Donnerstag, 16. März 2023

Die Pythagoreer.

 Raffael, Pythagoras                                                        
aus derStandard.at, 14. 3. 2023  [mit 2 Tagen Verspätung]                                                      zu Philosophierungen

Wie ein antiker Geheimbund unabsichtlich die Tür zum Unendlichen aufstieß

Am 14.3. wird alljährlich der Pi-Tag gefeiert. Die Entdeckung der irrationalen Zahlen vor 2.500 Jahren löste eine jahrhundertelange Krise aus

von Reinhard Kleindl

Irrational zu sein gilt nicht unbedingt als positive Eigenschaft. Ausnahme ist ausgerechnet die Mathematik. Dort haftet Irrationalität nichts Negatives an, ganz im Gegenteil: Einige der wichtigsten Zahlen der Mathematik fallen in diese Kategorie.

Irrationale Zahlen wie die Kreiszahl Pi oder die Eulersche Zahl sitzen heute an Schlüssel-positionen von Naturwissenschaft und Technologie. Während Pi nicht nur überall auftritt, wo Kreise sind, sondern auch in der Quantenphysik eine ständige Begleiterin ist, taucht die Eulerzahl e bei der Berechnung von Zinsen auf. Ihre Entdeckung im fünften Jahrhundert vor Christus war allerdings ein Schock und brachte die Dogmen einer antiken Sekte in Süditalien in Bedrängnis.

In Raffaels berühmtem Fresko "Die Schule von Athen", einst zur Zierde der Papstgemä-cher in Auftrag gegeben, sind die wichtigsten Denker des antiken Griechenland abgebildet. Pythagoras ist am linken unteren Rand zu finden, als glatzköpfiger Mann, der unter den Augen von Schülern Teile seiner Harmonielehre in ein Buch schreibt

Deren Gründer war der im sechsten Jahrhundert vor Christus auf der Insel Samos gebo-rene Grieche Pythagoras. Unser Wissen über ihn stammt zum großen Teil aus Legenden und den Schriften verschiedener historischer Autoren. Er soll auf Reisen durch die antike Welt, die ihn bis nach Indien führten, mit frühen Formen der Mathematik in Kontakt gekommen sein. Sowohl die Babylonier als auch die Ägypter hatten bereits erstaunliche Kenntnisse in Mathematik, die für Letztere etwa beim Bau der Pyramiden unabdingbar war.

Bei diesen Kulturen dienten mathematische Beziehungen allerdings praktischen Zwecken wie Buchhaltung, Landvermessung oder Bauwesen. Es handelte sich um Regeln, die zu richtigen Ergebnissen führten und deren Funktion nie infrage gestellt wurde.

Pythagoras hatte etwas anderes im Sinn. Nachdem er zwanzig Jahre auf Reisen gewesen war, kehrte er nach Samos zurück, um eine eigene philosophische Schule zu gründen. Die Idee war alles andere als abwegig, Philosophiezirkel schossen damals aus dem griechischen Boden wie Pilze, und für einen Denker, der etwas auf sich hielt, gehörte es zum guten Ton, seine eigene Schule zu besitzen.

Doch in seiner Abwesenheit hatte ein Autokrat namens Polykrates seine einst weltoffene Heimatstadt besetzt und die intellektuelle Atmosphäre vergiftet. Polykrates bot dem Heimkehrer sogar eine Stelle bei Hof an, doch Pythagoras verweigerte und floh aufs Land, wo er als Einsiedler leben wollte. Dort fand er einen einzigen Schüler, den er letztlich nach Süditalien mitnahm, wo er – auch dank der Unterstützung eines finanzkräftigen Mäzens – endlich mit dem Aufbau einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten beginnen konnte.

Philosophische Sekte

Diese Gemeinschaft hat viele Eigenschaften, die wir heute mit Sekten oder Geheimbünden verbinden. Sie verwendeten den fünfzackigen Stern, das Pentagramm, als Symbol. Wer eintreten wollte, musste sein Vermögen stiften. Das Verlassen der Gruppe war möglich, kostete aber das Doppelte. Es gab Kleidervorschriften, die Lebensweise war vegetarisch. Zudem herrschte ein strenges Verbot des Verzehrs von Bohnen, über dessen Grund schon in der Antike spekuliert wurde. Die Angst vor Bohnen ging manchen Quellen zufolge sogar so weit, dass Pythagoräer nicht mit Bohnenkraut in Berührung kommen wollten und auch unter Todesgefahr nicht in der Lage waren, durch ein Bohnenfeld zu fliehen. Die pythago-räische Gemeinschaft besaß also erstaunlich viele Regeln. Dafür lockte ein inspirierendes Umfeld von Intellektuellen, dem auch einige Frauen angehörten.

Welche religiöse Komponente der Vereinigung anhaftete, lässt eine Textpassage von Aristoteles erahnen, der schreibt, Pythagoras habe die Fähigkeit gehabt, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Erwähnt wird er auch beim griechischen Geschichtsschreiber Herodot. Ein thrakisches Volk mit sonderbaren religiösen Gebräuchen, die das Pfählen von Menschen beinhalten, wird dort von einem ehemaligen Sklaven des Pythagoras angeführt, der sich – so schreibt der griechische Historiker – die Einfältigkeit der thrakischen Menschen zunutze machte und seine eigene Sekte gründete.

Die Gemeinschaft um Pythagoras war vergleichsweise moderat. Insgesamt handelte es sich bei ihrem Gedankengut um eine Mischung aus religiös anmutender Zahlenmystik und verblüffend moderner Mathematik mit bis heute gültigen Beweisen. Einzig die bei Babyloniern und Ägyptern so wichtige Anwendungsorientierung schien keine Bedeutung zu haben. Es handelte sich um reine Philosophie, wobei dieses Wort damals freilich noch nicht erfunden war. In antiken Schriften ist von Pythagoras als "Sophisten" die Rede. Diese intellektuellen Lehrer gelten heute als Vorläufer der Philosophen. Dieses Wort prägte Pythagoras selbst. Er plädierte dafür, die Liebe zum Reichtum durch Liebe zur Weisheit zu ersetzen – Letzteres ist die wörtliche Bedeutung des Wortes "Philosophie".

Zahlen, die anders sind

Die Entdeckung der irrationalen Zahlen gelang seinen Nachfolgern. Damals ging man davon aus, dass sich geometrische Längen durch Brüche darstellen lassen – die rationalen Zahlen, wie sie heute heißen. Das ist auf den ersten Blick naheliegend, immerhin können Brüche beliebig klein werden. Wer eine Strecke in gleich lange Einzelstücke unterteilt, kann laut dieser Idee mit den Teilungspunkten jeden Punkt der Strecke erreichen, solange er nur in der Lage ist, die Einzelstücke immer kleiner und kleiner zu machen.

Doch damit saß die Gruppe einem spektakulären Irrtum auf, wie ausgerechnet ein Pythagoräer zeigte: Ein einfaches Quadrat der Seitenlänge eins besitzt eine Diagonale, die sich nicht als Bruch aus ganzen Zahlen darstellen lässt. Die Quadratwurzel aus der Zahl zwei ist irrational. Ein Nebeneffekt davon ist, dass sie in Dezimaldarstellung unendlich viele Kommastellen besitzt.

Nach der Flucht aus seiner Heimat, der griechischen Insel Samos, gelang es Pythagoras, an der kalabrischen Küste nahe dem heutigen Crotone eine Philosophenschule zu gründen.

Um diese Entdeckung ranken sich verschiedene Legenden. Eine Geschichte besagt, dass Hippasos von Metapont den Fund bekanntmachte, sich dadurch aber des Geheimnisverrats schuldig machte und aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Daraufhin soll er unter mysteriösen Umständen im Meer ertrunken sein – als Strafe der Götter

Später wurden viele weitere irrationale Zahlen entdeckt. Sie versteckten sich gerade in den einfachsten geometrischen Formen: die schon erwähnte Quadratwurzel der Zwei im als harmlos geltenden Quadrat, eine weitere im Kreis. Das Verhältnis zwischen Kreisdurchmesser und Kreisumfang lässt sich ebenfalls nicht als Bruch darstellen. Es handelt sich dabei um die Zahl Pi. Auch der mystische fünfzackige Stern, das Pentagramm, enthält ein Längenverhältnis, das nicht durch rationale Zahlen darstellbar ist. Es gibt sogar die Theorie, dass die irrationalen Zahlen an diesem Beispiel entdeckt wurden. Spätestens hier hätte klar sein müssen, dass irrationale Zahlen ein wesentlicher Bestandteil des Fundaments der von den Pythagoräern so geliebten, ganz aus Zahlen bestehenden Welt sind.

Faszination bis heute

Sowohl an der Geschichte des Ausschlusses von Hippasos aufgrund seiner Entdeckung als auch an der beinah religiösen Bedeutung ganzzahliger Längenverhältnisse gibt es heute Zweifel. Die Legende vom Geheimnis soll auf ein Missverständnis um die griechische Bezeichnung für die "unaussprechlichen" Zahlen zurückgehen. Doch die Irritation darüber überdauerte dennoch Jahrhunderte. Noch ein Wegbegleiter Luthers, der Theologe Michael Stifel, sagte: "Wie also eine unendliche Zahl keine Zahl ist, so ist eine irrationale Zahl keine echte Zahl [...]."

Das Verständnis um die Tragweite dieser Entdeckung setzte sich also erst langsam durch. Ein Durchbruch gelang erst dem deutschen Mathematiker Georg Cantor. Er konnte beweisen, dass die Menge der irrationalen Zahlen weit größer ist als jene der rationalen. Rationale Zahlen lassen sich in Wirklichkeit abzählen, es gibt von ihnen also nicht mehr als von den wohlbekannten natürlichen Zahlen, mit denen die Menschen schon lange vor Pythagoras Steine und Oliven zählten. Jeder Versuch, die irrationalen Zahlen abzuzählen, muss allerdings scheitern. Der Beweis dafür mittels "Diagonalmethode" ist wahrscheinlich Cantors bekannteste Leistung

Die Größe unendlicher Mengen ist dabei ein intuitiv nur schwer fassbares Mysterium, das noch bis heute die Mathematik beschäftigt. Es sind genau diese verwirrenden Aspekte der mathematischen Unendlichkeit, die schon die Pythagoräer auf die falsche Fährte lockten.

Mathematik in der Musik


Waren die Pythagoräer also religiöse Fanatiker oder kühle Rationalisten? Eine Antwort darauf lässt sich womöglich in ihrer Leidenschaft für Musik finden. Pythagoras untersuchte Saitenschwingungen einer Leier und verstand, dass gerade Saiten mit Längen, die ganzzahlige Verhältnisse bilden, sich zu wohlklingenden Tonfolgen zusammensetzen lassen.

Die Faszination für Musik legt nahe, dass die Mathematik aus demselben Antrieb betrieben wird, der heute noch bei vielen Mathematik-Begeisterten vorherrschend ist: das Streben nach einem ästhetischen Ideal. Auch die Ästhetik kommt übrigens nicht nur mit ganzzahligen Verhältnissen aus, liegt doch dem ästhetischsten aller Längenverhältnisse, dem Goldenen Schnitt, ebenfalls eine irrationale Zahl zugrunde.
 


Nota. - Philosophie ist kein eingetragenes Warenzeichen. Aber auch kein Ausdruck ganz privater Wertschätzung wie schnafte oder dufte. Wenn überhaupt eine spezifische Bedeu-tung darin liegt, dann eine wissenschaftliche. Und zwar nicht erst, weil Philosophie eine Wissenschaft wäre, was dieser oder jener bestreiten könnte; sondern weil das, was seit dem 19. Jahrhundert einvernehmlich als Wissenschaft verstanden wird, ursprünglich hervorge-gagen ist aus dem, was die alten Griechen - nachdem sie es, wie wir oben lesen, schon eine Weile betrieben hatten - Philosophie genannt haben: Man kann die eine nicht ohne die andere bestimmen.

Als wahr soll der einen wie der anderen nur dasjenige gelten, was auf seine Gründe hin geprüft worden ist.

Geprüft von wem, mit welcher Autorität? Wer immer Autorität beansprucht, dem wird sie von irgendwem bestritten werden. Es muss und kann nur die Prüfung durch einen stetigen unendlichen Prozess geschehen, an dem sich ein jeder beteiligen kann, der sachlich etwas beizutragen hat - worüber allen andern Beteiligten in ebendiesem selben Prozess ununter-brochen mit zu entscheiden haben. Es ist die Idee der res publica eruditorum, der Gelehr-tenrepublik zunächst, und die Idee der gebildeten Öffentlichkeit seit dem Ausbruch des Zeitalters der Vernunft. Wissenschaft sei, schrieb ein von mir geschätzter Autor,  schlechter-dings öffentliches Wissen.

*

Und nun zum Thema. So schlau in der Sache irgendeine Menschgruppe auch wäre: Wenn sie ihre Klugheiten nicht grundsätzlich allen andern zur Prüfung, zum Beifall oder zur Ab-lehnung vorlegt, mag sie gut und gerne Recht haben; aber Wissenschaft ist das nicht. Recht haben kann jeder für sich. Aber Wissenschaftler ist man für alle oder gar nicht. Auch nicht Philosoph.

Die Pythagoreer haben zur Lehre der Mathematik enorm beigetragen. Doch der Wissen-schaft haben sie nicht genützt, so wenig wie der Philosophie.
JE

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