Montag, 19. Dezember 2022

Sich erkennen im Blick der Anderen.

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aus FAZ.NET, 17. 12. 2022                                                                                                             zuJochen Ebmeiers Realien

Zum Tod von Fritz Kramer
Ein Vordenker, dessen bedeutende Rolle für die deutschsprachige Ethnologie erst im Rückblick ganz klar wird: Zum Tod des Ethnologen Fritz Kramer.

von Karl-Heinz Kohl   

Über kaum ein anderes akademisches Fach wird in der gegenwärtigen postkolonialen Debatte mehr hergezogen als über die Ethnologie. Dass sie sich in den Dienst des Kolonialismus habe stellen lassen wird ihr nicht weniger zum Vorwurf gemacht als ihr Exotismus. Tatsächlich aber hat sich gerade die deutschsprachige Ethnologie mit beiden Themenkomplexen schon in den 1970er-Jahren kritisch auseinandergesetzt, also schon lange bevor an die heutige Woke-Bewegung mit ihrem radikalen Moralismus überhaupt zu denken war.

Eine zentrale Rolle hat dabei Fritz Kramer gespielt. 1969 in Heidelberg mit einer noch im konventionellen Stil gehaltenen Dissertation über die mittelamerikanischen Cuna promoviert, trat er 1971 am Ethnologischen Institut der FU Berlin eine Assistentenstelle an. Dass sie gegen den Widerstand des damals einzigen Professors des Instituts mit ihm besetzt wurde, hatte das ehemalige Mitglied des Heidelberger SDS den linken Studenten des gerade erst neu gegründeten Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften zu verdanken.

Erhellungen der Vorgeschichte des Fachs


Sie wurden nicht enttäuscht. Innerhalb kurzer Zeit gelang Kramer, mit seinen Seminaren zu antikolonialen Heils- und Umsturzbewegungen in Afrika und Asien, zur Widerstandsfähigkeit akephaler segmentärer Gesellschaften und ähnlichen Themen einen immer größeren Kreis um sich zu sammeln. Zu den Besuchern seiner Lehrveranstaltungen gehörten bald nicht nur angehende Ethnologen, sondern auch Soziologen und Politologen, Religionshistoriker und Judaisten. Was die Zahl seiner Anhängerschaft anbelangt, konnte er mit den beiden anderen damaligen Größen des Fachbereichs, Klaus Heinrich und Jakob Taubes, durchaus konkurrieren.

Mit seiner Habilitation, die 1977 unter dem Titel „Verkehrte Welten“ erschien, wendete er sich dann aber einem ganz anderen Thema zu. In dieser Abhandlung ging es um ihm die Vorgeschichte des von ihm vertretenen Faches, seiner Geburt aus dem romantischen Geist eines Friedrich Creuzer und Johann Gottfried Herder, Johann Jakob Bachofen und Adalbert von Chamisso, die den unermüdlichen Reisenden Adolf Bastian zu seiner Rettungsethnologie, seiner weltweiten Suche nach den Völker- und Elementargedankens der Menschheit bei den sogenannten Naturvölkern inspirierten. Sie lag der von Bastian gegründeten deutschen Völkerkunde zugrunde, und mit ihr beeinflusste er auch Franz Boas, dessen Kulturanthropologie das Fach in den Vereinigten bis heute prägt.

Die Verbindung zum Exotismus der Künstler

Kramer beließ es aber nicht allein bei solchen geistesgeschichtlichen Spurensuchen. Sein besonderer Ansatz bestand vor allem darin, dass er die Anfänge seiner Disziplin in ihren zeitgenössischen kulturellen Kontext stellte und zum Exotismus von Künstlern wie Paul Gauguin, Emil Nolde oder Max Pechstein in Beziehung setzte, die zu ihren Reisen in die Südsee in der Absicht aufgebrochen waren, den Zwängen der Zivilisation für immer zu entfliehen. Mit seiner Untersuchung zur „imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts“ nahm er viele der Theorien und Thesen vorweg, mit denen der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem 1978 veröffentlichten Orientalismus-Buch die Forschungsrichtung der postkolonialen Studien begründete.

Freilich scheint dieser heute so dominant gewordene Zweig der Kulturwissenschaft mit seiner Kritik am Exotismus auf einem Auge blind. Denn das Phänomen, von fremden Kulturen gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen zu sein, ist keine Eigentümlichkeit, die sich nur in Europa findet. In China, Japan oder Indien kann man es ebenso beobachten wie bei den indigenen Völkern Afrikas, Südamerikas oder Ozeaniens. Kramer hat ihr mit seiner vergleichenden Studie „Der rote Fez. Über Besessenheit und Kunst in Afrika“ seine zweite große Pionierarbeit gewidmet.

Die Kolonialherren nachspielen

Die Besessenheit von Fremdgeistern erscheint darin als Gegenstück zum europäischen Exotismus. Ein makabres Beispiel ist der von Jean Rouch in „Maîtres fous“ filmisch dokumentierte Hauka-Kult ghanaischer Wanderarbeiter. Die „verrückten Meister“, die sich um die Zubereitung eines geschlachteten Hundes streiten, sind die britischen Kolonialherren, die von den Kultteilnehmern Besitz ergriffen haben. Die Portraitierten können sich in ihnen bestenfalls als Karikaturen wiedererkennen. Doch gerade in diesem Verfremdungseffekt liegt für Kramer die Stärke sowohl der eigenen wie auch der inversen Ethnographie: nämlich uns so zu sehen, wie die anderen uns sehen.

Kramers Beitrag zur Ethnologie erschöpft sich nicht in diesen beiden Hauptwerken. Einen Namen hat er sich auch als Herausgeber der Werke von Bronislaw Malinowski gemacht. Außerhalb des Faches war der sozialanthropologische Ansatz des Begründers des britischen Funktionalismus in Deutschland bis dahin so gut wie unbekannt, wo die ethnologische Lehrstühle noch bis Ende der frühen 1970er Jahre hinein fast ausschließlich durch Vertreter kulturhistorischer Schulrichtungen besetzt waren.

Publizist und Professor in Hamburg

Paradoxerweise war es Kramers hoher Bekanntheitsgrad sowie der ihm immer noch anhängende Ruf, zu den Rebellen von 1968 gehört zu haben, der ihn um den verdienten Erfolg seiner Arbeiten brachte. Das von seinen einstigen Genossen geschmähte „wissenschaftliche Establishment“ scheint ihm wohl beides nie verziehen zu haben. Über eine zeitlich befristete Professur an der Berliner Freien Universität ging seine akademische Karriere im eigenen Fach nie hinaus. Kramer resignierte und war ab 1983 als freier Publizist tätig.

Wie geschätzt er wegen seiner interdisziplinär ausgerichteten Arbeiten außerhalb des Fachs war, zeigte sich sechs Jahre später, als für ihn auf Anregung eines Regierungsmitglieds der Freien Stadt Hamburg an der dortigen Hochschule der bildenden Künste eine Professur für Ästhetik eingerichtet wurde. Dem eigenen Fach blieb er dennoch treu. Sein letztes veröffentlichtes Buch war das Ergebnis der ethnographischen Feldforschung, die er über die Kultur seiner Hamburger Studierenden in geduldiger teilnehmender Beobachtung über viele Jahre hin betrieben hatte.

Eine Wirkung, die sich zeigte

Fritz Kramer war ein Vordenker, der über die vielen Schülerinnen und Schüler, die seine Veranstaltungen besucht haben, die deutschsprachige Ethnologie in den zwei Jahrzehnten vor und nach der Jahrtausendwende entscheidend geprägt hat. Dabei erging es ihm freilich wie vielen der Wissenschaftler, die ihrer Zeit immer einen Schritt voraus waren. Erst in der historischen Retrospektive wird man sich ihrer Bedeutung bewusst. Am 14. Dezember ist Fritz Kramer im Alter von 81 Jahren in Berlin gestorben.


Nota. -  An die Relativität von Allem kann nur glauben, wer den eignen Blickwinkel für selbstverständlich hält: von allen Absolutismen der gewöhnlichste. Daher die Unfrucht-barkeit des Skeptizismus als Erkenntnislehre.

In ihrem Eifer, sich und uns den kolonialen Blick auszutreiben, unterzogen die kultur-rebellischen Studenten der sechziger Jahre Alles dem nivellierenden Korsett der Struktur und merkten nicht, wie sie mit der Schmähung des Exotismus aus dem Ästhetischen das Geschmacksurteil vertrieben und alles Fremde um seine Individualität und Persönlichkeit brachten.

Seither muss man Frobenius & Co. wieder als Bewahrer der Eigenheiten preisen. Es sind nicht alle Kulturen gleichartig oder gleichwertig. Die Eigenheit der Kulturen besteht in den Unterschieden ihrer Wert ordnungen. Man kann sich zu ihnen so stellen oder so. Doch diese ignorieren heißt jene geringschätzen.
JE

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