Beides spiegelt sich in der Hirnanatomie, berichtet eine Forschungsgruppe vom Max-Planck-Institut (MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig in der Fachzeitschrift »NeuroImage«. Demnach tragen die speziellen Anforderungen der Muttersprache dazu bei, dass sich bestimmte Sprachzentren besonders stark austauschen und entsprechend breite Kommunikationswege anlegen.

Das Team um den Hirnforscher Alfred Anwander und seine Doktorandin Xuehu Wei hatte Hirnscans von knapp 50 gesunden Erwachsenen mit deutscher oder arabischer Muttersprache angefertigt. Dazu verwendeten die Forschenden eine Technik der Magnetresonanztomografie namens Diffusions-Tensor-Bildgebung, die misst, wie sich Wassermoleküle im Hirngewebe fortbewegen. So wird die weiße Substanz sichtbar – jene Bündel von Nervenfasern, mit denen sich die Neurone (die graue Substanz) der Großhirnrinde über weite Strecken miteinander verschalten.

Bei den Versuchspersonen mit deutscher Muttersprache fanden sie stärkere Verbindungen im Sprachnetzwerk der linken Hemisphäre, wo die Sprache ihren Hauptsitz hat. Dass das Deutsche dort besonders breite Kabel braucht, könnte mit seinem komplexen Satzbau zu tun haben: Die Stellung vieler Wörter im Satz ist vergleichsweise frei, und selbst zusammengehörige Wörter können weit entfernt stehen. Das linke Broca-Areal – das Grammatikzentrum – sei sehr »sensibel« für komplexe deutsche Satzstrukturen, und die linke untere Frontallappenfurche stelle Gedächtniskapazitäten bereit, die es braucht, um weit entfernte abhängige Satzelemente gedanklich zu verbinden.

Das Arabische birgt wiederum andere Herausforderungen. Anders als im Deutschen stellt die arabische Schrift nicht jeden Laut mit einem eigenen Zeichen dar; die kurzen Vokale fehlen oft. Beim Lesen müssen Aussprache und Bedeutung eines Wortes dann aus Kontext und Vorwissen erschlossen werden, und zu diesem Zweck ist die rechte Hirnhälfte verstärkt beteiligt. Und das hinterlässt Spuren, etwa im Corpus callosum, der Hauptbrücke zwischen den Hemisphären: »Arabische Muttersprachler zeigten eine stärkere Vernetzung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte als deutsche Muttersprachler«, berichtet Alfred Anwander in einer Pressemitteilung des MPI. Verstärkte Verbindungen stellten er und sein Team auch zwischen semantischen Sprachregionen im Schläfen- und Scheitellappen fest. Das könne »mit der relativ komplexen semantischen und phonologischen Verarbeitung im Arabischen zusammenhängen«.


Sprachnetzwerke | Bei den Versuchspersonen mit deutscher Muttersprache sind die Verbindungen innerhalb der linken Hirnhälfte stärker, bei denen mit arabischer Muttersprache die zwischen den Hemisphären.


Es gab bereits erste Studien, die typische neuroanatomische Merkmale für unterschiedliche Sprachen gefunden haben. Dabei handelte es sich jedoch um kleinere Stichproben und andere Sprachen wie das Chinesische und Englische. Bekannt ist auch, dass sich graue und weiße Substanz beim Lernen einer Fremdsprache verändern. Die vorliegende Studie dokumentiert Unterschiede zwischen zwei größeren Stichproben von Muttersprachlern. Als Nächstes will die Forschungsgruppe untersuchen, was sich im Gehirn arabischsprachiger Erwachsener tut, wenn sie sechs Monate lang Deutsch lernen.

Für das generische Maskulinum.

 Der Trieb                                                                                                zu Männlich

Die FAZ berichtet heute über eine Studie der  Sprachforscher Helmut Weiß und Ewa Trutkowski von der Universität Frankfurt über die generischen Bedeutungen der grammatischen Geschlech-ter im Althochdeutschen:

Die Wissenschaftler haben der Universität zufolge herausgefunden, dass die generische Bedeutung von Wörtern „schon immer im Deutschen fest verankert“ gewesen sei. Dabei gebe es generische Begriffe in allen grammatischen Geschlechtern: Männliche Wörter hätten ursprünglich Belebtes bezeichnet, sächliche Wörter Unbelebtes und weibliche Wörter Kollektiva. Zwar bestehe eine Beziehung zwischen dem grammatischen und dem biologischen Geschlecht, schrieben die Forscher, allerdings nur in einer Richtung: „Sexus kann sich im Genus bemerkbar machen, der Umkehrschluss ist jedoch nicht zulässig.“ Vom grammatischen Geschlecht könne man nicht auf das biologische schließen.

Donnerstag, 30. März 2023

Geschichte der Vernunft oder ein Kaleidoskop bunter Bilder?


aus derStandard.at, 25. 3. 2023                                                                                                                     zu Philosophierungen

DEKOLONIALISIERUNG

Anke Graneß: "Die Philosophiegeschichte muss neu überdacht werden"
Die Wissenschaftlerin Anke Graneß über ihr neues Buch "Philosophie in Afrika", eurozentristische Perspektiven, Kolonialismus und rassistisch-patriarchale Strukturen.


Anke Graneß setzt sich mit der eurozentrischen Perspektive der Philosophie auseinander. In ihrem Buch Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte erkundet sie am Beispiel Afrikas, was zum Ausschluss außereuropäischer Philosophietraditionen führte. Sie analysiert die Auswirkungen rassistischer und patriarchalischer Strukturen sowie des Kolonialismus auf die Philosophie und stellt die Frage, wie Philosophiegeschichtsschreibung in Zukunft erfolgen könnte.

Interview von Ruth Renée Reif

Frau Graneß, man betreibe Philosophie als akademische Disziplin, als gäbe es keine Philosophie in Afrika, Asien oder Lateinamerika, schreiben Sie. Und Sie stellen fest, dass dies auch in Afrika, Südamerika und Asien gelte. Wie kommt das?

GraneßDas ist eine Folge der europäischen Kolonisation. Durch sie wurde in allen Regionen der Welt das europäische universitäre System etabliert und damit auch die akademische europäische Philosophie. In Lateinamerika etwa, wo die Kolonisation früh erfolgte, gab es bereits im 16. Jahrhundert philosophisch-theologische Schulen und dann auch erste Universitäten nach europäischem Vorbild. Eine Ausnahme scheint China zu sein, wo die eigene philosophische Tradition stark im universitären System verwurzelt ist. In Afrika und Südamerika aber setzten erst im Prozess der Dekolonisierung oder sogar erst während der vergangenen zwanzig, dreißig Jahre Bemühungen ein, sich mit der Geschichte vorkolonialer philosophischer Traditionen zu befassen.

Kritik an der eurozentrischen Ausrichtung der Philosophie wurde bereits in den 1970er-Jahren geäußert, auch damals gab es Ansätze, das aufzubrechen. Warum blieb es dabei?

Mein Eindruck ist, dass solche Bemühungen in Wellen kommen. Einer meiner Lehrer war Franz Martin Wimmer, der in Wien zu den Pionieren der interkulturellen Philosophie gehörte. Ende der 1980er- und vor allem in den 1990er-Jahren etablierte er an der Wiener Universität einen interkulturellen Ansatz und wirkte darauf hin, dass verschiedene philo-sophische Traditionen in den Blick kommen und unterrichtet werden. Dies blieben aller-dings vereinzelte Bemühungen. Gegenwärtig aber geschieht wieder viel. Dazu haben große antirassistische Bewegungen wie Black Lives Matter ebenso beigetragen wie Forderungen aus der Studentenschaft nach einer Dekolonisierung der Lehrpläne. Und auch in der For-schung gibt es Veränderungen. Seit 2019 betreiben wir in Hildesheim mit dem Reinhart-Koselleck-Projekt ein großes Forschungsvorhaben, in dem wir Philosophiegeschichten in mittlerweile über 20 Sprachen, auch außereuropäischen, gesammelt haben. So bin ich opti-mistisch, dass sich die interkulturelle Perspektive doch durchsetzt.

Den Ausschluss außereuropäischer Philosophietraditionen verorten Sie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Eben zu jener Zeit prägte Goethe den Begriff "Weltliteratur". Rückert befasste sich mit 40 Sprachen. Herder wies darauf hin, dass man von China und Japan lernen müsse. Blieb diese Öffnung ohne Einfluss auf die Philosophie?

Es gab durchaus diese Öffnung. Herder, der auf die Vielfalt der Völker und Kulturen hinweist und sie als wichtige kreative Kraft beschreibt, ist ein gutes Beispiel. Über die Jahrhunderte hinweg bis zu jener Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren zwei Er-zähltraditionen der Philosophiegeschichte vorhanden. Eine, die den Bogen von Thales bis zur deutschen klassischen Philosophie schlug, und eine, die die Vielfalt der Quellen betonte. Diese finden wir zum Beispiel schon bei Clemens von Alexandria, der die Ägypter, die Chinesen, die Äthiopier und andere Quellen nennt.



Der Umbruch erfolgt, als versucht wird, den Philosophiebegriff in Anlehnung an die Naturwissenschaften in eine wissenschaftliche Form zu bringen. Mit der Verwissenschaftli-chung wird auch die Autorschaft eingeführt. Denktraditionen müssen auf einen bestimm-ten Autor zurückgeführt werden. Ich verwende bewusst die männliche Form, weil auch Philosophinnen ab da aus der Philosophie ausgeschlossen wurden. Weisheitliche Traditio-nen fielen gänzlich raus, und damit wurden außereuropäische Philosophietraditionen zu-nehmend aus der Philosophiegeschichte rausgeschrieben.

Müsste unter diesem Aspekt der rassistischen und sexistischen Ausgrenzung nicht nahezu die gesamte Philosophiegeschichte neu geschrieben werden?

In der Tat muss die Philosophiegeschichte neu überdacht werden, sowohl hinsichtlich der Ursprünge als auch ideologischer Momente. Wenn wir die positiven Auswirkungen der Philosophie der Aufklärung hervorheben und betonen, welch bedeutende Rolle sie für die Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit sowie das neue Bild vom Individuum gespielt hat, dürfen wir nicht verleugnen, dass Philosophen auch Argumentationsgrundlagen für die Berechtigung von Kolonialismus und Sklaverei geliefert haben.

Eine Philosophiegeschichtsschreibung Afrikas sei nur im Rahmen eines Forschungsprojekts in der Größenordnung der Unesco Histoire générale de l’Afrique zu leisten, betonen Sie. Aber warum geschieht es nicht?

Eine Philosophiegeschichte dieser Größenordnung gibt es auch für Europa noch nicht. Was wir im Bereich einer Weltgeschichte der Philosophie haben, ist die "Encyclopédie philoso-phique universelle", die Ende der 1980er-Jahre ebenfalls als Unesco-Projekt entstand. Als Standardwerk im deutschsprachigen Raum gibt es das 1863 von Friedrich Ueberweg begründete Projekt, das heute von einem großen Kollektiv weitergeführt wird. Seit einigen Jahren betreibt dieses Projekt auch eine globale Öffnung. So entstanden vier Bände zur Philosophiegeschichte der islamischen Welt, und es sind Bände zu Ostasien, China und Japan sowie auch Afrika geplant. Aber Afrika ist ein riesiger Kontinent, und für eine afrikanische Philosophiegeschichte muss noch viel Grundlagenforschung betrieben werden. Da die afrikanische Philosophie so lange negiert wurde, fanden kaum Forschungen statt.

Das heißt, es geht nicht darum, afrikanische Philosophiegeschichten aus afrikanischen Sprachen zu übersetzen, sondern sie müssen tatsächlich erst erarbeitet werden …

Die Philosophiegeschichtsschreibung ist auf dem afrikanischen Kontinent noch eine junge Disziplin. Hinzu kommt, dass Afrika bei der Institutionalisierung der Disziplinen geteilt wurde in die Islamwissenschaften, die sich mit Nordafrika befassen, und die Afrikawissen-schaften, die sich dem südlichen Afrika widmen. Dies führt etwa dazu, dass Forschungen zur Philosophie in der islamischen Welt an der Sahara enden. Arabisch-islamische Tradi-tionen südlich der Sahara wie zum Beispiel die Manuskripte aus Timbuktu in Mali bleiben unberücksichtigt. Während es in arabischer Sprache Philosophiegeschichten schon aus frühen Jahrhunderten gibt, haben wir in afrikanischen Sprachen bisher keine gefunden.

Sie verweisen vor allem auf das Fehlen einer ungebrochenen Traditionslinie im südlichen Afrika zwischen dem fünften und 17.Jahrhundert …

Weder die Texttraditionen noch die oralen Traditionen Afrikas wurden im Hinblick auf ihre philosophischen Gedanken oder Konzepte bisher ausreichend untersucht. Die Arbeit beginnt gerade erst. Zudem müssen methodische Überlegungen angestellt werden, ob es sinnvoll ist, die europäische Periodisierung in Antike, Neuzeit und Moderne zu überneh-men. Wir sind in Afrika mit Regionen konfrontiert, in denen die orale Traditionsvermitt-lung vorherrschend war. Mündlich überlieferte philosophische Konzepte einem Jahrhundert zuzuordnen, ist jedoch schwierig. Also müssen wir andere methodische Ansätze wählen als die der textzentrierten europäischen Philosophie.


Anke Graneß, "Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte". € 30,90 / 685 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2023

Als Gegenmodell zur Linearität nennen Sie die Fraktale von Benoît Mandelbrot. Wie sähe eine Philosophiegeschichte auf der Grundlage dieses Modells aus?

Daran muss erst gearbeitet werden. Es geht darum, die Linearität als ideologisches Prinzip aufzubrechen. Dieses Fortschrittsdenken bestimmte die letzten 250 Jahre Philosophiegeschichtsschreibung. Hegel ist dafür ein Beispiel, indem er darlegte, wie der menschliche Geist sich über verschiedene Etappen weiterentwickelte, bis er zur vollen Entfaltung kam. Diese sah er dann in seinem Denken erreicht. Viele schrieben in jener Zeit unter ähnlichen Vorzeichen Philosophiegeschichte. Wenn man allerdings die philosophischen Traditionen in anderen Regionen der Welt in den Blick nimmt, die in diese lineare Erzählung keine Aufnahme fanden, erkennt man die Sinnlosigkeit eines solchen zeitstrahlmäßigen Modells. Wir müssen in die Breite schauen, was im Laufe der Jahrhunderte auf den einzelnen Kontinenten vor sich ging, wie Theorien und Konzepte sich verbreiteten und miteinander verflochten. Was wir dann bekommen, ähnelt eher einem Netz.  

Sonntag, 26. März 2023

No hay caminos...

Hay que caminar.                     aus Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem
... hay que caminar.
______________________________________
Wege gibt es nur, wenn man sie geht.
Inschrift auf einem Kloster in Toledo, 13. Jhdt.






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Samstag, 25. März 2023

Wie in die Dinge Bedeutungen kamen.

      aus Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Bevor es Boote gab, gab es keine Buchten.         
______________________________________________________
Erich RothackerPhilosophische Anthropologie, Bonn 1966, S. 66






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Freitag, 24. März 2023

Der Sinn vom Sein.

                                                                       zu Philosophierungen

Je begreiflicher uns das Universum wird, umso sinnloser erscheint es auch.
_______________________________________________________________________
Steven Weinberg (Nobelpreis Physik 1979) Die ersten drei Minuten, München 1978; S. 212






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Montag, 20. März 2023

Bloß das Gleichgewicht halten?

 bing                                                                                     zu öffentliche Angelegenheiten 
                    
Haben Sie es bemerkt? Die AfD hat bislang noch in einmal versucht, ein eigenes Programm zu formulieren, und begnügt sich mit dem Beschimpfen der gerade Regierenden. Und die pp. Linke fällt auseinander, weil sie sich nicht einmal mehr einigen kann, wer eigentlich ihr Gegner - nein, wessen Gegner sie eigentlich sein will.

In Wahrheit ist es längst so, dass positive, nämlich ihrer Absichten gewisse Politik nur 'aus der Mitte her' konzipiert werden könnte. Aber gerade dort haben sie keinen Kompass, der ihnen einen Bezugspunkt wiese. Sie glauben immer noch, sie könnten ihren Weg finden, in-dem sie nach rechts und links denselben Abstand hielten. Aber rechts und links stoßen sie auf Putin. 

Sie müssten ihren Nordstern schon selber suchen.


Transgender und Negatio duplex.

aus scinexx.de                                                                                                                     zu Männlich

Erste Geschlechtsumwandlung auf Zell-Ebene

Forschende [!] erzeugen erstmals weibliche Eizellen aus genetisch männlichen Stammzellen

XY zu XX: Wissenschaftlern
[?!] ist es erstmals gelungen, männliche Stammzellen von Mäusen in funktionsfähige weibliche Eizellen umzuwandeln. Durch Befruchtung dieser Eizellen mit Spermien entstanden daraus sogar gesunde, lebensfähige Mäusebabys – mit zwei Vätern und ohne Mutter, wie das Team in „Nature“ berichtet. Das könnte einen wichtigen Durchbruch in der Fortpflanzungsmedizin darstellen – sofern dies auch beim Menschen und anderen Säugetieren funktioniert.

Für unser biologisches Geschlecht und unsere Fortpflanzung spielt die Ausstattung unserer Zellen mit den Geschlechtschromomen eine entscheidende Rolle. Weibliche Zellen tragen ein doppeltes X-Chromosom, männliche dagegen ein X- und ein Y-Chromosom. Diese Genetik beeinflusst auch, ob aus dem Keimzell-Vorläufern in unseren Geschlechtsorganen männliche Spermien oder weibliche Eizellen heranwachsen. Damit in der Befruchtung ein neues Leben entsteht, müssen ein Spermium und eine Eizelle verschmelzen – zumindest bei der natürlichen Zeugung.

Genetisch männliche Zellen tragen ein X- und ein Y-Chromosom, wie hier zu sehen. Weibliche Zellen besitzen dagegen zwei X-Chromosomen.

Doch durch die Biotechnologie kann der Mensch in diesen Prozess eingreifen. So ist es Wissenschaftlern inzwischen schon gelungen, Mäuseembryos aus Stammzellen statt befruchteten Eizellen zu erzeugen. Auch Mäuse aus einer manipulierten Stammzelle und einer Keimzelle desselben Geschlechts gab es schon – diese Tiere hatten dann jeweils zwei Mütter oder zwei Väter.

Von männlichen XY-Stammzellen…

Noch einen Schritt weiter sind nun Kenta Murakami von der Universität Kyushu und seine Kollegen gegangen: Sie haben erstmals das genetische Geschlecht von Stammzellen verändert und aus männlichen Keimzellvorläufern weibliche Eizellen produziert. Ausgangspunkt der Studie waren embryonale und induzierte Stammzellen von männlichen Mäusen. Diese Zellen trugen, wie für das männliche Geschlecht typisch, ein X- und ein Y-Chromosom.

Schon frühere Studien haben jedoch gezeigt, dass es bei der Zucht von Stammzellen in Kultur ab und zu Teilungsfehlern kommt. Im Schnitt verlieren dadurch ein bis drei Prozent der XY-Zellen spontan ihr Y-Chromosom. Durch häufigen Wechsel des Kulturmediums konnten Murakami und sein Team den Anteil solcher X0-Zellen in ihren Zellkulturen bis auf sechs Prozent erhöhen. Im nächsten Schritt gaben sie den Hemmstoff Reversin zu den Kulturen. Dieser Wirkstoff hemmt die Kontrollmechanismen, die bei der Zellteilung normalerweise für die korrekte Aufteilung der Chromosomen sorgen.

…zu weiblichen XX-Eizellen und lebenden Nachkommen

Als Folge entstanden in den Stammzellkulturen bis zu 21,5 Prozent Zellen mit zwei X-Chromosomen – genetisch gesehen waren diese Stammzellen damit nun weiblich. „Dieser Ergebnisse demonstrieren, dass man XX-Stammzellen aus Vorläuferzellen mit XY oder X0-Geschlechtschromosomen erzeugen kann, indem man das Y-Chromosom erst entfernt und dann das X-Chromosom verdoppelt“, konstatieren Murakami und seine Kollegen.

Doch damit hatten sie noch keine befruchtungsfähigen Eizellen. Um dies zu erreichen, gaben die Forschenden die geschlechtsumgewandelten Stammzellen nun in Gewebekulturen aus dem Eierstock weiblicher Mäuse. Dieses Gewebe produziert Signalstoffe und Wachstumsfaktoren, die Stammzellen dazu bringen, sich erst zu unreifen Eizell-Vorläufern, dann zu reifen Eizellen zu differenzieren. Das Ergebnis: 108 der 349 geschlechtsumgewandelten XX-Stammzellen wandelten sich reife weibliche Eizellen um. Dies sei ein ähnlicher Anteil wie bei ganz normalen weiblichen Stammzellen, berichten die Wissenschaftler.

Neue Chancen für die Fortpflanzungs-Medizin

Wurden diese umgewandelten Eizellen durch männlichen Mäusespermien befruchtet, entstanden daraus Mäuseembryos, von denen einige nach Austragung in Leihmüttern zu lebensfähigen, gesunden und fortpflanzungsfähigen Mäusen heranwuchsen. Damit ist es Murakami und seinem Team erstmals gelungen, aus einer rein männlichen Zelllinie Nachkommen beiderlei Geschlechts zu erzeugen. Nach Ansicht der Forschenden könnte dies dabei helfen, Unfruchtbarkeit durch genetisch bedingte Chromosomenfehler zu überwinden.

Doch die möglichen Anwendungen reichen noch weiter: „Diese Arbeit öffnet die Möglichkeit, gefährdete Säugetierarten aus nur einem einzigen verbleibenden Männchen weiterzuzüchten“, erklären Jonathan Bayerl und Diana Laird von der University of California in San Francisco in einem begleitenden Kommentar. „Und es könnte sogar dazu beitragen, dass mehr Menschen eigene Kinder bekommen können – darunter gleichgeschlechtliche Paare, Transgender-Menschen und Menschen mit XXY-Gensatz.“

Geht das auch beim Menschen?

Allerdings setzt dies voraus, dass die bei Mäusen demonstrierte Methode auch bei anderen Säugetieren und dem Menschen funktioniert. „Die Machbarkeit einer Anwendung beim Menschen ist offen“, kommentiert der nicht an der Stude beteiligte Reproduktionsforscher Rod Mitchell von der University of Edinburgh. „Die Schritte, durch die Stammzellen zu reifen Eizellen werden, wurden mit menschlichen Zellen noch nicht verlässlich durchgeführt.“ Es müssten daher noch einige methodische Problem gelöst werden.

Zudem gilt ähnlich wie bei anderen Stammzellversuche und Eingriffen in die Keimbahn: „Die Sicherheit der Verfahren und die Gesundheit der resultierenden Nachkommen müssen erst genau geprüft und untersucht werden, bevor dies jemals beim Menschen angewendet werden kann“, betont Mitchell. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-023-05834-x)

Quelle: Nature, Science Media Centre

20. März 2023

von Nadja Podbregar


Nota. - Auf den ersten Blick sollte man meinen, da würde aus einem Y künstlich ein X
auf gebaut. Auf den zweiten Blick zeigt sich: Die ursprüngliche Verkümmerung des X zum Y wird zurück gebaut. 

Gelegentlich geschieht das 'von Natur', als Lesefehler. Ein Lesefehler war aber schon die Verkümmerung des X zum Y. Hier wird also der ursächliche Lesefehler der Natur künstlich verdoppelt.

Was lehrt uns das übers Gendern und die zeitgenössische Transhype? Garnichts.
JE


Samstag, 18. März 2023

Jahrestag.


Die deutsche Geschichte kennt schlimmere Daten, ach. Aber wohl keins, das blamabler wäre.                                                                                                                                    Beachten Sie bitte, was auf seinem Zettel geschrieben steht. Er ist ein Vereinbarer, der sich zuallererst um die Kontinuität des Rechtsbodens gesorgt hat. Und selbst den hat er fallenlassen.



Freitag, 17. März 2023

Sieben Gene fürs mathematische Talent.

aus scinexx.de       Wie gut unsere mathematischen Fähigkeiten sind, hängt auch von den Genen ab.       zu Levana, oder Erziehlehre

Sieben Varianten fürs Mathematik-Talent
Einzelaspekte der mathematischen Begabung könnten auf verschiedene Gene zurückgehen


Das Talent für Mathematik ist uns zum Teil in die Wiege gelegt. Jetzt enthüllt eine Genomanalyse, dass verschiedene Aspekte des mathematisch-logischen Denkens auch auf unterschiedliche Genvarianten zurückgehen. Von den sieben neu identifizierten Varianten sind einige mit Rechenfähigkeiten wie dem Subtrahieren oder Addieren verknüpft, andere dagegen mit dem Erfassen von Mengen oder dem mathematisch-logischen Denken. Interessant auch: Einige Genvarianten liegen nahe an Genen, die auch mit Autismus und Schizophrenie verknüpft sind.

Die Fähigkeit zum Rechnen, zum abstrakten mathematischen Denken und zur Zahlenverarbeitung spiegelt sich in unserem Gehirn wider. Denn unser Denkorgan besitzt spezielle Areale und Schaltkreise für bestimmte mathematische Aufgabenbereiche. So werden Zahlen je nach Größe in verschiedenen Bereichen des Gehirns verarbeitet, auch das Addieren und Subtrahieren sowie die Verarbeitung der Zahl Null findet in verschiedenen Hirnarealen statt. Bei professionellen Mathematikern wird zudem ein spezielles Hirnnetzwerk aktiv.

Schon länger gibt es auch Hinweise darauf, dass die mathematische Begabung zu einem beträchtlichen Teil erblich bedingt ist – bis zu 60 Prozent unserer Mathefähigkeiten könnten auf unsere genetische Ausstattung zurückgehen. Welche Gene dies sind, ist allerdings noch kaum erforscht. 2020 identifizierten Forscher aber immerhin ein Gen, ROBO1, das schon bei Kleinkindern das Wachstum wichtiger Mathematik-Areale im Gehirn fördert.

Elf Mathe-Fähigkeiten einzeln untersucht


Jetzt haben Forschende um Liming Zhang von der Shaanxi Normaluniversität in China sieben neue Genvarianten für mathematische Fähigkeiten identifiziert. Dafür führten sie eine genomweite Assoziationsstudie bei 1.146 Grundschulkindern aus zwei chinesischen Provinzen durch. Anders als bei früheren Studien unterzog das Team die kleinen Testpersonen einem standardisierten Test, der elf verschiedene Aspekte der Mathematik-Begabung gesondert überprüfte.

Der Test erfasste im arithmetischen Bereich sechs verschiedene Aufgaben, darunter die vier Grundrechenarten, Gleichungen und Mengenlehre. Im numerisch-logischen und räumlichen Bereich absolvierten die Schulkinder Tests in fünf Aufgabenbereichen, darunter mathematische Argumentation, die visuelle Größenabschätzung, die räumliche Wahrnehmung, das Zählen von Mengen und verschiedene visuell-motorische Aufgaben.

Sieben Genvarianten mit spannenden Verbindungen


In den Vergleichsanalysen identifizierten die Forschenden sieben Genvarianten, die mit hoher Signifikanz mit den mathematischen Fähigkeiten verknüpft sind. Unter diesen waren zwei Varianten mit der Fähigkeit zur Division, eine mit der Addition und eine mit der Subtraktion verknüpft. Diese getrennte genetische Repräsentation der Grundrechenarten würde dazu passen, dass diese Rechenarten im Gehirn auch in getrennten Arealen stattfinden. Eine fünfte Genvariante zeigte eine enge Korrelation mit der räumlichen Wahrnehmung, eine sechste mit dem Abschätzen von Mengen.

Die siebte Genvariante war in signifikanter Weise mit der mathematischen Logik verknüpft und mit der Fähigkeit, mathematische Aussagen zu überprüfen und nachzuvollziehen. Diese Genvariante, rs34034296, liegt auf dem achten Chromosom in der Nähe des Genorts CSMD3, wie Zhang und seine Kollegen berichten. „Für den CSMD3-Genort wurde schon zuvor gezeigt, dass Menschen mit Autismus und Schizophrenie dort abweichende Anzahlen von Kopien aufweisen“, berichten die Forschenden. „Wir zeigen nun erstmals, dass diese Gene auch direkt mit den mathematischen Fähigkeiten verknüpft sind.“

Ebenfalls interessante Zusammenhänge gibt es für die mit der Subtraktion assoziierte Genvariante. Sie liegt am Gen LINGO2. „Dieses reguliert die Synapsenbildung und wurde bereits als Risikogen für Autistische Störungen identifiziert“, so das Team. Auch für zwei weitere Genvarianten konnten Zhang und seine Kollegen Verbindungen zu spezifischen Genen herstellen.

Genetische Basis je nach Mathe-Aspekt verschieden

Nach Ansicht des Forschungsteams liefern diese neu identifizierten Genvarianten damit weitere Einblicke in die neurogenetischen Mechanismen, die der mathematischen Begabung zugrunde liegen. „Die Ergebnisse unserer Forschung legen nahe, dass verschiedene Aspekte der mathematischen Fähigkeiten auch eine jeweils eigene genetische Basis haben“, sagt Seniorautor Jingjing Zhao von der Shaanxi Normaluniversität. Dies liefert nun Anknüpfungspunkte für weitergehende genetische Studien. (Genes Brain & Behavior, 2023; doi: 10.1111/gbb.12843)


Quelle: Wiley
17. März 2023
von Nadja Podbregar


Nota. - Mathematik nimmt im gesellschaftlichen Verkehrt hochtechnisierter Zivilisation einen großen Platz - einen unverhältnismäßig größeren als in früheren Gesellschaften. Entsprechend stark prägt sie die Vorstellung, die wir uns von Intelligenz machen: Am ehesten denken wir bei der Vokabel an Albert Einstein.

Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass Intelligenz keine spezifische Fähigkeit ist, die in einer besonderen Erbsubstanz begründet wäre, sondern ein ganzer Kranz unterschiedlicher Begabungen, die alle zusammen das Bild bestimmen, das wir uns in unserer Welt von einem intelligenten Menschen machen. Der Intelligenzquotient ist ein ungefährer Anhaltspunkt dafür, welche Leistungen wir von dem einen oder andern Individuum erwarten können, aber keine Aussage über deren Bedingung. Über die Erblichkeit der letzteren zu streiten ist daher ohne Sinn.

Zumal wir nun erfahren, dass der besondre mathematische Anteil seinerseits nicht auf einer, sondern seinerseits auf einem ganzen Bündel von Begabungen beruht, von denen jede von mindestens einem Gen (mit-)bestimmt wird, das mit den andern unmittelbar nichts zu tun hat. Ob ein Kind für Mathematik begabt ist oder nicht, muss der Lehrer in jedem einzelnen Fall selbst beurteilen; wofür die Bedingung zum mindesten ist, dass er es will.
JE

Donnerstag, 16. März 2023

Die Pythagoreer.

 Raffael, Pythagoras                                                        
aus derStandard.at, 14. 3. 2023  [mit 2 Tagen Verspätung]                                                      zu Philosophierungen

Wie ein antiker Geheimbund unabsichtlich die Tür zum Unendlichen aufstieß

Am 14.3. wird alljährlich der Pi-Tag gefeiert. Die Entdeckung der irrationalen Zahlen vor 2.500 Jahren löste eine jahrhundertelange Krise aus

von Reinhard Kleindl

Irrational zu sein gilt nicht unbedingt als positive Eigenschaft. Ausnahme ist ausgerechnet die Mathematik. Dort haftet Irrationalität nichts Negatives an, ganz im Gegenteil: Einige der wichtigsten Zahlen der Mathematik fallen in diese Kategorie.

Irrationale Zahlen wie die Kreiszahl Pi oder die Eulersche Zahl sitzen heute an Schlüssel-positionen von Naturwissenschaft und Technologie. Während Pi nicht nur überall auftritt, wo Kreise sind, sondern auch in der Quantenphysik eine ständige Begleiterin ist, taucht die Eulerzahl e bei der Berechnung von Zinsen auf. Ihre Entdeckung im fünften Jahrhundert vor Christus war allerdings ein Schock und brachte die Dogmen einer antiken Sekte in Süditalien in Bedrängnis.

In Raffaels berühmtem Fresko "Die Schule von Athen", einst zur Zierde der Papstgemä-cher in Auftrag gegeben, sind die wichtigsten Denker des antiken Griechenland abgebildet. Pythagoras ist am linken unteren Rand zu finden, als glatzköpfiger Mann, der unter den Augen von Schülern Teile seiner Harmonielehre in ein Buch schreibt

Deren Gründer war der im sechsten Jahrhundert vor Christus auf der Insel Samos gebo-rene Grieche Pythagoras. Unser Wissen über ihn stammt zum großen Teil aus Legenden und den Schriften verschiedener historischer Autoren. Er soll auf Reisen durch die antike Welt, die ihn bis nach Indien führten, mit frühen Formen der Mathematik in Kontakt gekommen sein. Sowohl die Babylonier als auch die Ägypter hatten bereits erstaunliche Kenntnisse in Mathematik, die für Letztere etwa beim Bau der Pyramiden unabdingbar war.

Bei diesen Kulturen dienten mathematische Beziehungen allerdings praktischen Zwecken wie Buchhaltung, Landvermessung oder Bauwesen. Es handelte sich um Regeln, die zu richtigen Ergebnissen führten und deren Funktion nie infrage gestellt wurde.

Pythagoras hatte etwas anderes im Sinn. Nachdem er zwanzig Jahre auf Reisen gewesen war, kehrte er nach Samos zurück, um eine eigene philosophische Schule zu gründen. Die Idee war alles andere als abwegig, Philosophiezirkel schossen damals aus dem griechischen Boden wie Pilze, und für einen Denker, der etwas auf sich hielt, gehörte es zum guten Ton, seine eigene Schule zu besitzen.

Doch in seiner Abwesenheit hatte ein Autokrat namens Polykrates seine einst weltoffene Heimatstadt besetzt und die intellektuelle Atmosphäre vergiftet. Polykrates bot dem Heimkehrer sogar eine Stelle bei Hof an, doch Pythagoras verweigerte und floh aufs Land, wo er als Einsiedler leben wollte. Dort fand er einen einzigen Schüler, den er letztlich nach Süditalien mitnahm, wo er – auch dank der Unterstützung eines finanzkräftigen Mäzens – endlich mit dem Aufbau einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten beginnen konnte.

Philosophische Sekte

Diese Gemeinschaft hat viele Eigenschaften, die wir heute mit Sekten oder Geheimbünden verbinden. Sie verwendeten den fünfzackigen Stern, das Pentagramm, als Symbol. Wer eintreten wollte, musste sein Vermögen stiften. Das Verlassen der Gruppe war möglich, kostete aber das Doppelte. Es gab Kleidervorschriften, die Lebensweise war vegetarisch. Zudem herrschte ein strenges Verbot des Verzehrs von Bohnen, über dessen Grund schon in der Antike spekuliert wurde. Die Angst vor Bohnen ging manchen Quellen zufolge sogar so weit, dass Pythagoräer nicht mit Bohnenkraut in Berührung kommen wollten und auch unter Todesgefahr nicht in der Lage waren, durch ein Bohnenfeld zu fliehen. Die pythago-räische Gemeinschaft besaß also erstaunlich viele Regeln. Dafür lockte ein inspirierendes Umfeld von Intellektuellen, dem auch einige Frauen angehörten.

Welche religiöse Komponente der Vereinigung anhaftete, lässt eine Textpassage von Aristoteles erahnen, der schreibt, Pythagoras habe die Fähigkeit gehabt, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Erwähnt wird er auch beim griechischen Geschichtsschreiber Herodot. Ein thrakisches Volk mit sonderbaren religiösen Gebräuchen, die das Pfählen von Menschen beinhalten, wird dort von einem ehemaligen Sklaven des Pythagoras angeführt, der sich – so schreibt der griechische Historiker – die Einfältigkeit der thrakischen Menschen zunutze machte und seine eigene Sekte gründete.

Die Gemeinschaft um Pythagoras war vergleichsweise moderat. Insgesamt handelte es sich bei ihrem Gedankengut um eine Mischung aus religiös anmutender Zahlenmystik und verblüffend moderner Mathematik mit bis heute gültigen Beweisen. Einzig die bei Babyloniern und Ägyptern so wichtige Anwendungsorientierung schien keine Bedeutung zu haben. Es handelte sich um reine Philosophie, wobei dieses Wort damals freilich noch nicht erfunden war. In antiken Schriften ist von Pythagoras als "Sophisten" die Rede. Diese intellektuellen Lehrer gelten heute als Vorläufer der Philosophen. Dieses Wort prägte Pythagoras selbst. Er plädierte dafür, die Liebe zum Reichtum durch Liebe zur Weisheit zu ersetzen – Letzteres ist die wörtliche Bedeutung des Wortes "Philosophie".

Zahlen, die anders sind

Die Entdeckung der irrationalen Zahlen gelang seinen Nachfolgern. Damals ging man davon aus, dass sich geometrische Längen durch Brüche darstellen lassen – die rationalen Zahlen, wie sie heute heißen. Das ist auf den ersten Blick naheliegend, immerhin können Brüche beliebig klein werden. Wer eine Strecke in gleich lange Einzelstücke unterteilt, kann laut dieser Idee mit den Teilungspunkten jeden Punkt der Strecke erreichen, solange er nur in der Lage ist, die Einzelstücke immer kleiner und kleiner zu machen.

Doch damit saß die Gruppe einem spektakulären Irrtum auf, wie ausgerechnet ein Pythagoräer zeigte: Ein einfaches Quadrat der Seitenlänge eins besitzt eine Diagonale, die sich nicht als Bruch aus ganzen Zahlen darstellen lässt. Die Quadratwurzel aus der Zahl zwei ist irrational. Ein Nebeneffekt davon ist, dass sie in Dezimaldarstellung unendlich viele Kommastellen besitzt.

Nach der Flucht aus seiner Heimat, der griechischen Insel Samos, gelang es Pythagoras, an der kalabrischen Küste nahe dem heutigen Crotone eine Philosophenschule zu gründen.

Um diese Entdeckung ranken sich verschiedene Legenden. Eine Geschichte besagt, dass Hippasos von Metapont den Fund bekanntmachte, sich dadurch aber des Geheimnisverrats schuldig machte und aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Daraufhin soll er unter mysteriösen Umständen im Meer ertrunken sein – als Strafe der Götter

Später wurden viele weitere irrationale Zahlen entdeckt. Sie versteckten sich gerade in den einfachsten geometrischen Formen: die schon erwähnte Quadratwurzel der Zwei im als harmlos geltenden Quadrat, eine weitere im Kreis. Das Verhältnis zwischen Kreisdurchmesser und Kreisumfang lässt sich ebenfalls nicht als Bruch darstellen. Es handelt sich dabei um die Zahl Pi. Auch der mystische fünfzackige Stern, das Pentagramm, enthält ein Längenverhältnis, das nicht durch rationale Zahlen darstellbar ist. Es gibt sogar die Theorie, dass die irrationalen Zahlen an diesem Beispiel entdeckt wurden. Spätestens hier hätte klar sein müssen, dass irrationale Zahlen ein wesentlicher Bestandteil des Fundaments der von den Pythagoräern so geliebten, ganz aus Zahlen bestehenden Welt sind.

Faszination bis heute

Sowohl an der Geschichte des Ausschlusses von Hippasos aufgrund seiner Entdeckung als auch an der beinah religiösen Bedeutung ganzzahliger Längenverhältnisse gibt es heute Zweifel. Die Legende vom Geheimnis soll auf ein Missverständnis um die griechische Bezeichnung für die "unaussprechlichen" Zahlen zurückgehen. Doch die Irritation darüber überdauerte dennoch Jahrhunderte. Noch ein Wegbegleiter Luthers, der Theologe Michael Stifel, sagte: "Wie also eine unendliche Zahl keine Zahl ist, so ist eine irrationale Zahl keine echte Zahl [...]."

Das Verständnis um die Tragweite dieser Entdeckung setzte sich also erst langsam durch. Ein Durchbruch gelang erst dem deutschen Mathematiker Georg Cantor. Er konnte beweisen, dass die Menge der irrationalen Zahlen weit größer ist als jene der rationalen. Rationale Zahlen lassen sich in Wirklichkeit abzählen, es gibt von ihnen also nicht mehr als von den wohlbekannten natürlichen Zahlen, mit denen die Menschen schon lange vor Pythagoras Steine und Oliven zählten. Jeder Versuch, die irrationalen Zahlen abzuzählen, muss allerdings scheitern. Der Beweis dafür mittels "Diagonalmethode" ist wahrscheinlich Cantors bekannteste Leistung

Die Größe unendlicher Mengen ist dabei ein intuitiv nur schwer fassbares Mysterium, das noch bis heute die Mathematik beschäftigt. Es sind genau diese verwirrenden Aspekte der mathematischen Unendlichkeit, die schon die Pythagoräer auf die falsche Fährte lockten.

Mathematik in der Musik


Waren die Pythagoräer also religiöse Fanatiker oder kühle Rationalisten? Eine Antwort darauf lässt sich womöglich in ihrer Leidenschaft für Musik finden. Pythagoras untersuchte Saitenschwingungen einer Leier und verstand, dass gerade Saiten mit Längen, die ganzzahlige Verhältnisse bilden, sich zu wohlklingenden Tonfolgen zusammensetzen lassen.

Die Faszination für Musik legt nahe, dass die Mathematik aus demselben Antrieb betrieben wird, der heute noch bei vielen Mathematik-Begeisterten vorherrschend ist: das Streben nach einem ästhetischen Ideal. Auch die Ästhetik kommt übrigens nicht nur mit ganzzahligen Verhältnissen aus, liegt doch dem ästhetischsten aller Längenverhältnisse, dem Goldenen Schnitt, ebenfalls eine irrationale Zahl zugrunde.
 


Nota. - Philosophie ist kein eingetragenes Warenzeichen. Aber auch kein Ausdruck ganz privater Wertschätzung wie schnafte oder dufte. Wenn überhaupt eine spezifische Bedeu-tung darin liegt, dann eine wissenschaftliche. Und zwar nicht erst, weil Philosophie eine Wissenschaft wäre, was dieser oder jener bestreiten könnte; sondern weil das, was seit dem 19. Jahrhundert einvernehmlich als Wissenschaft verstanden wird, ursprünglich hervorge-gagen ist aus dem, was die alten Griechen - nachdem sie es, wie wir oben lesen, schon eine Weile betrieben hatten - Philosophie genannt haben: Man kann die eine nicht ohne die andere bestimmen.

Als wahr soll der einen wie der anderen nur dasjenige gelten, was auf seine Gründe hin geprüft worden ist.

Geprüft von wem, mit welcher Autorität? Wer immer Autorität beansprucht, dem wird sie von irgendwem bestritten werden. Es muss und kann nur die Prüfung durch einen stetigen unendlichen Prozess geschehen, an dem sich ein jeder beteiligen kann, der sachlich etwas beizutragen hat - worüber allen andern Beteiligten in ebendiesem selben Prozess ununter-brochen mit zu entscheiden haben. Es ist die Idee der res publica eruditorum, der Gelehr-tenrepublik zunächst, und die Idee der gebildeten Öffentlichkeit seit dem Ausbruch des Zeitalters der Vernunft. Wissenschaft sei, schrieb ein von mir geschätzter Autor,  schlechter-dings öffentliches Wissen.

*

Und nun zum Thema. So schlau in der Sache irgendeine Menschgruppe auch wäre: Wenn sie ihre Klugheiten nicht grundsätzlich allen andern zur Prüfung, zum Beifall oder zur Ab-lehnung vorlegt, mag sie gut und gerne Recht haben; aber Wissenschaft ist das nicht. Recht haben kann jeder für sich. Aber Wissenschaftler ist man für alle oder gar nicht. Auch nicht Philosoph.

Die Pythagoreer haben zur Lehre der Mathematik enorm beigetragen. Doch der Wissen-schaft haben sie nicht genützt, so wenig wie der Philosophie.
JE

Aus unserer Intelligenz kann noch was werden.

aus derStandard.at, 4. 7. 2024   Sich durch teils komplexe Internetseiten zu navigieren ist eine große kognitive Leistung, sagt Pietschni...