Mittwoch, 28. Dezember 2022

Auch die Vernunft hat einmal klein angefangen.

         zu öffentliche Angelegenheiten
aus FAZ.NET, 28. 12. 2022                                 Das genaue Gliedern der Ge­danken hatte Boineburg von seinem Lehrer Conring gelernt. Auf einer leeren Seite in dessen Buch zur germanischen Geschichte des Reiches entwarf er das Inhaltsverzeichnis seines Irrtumsbuches.

VOM NUTZEN DER IRRTÜMER

Ein Buch, das die Welt gut hätte gebrauchen können

von MARTIN MULSOW

So hatte er’s ja auch gemacht, aber es kam ihm falsch vor: Unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges entwarf der Diplomat Johann Christian von Boineburg ein Buch über den Nutzen der Irrtümer.

Die Universitätsbibliothek Erfurt verwahrt die Bibliothek von Johann Christian von Boineburg: zehntausend Bücher, und in fast jedem finden sich Unterstreichungen, Marginalien, Hinweise auf andere Bücher, Inhaltsverzeichnisse von geplanten Werken, ja sogar handgeschriebene Teile solcher Werke in eingebundenen Zettelkonvoluten. Boineburg, der am 12. April 1622 geboren wurde, war nach dem Dreißigjährigen Krieg der wichtigste Berater des Mainzer Kurfürsten und damit bis zu seinem Sturz 1664 einer der maßgeblichen Politiker im Reich, ja einer der Architekten der Nachkriegsordnung. In seinen späteren Jahren agierte er gezwungenermaßen als Privatier, wurde Mentor des jungen Leibniz und setzte sich für eine irenische Überwindung der konfessionellen Spaltung Deutschlands ein. Außerdem animierte er seine gelehrten Freunde, das Naturrecht von Hugo Grotius dezidiert als christliches Naturrecht zu kommentieren und auszugestalten.


Eines der in den Vorsätzen der Bücher notierten Inhaltsverzeichnisse erweckt besonderes Interesse. „De usu errorum“ sollte ein Werk Boineburgs heißen, das aber nie erschienen ist, vielleicht auch nie vollendet wurde. Der viel beschäftigte Politiker war ein Netzwerker, ein Projektierer, ein Büchernarr, aber kein ge­duldiger Ausarbeiter von großen Folianten. An einem Buch über Irrtümer also arbeitete er. Wie soll man diesen „usus“ übersetzen? Ist es nur der Gebrauch oder auch der Nutzen? Oder sollte man es – anachronistisch modern – mit dem Begriff der Rolle versuchen: Die Rolle von Irrtümern in politischen Angelegenheiten? Oder gar: die politische Funktion und Funktionalisierung von Irrtümern? Dann könnte Boineburgs Analysen über all die Veränderungen von vier Jahrhunderten hinweg Aktualität zuwachsen. Wäre eine politische Funktionsgeschichte des Irrtums nicht ein beklemmend akutes Desiderat?

Je mehr Korruption, desto mehr Juristen

Versuchen wir, aus den fragmentarischen Inhaltsverzeichnissen ein Bild vom Inhalt des Werkes zu erhaschen. Da begeben wir uns unversehens auf eine Schnitzeljagd durch die Bibliothek, bei der die Lesespuren in einzelnen Werken auf immer andere Teile der Bibliothek verweisen. So hatte der vierundzwanzigjährige Boineburg 1646 – die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück waren in vollem Gange – die pseudonym erschienene Abrechnung von Bogislaw von Chemnitz mit den Strukturen des Alten Reiches, Dissertatio de ratione status in Imperio nostro Romano-Germanico, gekauft. Im Spätherbst 1647 nahm er sich das Buch wieder vor.

Chemnitz be­klagt, dass das Reich „sich selbst unähnlich“ geworden sei, denn die alten Freiheiten und Selbstbestimmungen seien vom römischen Recht überlagert und von der kaiserlichen Macht beschnitten worden. Eine ganze Kaste von Interpreten des Justinianischen Kodex sei aufgetreten und habe es sich in den Verwaltungen bequem gemacht. „Von daher“, schreibt er, „gibt es wie in einem völlig korrupten Staat viele Gesetze und viele Juristen. Von daher gibt es zwischen Privatpersonen zahllose Streitigkeiten, und im öffentlichen Be­reich abhanden gekommene Glaubwürdigkeit.“ Boineburg streicht sich das an und notiert am Rande, was das Privatrecht angeht: „Man vergleiche Diodor Tuldens ‚De causis corruptorum judiciorum eorumque remediis‘“.

Das war das Buch eines Professors in Löwen, der höchst detailliert die Juristenzunft kritisiert hatte und Verbesserungen der Verwaltung vorschlug. Hat Boineburg das Buch besessen? Ja, aber erst nachdem er vergeblich seinen Freund Zacharias Prüschenck bekniet hatte, es ihm auszuleihen. Der Geheimrat aus Eisenach antwortete ihm, dass er den Band nicht entbehren könne: „Wenn ich hier die Laster des Richters aushalten muss, dient mir das Buch immer als Erinnerung, nicht zu sehr in der Ursachenbestimmung über die Grenzen des Guten und Billigen hinauszugehen.“ So kaufte sich Boineburg das Werk selbst und war befriedigt: „Wenn ich zuhause bin, lese ich voll Freude in Tuldens großartigem Buch.“ Boineburg hielt sich damals in Gießen auf. Er arbeitete zwischen dem 10. und dem 25. November die Schrift durch und notierte sich das auf der Schlussseite. Wie gewohnt unterstrich er dick mit Tinte.

Zeit zum Lesen hatte er. Denn man hatte ihn soeben all seiner Aufgaben entbunden und sogar kurzzeitig inhaftiert. Sein Arbeitgeber hatte ihn als neutralen Unterhändler im „Hessenkrieg“ eingesetzt, einem Erbstreit zwischen Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel. Der Streit war dadurch entstanden, dass der Landgraf von Hessen-Marburg 1604 ohne Erben gestorben war und sein Territorium unter den beiden anderen Linien aufgeteilt wurde. Nie konnte man sich endgültig darüber einigen, wer was bekommen sollte, und dann verquickte sich der Konflikt auch noch mit dem Dreißigjährigen Krieg. Da die lutherischen Darmstädter kaisertreu waren, die calvinistischen Kasseler aber mit den Schweden paktierten, kämpften die Hessen auf zermürbende Weise gegeneinander. Es gab Tote, Hunger, Misshandlungen, Gängeleien. Jetzt, 1647, war man kriegsmüde, und in Münster und Osnabrück liefen bereits die Verhandlungen zum Frieden im Reich.gs Brotherr, Johann von Hessen-Braubach, hatte sich angeboten, zwischen den verfeindeten Linien der Dynastie zu vermitteln, denn er stand tatsächlich zwischen den Fronten. Er war ein jüngerer Bruder von Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt, der ihn als Zweitgeborenen mit einer kleinen Herrschaft am Rhein um Braubach herum abgefunden hatte; da Johann unzufrieden war, näherte er sich den Schweden, die Hessen-Kassel unterstützen, und geriet so in eine Mittelstellung. 1645 hatte er den jungen Boineburg nach Schweden geschickt, um dort die Hessische Sache zu verhandeln; dann im Sommer bekam Boineburg die wichtige Aufgabe, für Hessen-Darmstadt in Kassel einen Vertrag auszuhandeln, der endlich den Streit um Marburg regeln sollte – sein erster großer Fall. Boineburg tat das, aber dem Darmstädter Landgrafen waren die Ergebnisse viel zu mager. Er geriet in Rage und feuerte den jungen, manchmal zu arrogant und eigenmächtig agierenden Juristen.

In dieser Lage las Boineburg jetzt Bücher über politische Missstände im Reich. Schon im April hatte er in einem Brief an seinen Freund Dieterich seitenlang geschimpft: „Die meisten unserer Landsleute sind Eiferer, die keinerlei Urteilskraft besitzen, mit der sie Dinge auseinanderhalten und unterscheiden könnten, Witzfiguren, sündhafte Magnaten. Die, weil sie nichts richtig gelernt haben, die ganze Welt mit ihrer Ignoranz und mehr als papistischen Starrheit betäuben. Sie sind die eigentlichen Anstifter der Streitigkeiten und Aufwiegler zum Krieg, solche, die einen Prozess durch unwahre Erfindungen in die Länge zu ziehen versuchen!“ Auch die Theologen mit ihren apokalyptischen Hasspredigten gehörten dazu.

Die Voraussetzungen, eine Vorteilslösung für die eigene Seite zu erwirken, dürfte Boineburg da wohl selbst als schlecht beurteilt haben. Im November 1649 schrieb er: „Oh, wie laufen die Hessischen Angelegenheiten aus dem Ruder! Die Welt ist erfüllt von Dummheiten, Irrtümern und Lastern, voll von entsprechendem Ungeschick und Ruchlosigkeit. Wer ist deshalb, lass hören, sicher unter dem geringen Dienst bei unseren Leuten?“

Der junge Mann und Büchersammler sah eine enge Verbindung zwischen Unbildung und politischer Barbarei. Auf beiden Seiten erkannte er, wie er dem Freund mitteilte, „unendlich viele Fehler und Wahnsinnigkeiten in der Zivilverwaltung“, die sogar den einfachen Leuten ins Auge fielen, und vor allem einen „verkommenen Geist“, durch den alles erst möglich geworden sei. Das gab ihm die Idee zu seinem Buch: Man müsse die Rolle der Fehler und Irrtümer im politischen Bereich in aller Detailliertheit analysieren, dann nach Abhilfe suchen und vor allem das Land von Grund auf reformieren, durch mehr Bildung und eine tolerantere Form von Religion.

Boineburg blätterte in Tuldens Buch und notierte auf dem Vorblatt mit seinem Stift, was ihm an Parallelen einfiel: „Gleich mit Doktor D. Tulden ist die Ansicht von Johann Oldendorp, zuvor die unseres Friedrich Hortleder, und von Bolognet, Budé, Matheacius und Winkler.“ Oldendorp war ein Hamburger Verwaltungsjurist gewesen, der alles daransetzte, die „Ursachen der Verbiesterung“ der Menschen aufzudecken, wie er es nannte, um zu einer guten Policey-Regelung zu kommen. Von Oldendorp wird man schnell auf Hermann Conring verwiesen, Boineburgs Helmstedter Lehrer, den großen Juristen, Historiker und Mediziner.

Im Zweifel für die Stände

In dessen Schrift vom Heiligen Römischen Reich der Deutschen notierte sich Boineburg Teile des Inhaltsverzeichnisses seines entstehenden Werks. Und er verriet Prüschenck, wie das eigene Buch aufgebaut werden sollte: Erst ein Teil zu Irrtümern bezüglich des Reichs und der Regierung. Das wäre eine Korrektur in der Art von Chemnitz, die im Zweifel die Reichsstände stärkt. Unterkapitel sollten etwa zeigen, wie aus Irrtümern Kriege oder Revolutionen entstehen; wie die Gewöhnung an Irrtümer den schlechten Regierenden hilft, an der Herrschaft zu bleiben; oder wie Irrtümer den Magistraten nützen, um sich Vorteile gegenüber den Untertanen zu verschaffen.

Boineburg beschäftigte sich bewusst nicht mit den Fürsten selbst, sondern mit der Ebene darunter, die er so gut aus eigener Anschauung kannte: die der Räte und Verwaltungen. Dort, so meinte er er­kannt zu haben, nisten sich die Irrtümer besonders nachhaltig ein; dort sei anzusetzen, um sie loszuwerden. Dann – zweiter Teil – etwas zur Freiheit. Ge­meint war die „Libertät“, ein Stichwort, mit dem die Rechte von Untertanen, Städten und Ständen gegen die Fürsten und ihre absolutistischen Allüren be­schworen wurden.

Das dritte Buch war als ein Sammelsurium gedacht, in dem es um Religion und Kirchenordnung ging, aber auch um „literarische Dinge, Akademien, die Pflege der gesamten Bildung, Frömmigkeit, Tugend, Volkserziehung“. Da sollte zweifellos der Grund gelegt werden für eine stabilere Mentalität, die gefeit gewesen wäre gegen all die schnellen und verführerischen Irrwege. Buch vier: Verbesserung der Rechtsangelegenheiten. Boineburg wollte die Kniffe der Juristen bloßlegen, die rein nach Interessenlage in die eine oder andere Richtung argumentierten. Im Hessenkrieg konnte man sehen, wie mit allen betrügerischen Mitteln gearbeitet wurde, selbst mit gefälschten Verträgen. Für solche Themen konnte Boineburg das Buch von Tulden als Vorlage benutzen. Und noch ein anderes, das er nannte: den „Parthenius litigosus“, eine umfangreiche Polemik, die 1612 erschienen war und ebenfalls schonungslos Ursachen von Streitigkeiten benennt und systematisiert.

Schließlich der fünfte und letzte geplante Teil: zum Kriegs- und Friedensrecht. Das war das Stichwort Boineburgs zu seinem großen Heros, dem Niederländer Hugo Grotius, der 1625 das Standardwerk für dieses Feld geschrieben hatte, das Grundbuch des modernen Naturrechts. Für Boineburg war es alles anderes als rein akademische Lehre. Er las dessen Inhalt „mitten im Geschehen der Dinge“ und „unter dem Gewicht der An­wendung“, ja war überzeugt davon, dass gerade die praktische Umsetzung der Ansichten von Grotius deren eigentliche Bedeutung freilege. Reine Theorie kann immer irren.

Sein eigenes Exemplar ist über und über mit Marginalien bedeckt, und eine solche Art der Lektüre wollte er auch in seinem eigenen Werk empfehlen: „Das Erhabenste und Genaueste bei Rechtsdingen ist es, den Usus von Irrtümern zu kennen und darzulegen, wie er bekannt wird.“ Da ist er, der „usus“: Es ging offenkundig darum, Fehlstellen in ihrem politischen Zusammenhang zu analysieren und ans Licht zu bringen, zur Bildung des politischen Nachwuchses, der lernen sollte, mit Orientierungsbüchern à la Grotius und Tulden in der Hand die Praxis zu verbessern.

Boineburg wollte Grotius nicht nur praxeologisch, sondern zugleich auch christlich auslegen. In Helmstedt war Georg Calixt sein Lehrer gewesen, der große Theologe, der im Frühchristentum eine Basis für den Konsens zwischen den Konfessionen suchte und dafür von allen Seiten angefeindet wurde. Doch es gab kleine Kreise, zu denen Boineburg und sein Pastorenkollege in Hessen-Braubach, Johann Balthasar Schupp, gehörten, die in dieser Irenik den einzigen Weg in eine neue, verträgliche Sittlichkeit des Zusammenlebens jenseits der endlosen Streitigkeiten sahen. In diesen irenisch gesinnten und Grotius verehrenden Delegationskreisen um Schupp, Salvius und Boineburg, die sich bei den Friedensgesprächen in Münster trafen, ist wohl auch die kleine aufmüpfige, anonyme Schrift „Ineptus religiosus“ entstanden, die zu selbständigem Denken anleiten will und Lessing so gefallen hat. In ihr heißt es: „Um aber von deiner Obrigkeit ein richtiges Urteil fällen zu können, wirst du sehr wohl tun, wenn du von allen ihren Mängeln und Fehlern Nachricht einzuziehen suchst.“ Das war auch Boineburgs Programm.

Die kleine Schrift fährt aber mit einer burlesken Pointe fort, wie Schupp sie liebte: Nachricht von ihren Fehlern könne man „am besten durch ihre Mägde“ bekommen. „Die sind voll von witzigen Geschichten über Geiz und Boshaftigkeiten ihrer Herrschaften.“ Man sollte sich den Blick der einfachen Leute zu eigen machen, um die Irrtümer der Großen zu erkennen.


Nota. - Und vor allem eins hat er schon klar erkannt: Wenn selbst das Problem der Hoheit auf vernünftige Weise gelöst wäre, blieben noch immer ihre vielen Tausend subalternen Nutznießer, bei denen Hopfen und Malz verloren sind.
JE

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