Montag, 31. Oktober 2022

Abstraktion wird erst durch Verneinung möglich.

                                                                        zu Philosophierungen
aus derStandard.at, 30. 10 2022                Hühnerküken verstehen das Konzept von Abwesenheit, wie Forschende nun zeigen konnten.

SEIN ODER NICHTSEIN
Küken von Haushühnern verstehen die Bedeutung von "Nichts"
Bisher war unklar, ob es zur Vorstellung der Nichtexistenz eines Objekts die Fähigkeit zur Sprache braucht. Experimente an Hühnerküken brachten nun Klarheit.

Das Sein und das Nichts – schon große Denkerinnen und Denker wie Jean Paul Sartre, dessen Hauptwerk diesen Titel trägt, beschäftigte die Frage, wie etwas nicht sein kann und was das für uns bedeutet. Menschen verstehen das Fehlen eines Objekts als "Nichts" und haben dementsprechend auch einen Begriff dafür. Doch können auch Lebewesen, die nicht über Sprache verfügen, eine Vorstellung vom Nichtvorhandensein von Objekten haben? Eine neue Studie, die von der Central European University in Kooperation mit der Queen-Mary-Universität London sowie den Universitäten Triest und Trento durchgeführt wurde, legt jetzt nahe, dass die Küken von Haushühnern dazu in der Lage sind. Diese Ergebnisse wurden nun im Fachjournal "eLife" vorgestellt.

Im Zuge von vier Experimenten wurden Küken im Alter von acht Tagen in einen Zylinder gesetzt, von dem aus sie durch ein Loch verschiedene Ereignisse beobachten konnten. In weiterer Folge bekamen sie ein Objekt gezeigt, das dann entweder hinter eine Trennwand gestellt oder gänzlich entfernt wurde.

Unerwartetes hinter einer Trennwand

In verschiedenen Szenarien analysierten die Forscher dann die Reaktion der Tiere auf unerwartete und erwartete Ereignisse. Ein unerwartetes Ereignis wäre zum Beispiel, dass ein Objekt zunächst hinter die Trennwand gestellt wird, dann aber nicht mehr da ist, wenn diese entfernt wird. Erwartbar wäre beispielsweise, dass ein Objekt gänzlich entfernt wird und dann auch nicht hinter der Trennwand auftaucht.

Anhand der Reaktion der Küken, etwa daran, wie lange sie den Blick auf die Szenen richteten oder welches Auge sie bevorzugt verwendeten, konnte gezeigt werden, dass das Verhalten der Tiere mit deren Erwartungen in Bezug auf das Vorhandensein des Objektes zusammenhing. Vor allem die weiblichen Küken verhielten sich so, als würden sie etwas Neues sehen, wenn ein Objekt unerwartet wieder auftauchte. Das hänge damit zusammen, dass sie vermutlich das "ursprüngliche", identische Objekt noch immer als abwesend registrierten.

Die Küken zeigten dabei ein Verhalten, das bereits von anderen Vögeln bekannt war: Sie verwendeten zum Betrachten unbekannter Objekte meist das Linke Auge. Das hat damit zu tun, dass sie aufgrund der seitlich platzierten Augen den Kopf drehen müssen und durch das Sehen mit dem linken Auge die rechte Gehirnhälfte anregen wollen. Während dieses Verhalten typisch für Vögel ist, könnte es sich bei der Fähigkeit, die Abwesenheit von Gegenständen wahrzunehmen, um ein gemeinsames Merkmal von Wirbeltieren handeln, das die Basis für das abstrakte Denken des Menschen legte, heißt es in der Studie. (red, APA)


Studie

eLife: "Young domestic chicks spontaneously represent the absence of objects"


Nota. - So flach, wie sie zuerst erscheint, ist die Meldung garnicht. Sie erkennen es daran, dass der/die Autor:in sie selber nicht verstanden hat. Es geht nämlich nicht um Sachliches, sondern um Vorstellungen: um das, was (wem?) etwas bedeutet: um seine Bestimmtheit als...

Hühnerküken verstehen nicht, wie die Artikelüberschrift behauptet, die "Bedeutung von Nichts", noch auch nur "das Konzept von Abwesenheit", sondern bemerken grademal: Das a, das sie erwarten, ist nicht da.

*

Ein Nichts 'gibt es' nicht. Nicht ist Nicht-Etwas. Doch Etwas 'gibt es' auch nicht: Die Ab-straktion wird erst vorstellbar durch die Verneinung von dieser oder jener Bestimmung. Unbestimmtheit wird erst denkbar nach Fortfall vorangehender Bestimmtheit. 

Da steckt viel Tiefsinn drin. Überfluss ist zum Beispiel nicht das Fehlen von Mangel (an was?), sondern ihr Gegenteil. Die Unbestimmtheit von x hat zur Voraussetzung die Be-stimmtheit von a. Wo es nichts Bestimmtes gibt, gibt es auch nichts Un bestimmtes. Für wen denn? Nur, wer selber schon einmal bestimmt hat, kann nach etwas Bestimmtem fragen - und finden, dass es 'nicht da' ist. Denn dann hat er einen 'Begriff' von Bestimmt-heit: nämlich negativ, als deren Mangel.

'Eine Vorstellung vom Nichtvorhandensein von Objekten' - das ist bescheidener und kommt dem Sachverhalt ein bisschen näher. Jedoch sind Vorstellung, Nichtvorhandensein und Objekt Abstraktionen, die erst einer entwickelten Begrifflichkeit möglich wären. Ob ein solches bei den Küken gegeben war, wollten die Forsch:enden ja wohl herausfinden; und dann schieben sie es nachträglich unter!

Naturforscher:innen wollen sich bitte hinter die Ohren schreiben: Was die 'Dinge' sind und als was sie dem einen oder andern unter diesen oder jenen Bedingungen gelten, sind zwei paar Schuhe. Wer das nicht unterscheiden kann, sollte das Wort Wissenschaft vermeiden.
JE

Samstag, 29. Oktober 2022

Machterschleichung.

aus nzz.ch, 28. 10. 2022                     War im Schlafwagen anmarschiert                               zu öffentliche Angelegenheiten

Mussolinis Marsch auf Rom: 
ein grosser Bluff mit weitreichender Wirkung
Vor hundert Jahren ergriffen die Faschisten die Macht in Italien. Hitler war begei-stert von diesem «Wendepunkt der Geschichte». Doch wie viele Beobachter ver-stand er Mussolinis Strategie erst später richtig.


von Hans-Ulrich Thamer

Am 29. Oktober 1922, einen Tag nach dem drohenden Aufmarsch faschistischer Kampf-bünde vor den Toren Roms, schrieb Harry Graf Kessler, ein deutscher Diplomat und Kunstmäzen, in sein Tagebuch: «Die Faschisten haben durch einen Staatsstreich die Gewalt an sich gerissen.» Der welterfahrene Schriftsteller beschloss seinen Tagebucheintrag mit einer düsteren Ahnung: «Der erste Zug im siegreichen Vormarsch der Gegenrevolution. Vielleicht leitet er eine Periode neuer europäischer Wirren und Kriege ein.»

Kesslers Einschätzung wirkt prophetisch. In einem Punkt sollte er sich jedoch täuschen, und viele andere zeitgenössische Beobachter, unter ihnen auch Adolf Hitler, mit ihm. Sie alle verstanden den Marsch auf Rom vor allem als gewaltsame Machteroberung durch eine entschlossene Minderheit. Dabei verkannten sie, dass Mussolini eine riskante «psychologi-sche Kriegsführung» betrieb, wie der britische Historiker Adrian Lyttelton einmal sagte: Der Marsch auf Rom war Element einer Doppelstrategie von Gewalt und Legalität.

Bei einem nüchternen Blick hätten auch die Zeitgenossen erkennen können, dass Mussolinis politische Strategie keineswegs ausschliesslich auf den Einsatz politischer Gewalt gerichtet war. Dafür war er viel zu vorsichtig und auch nicht willens, sich allein auf die radikale Gewaltbereitschaft der Squadren zu stützen. Stattdessen war Mussolini als geschickter politischer Taktiker entschlossen, mit jedem Verhandlungen zu führen, der hoffte, die unbändige Kraft des jungen Faschismus für seine Zwecke einzusetzen. Die Nachrichten von der Gewaltandrohung der Squadren vor Rom liessen sich im Poker um die Macht in Italien wirkungsvoll einsetzen.

Dass die Squadren mehr als nur ein blosses Spektakel waren, hatte die italienische Öffentlichkeit bereits in den Krisenjahren des liberalen Staates zwischen 1920 und 1922 erfahren. Damals hatten die faschistischen Kampfbünde mit ihren terroristischen «Strafexpeditionen» in Norditalien Einrichtungen der politischen Linken zerstört und mit ihren Aktionen physischer und symbolischer Gewalt in zahlreichen Kommunen und Provinzen eine Art Doppelherrschaft errichtet.

Dennoch waren die Verheissungen des Faschismus, der eine Revolution gegen die Revolution zu führen versprach, für nicht wenige Italiener attraktiv. Der Staat befand sich in einer Vertrauenskrise, die tief gespaltene Gesellschaft in einer Umbruchsphase: Der «Duce» stellte sich als rettende Lösung in einer bürgerkriegsähnlichen Situation dar, obwohl er diese selbst mit den Gewaltaktionen seiner Squadren angezettelt oder verstärkt hatte.

Die politische Krise spitzte sich ab dem Sommer 1922 weiter zu: Eine grosse antifaschistische Koalition gegen die Gewaltwelle der Squadren war im Gespräch, aber gleichzeitig auch ein Mitte-rechts-Bündnis, das die unruhigen Faschisten einbinden und zähmen sollte. Beide Lösungen hätten Mussolini in die Enge getrieben. Er setzte daher auf die erwähnte «psychologische Kriegsführung» und entschied, mit «illegalen Mitteln eine legale Machtergreifung der Faschisten zu erzwingen» (Hans Woller).

Die faschistische Führungsriege einigte sich im September auf eine Intensivierung ihrer Versammlungen und Strafexpeditionen gegen die politischen Gegner, um den politischen Druck zu verstärken. Die Parole von einem «Marsch auf Rom», die der Dichter und Fliegerheld Gabriele D’Annunzio schon 1919 ausgegeben hatte, nahm konkrete politische Gestalt an. In den Verhandlungen, die er in Mailand führte, fand Mussolini Ende Oktober 1922 schliesslich die erforderliche Parlamentsmehrheit, mit der sich trotz der Minderheitenposition seiner faschistischen Partei in diesem heterogenen Bündnis eine Koalitionsregierung bilden liess. Dank seinen Drohungen konnte Mussolini darin die Führung übernehmen.

Die politischen Konkurrenten betrachteten das Bündnis mit dem Faschismus zunächst nur als Fortsetzung der traditionellen politischen Taktik des «trasformismo», mit dem Vertreter der politischen Opposition in die Regierungsverantwortung einbezogen wurden, um sie auf diese Weise politisch zu zähmen. Die Vertreter des liberalen Staates übersahen, dass sie es nicht mehr mit einer kleinen oppositionellen parlamentarischen Gruppe zu tun hatten, sondern mit einer anschwellenden dynamischen Massenbewegung, die eine eigene Machtlogik und eine militante ausserparlamentarische Organisation besass, die jederzeit mit dem Einsatz militärischer Machtinstrumente drohen konnte.

Mussolinis gewaltbereite Partei-Armee aus Kriegsveteranen, vor allem ehemaligen Offizieren, Studenten und Angehörigen militanter Mittelschichten, war auf einen Marsch auf Rom nur unzureichend vorbereitet. Auch wenn die Squadren viel Sympathien in Armee und Polizei fanden, hätten sie ohne grosse Mühe von der staatlichen Macht gestoppt werden können. Doch diese Möglichkeit wurde durchkreuzt, als König Vittorio Emanuele III. am Morgen des 28. Oktober auf die Verhängung des Ausnahmezustandes verzichtete und damit den liberalen Staat den Faschisten preisgab.

Mit seiner Doppelstrategie von Legalität und Gewalt konnte Mussolini unter den gespaltenen und von der Furcht vor einer sozialistischen Revolution verunsicherten traditionellen Eliten aus Bürokratie, Armee, Grosswirtschaft und Militär Unterstützung gewinnen. Der Eindruck von Chaos und Autoritätsverlust erlaubte es Mussolini, sich in den Verhandlungen in Mailand zum Retter und Ordnungsstifter zu stilisieren, obwohl seine Kampfbünde am 27. Oktober mit der Besetzung von öffentlichen Einrichtungen begonnen hatten.

Erst nach seiner Ernennung zum Chef einer Koalitionsregierung und nach seiner Rückkehr nach Rom im komfortablen Schlafwagen am 29. Oktober konnte Mussolini, im bürgerlichen Anzug und nicht in Parteiuniform, seinen Squadristen die Genugtuung bieten, nun dank einer regierungsoffiziellen Inszenierung ihren Marsch durch Rom doch noch zu bekommen. Am 31. Oktober, als alles vorbei war, liess er zur Befriedigung der Darstellungs- und Aktionsbedürfnisse der eigenen Anhänger die Squadren für einen Nachmittag durch Rom marschieren. Der Marsch auf Rom war mithin ein grosser Bluff und endete in einer theatralischen Inszenierung, die erst stattfand, als die politischen Würfel in den Mailänder politischen Hinterzimmern längst gefallen waren.

Es hatte sich eine neue politische Strategie und ein neuer, zukunftsträchtiger politischer Stil entwickelt. Bald nach dem 28. Oktober 1922 behaupteten die deutschen Nationalsozialisten, der deutsche Mussolini heisse Adolf Hitler.

Tatsächlich hatte Hitler Mussolini als Vorbild gesehen. «Das Braunhemd wäre vielleicht nicht entstanden ohne das Schwarzhemd», monologisierte er noch während des Krieges im Führerhauptquartier. «Der Marsch auf Rom 1922 war einer der Wendepunkte der Geschichte. Die Tatsache allein, dass man das machen kann, hat uns einen Auftrieb gegeben.»

Jedoch hatte Hitler den Marsch zunächst falsch interpretiert, indem er das Gewaltmoment als einziges Element für den Weg an die Macht verstand. Lautstark kündigte er 1923 einen «Marsch auf Berlin» an. Erst als dieser Putschversuch im November 1923 scheiterte, erkannte Hitler, dass der moderne Staat mit seinen Institutionen und Machtapparaten viel zu stark war. Er sah ein, dass nur im Bündnis mit konservativen Eliten und dem Lippenbekenntnis zu einem Legalitätskurs der NSDAP die politische Macht zu erobern war.

Wie für Mussolini bedeutete der Faschismus für ihn fortan eine Revolution gegen die Revolution und gegen den bürgerlichen Staat, die man mithilfe der Konservativen führen müsse. Dazu müsse der Sinn des Krieges wiederhergestellt und dieser als Bürgerkrieg weitergeführt werden. Was er zudem an dem Handeln Mussolinis bewunderte, war dessen ausgeprägte Praxis politischer Theatralik und Inszenierung. Sie erwies sich als wichtiges Instrument zur Stiftung eines politischen Mythos, ohne die auch der Marsch auf Rom nicht seine durchschlagende politische Wirkung erzielt hätte.

Die Inszenierung, die den Marsch auf Rom prägte, war symptomatisch für Mussolinis Stärke. Es war nicht die politische Ideologie, die seine faschistische Bewegung so wirkmächtig machte; für Mussolini war sie ohnehin weniger wichtig als die politische Praxis. Vor dem Hintergrund einer tiefen politisch-sozialen Krise und eines vehementen Vertrauensverlusts der bestehenden Ordnung war es vielmehr der neue politische Stil, der Entschiedenheit und Tatkraft versprach und der die enttäuschten Bürger und Bauern anzog. Die Verherrlichung der Gewalt und die Ästhetisierung der Politik durch Symbole und Riten verhiessen einfache Antworten auf eine Welt in Unordnung und Umbruch.

Vieles davon hatte Gabriele D’Annunzio schon bei Kriegsende 1919 erfunden und hatte mit seiner gewaltsamen Besetzung der kroatischen Hafenstadt Rijeka, in der er kurzzeitig die Republik Fiume errichtete, seinen Willen zur Tat und zur Unbedingtheit demonstriert: durch nächtliche Aufmärsche uniformierter Legionäre, die nicht Fahnen, sondern Dolche in den Himmel streckten; durch die massenhafte, von Fackeln und Feuer begleitete Beschwörung einer von neuem Leben erfüllten sozialen Ordnung; durch die Bereitschaft zum Kampf und zum Heldentod. Mussolini beanspruchte mit seiner faschistischen Bewegung das Erbe des gescheiterten Dichter-Kommandanten für sich. Es begann eine Epoche der politischen Gewalt und der massenhaften Emotionalisierung.


Hans-Ulrich Thamer ist emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Münster.


              folgt: 

Kampflos eingeknickt.


 

Dienstag, 25. Oktober 2022

Anthony Caro in Berlin.


aus Tagesspiegel.de, 22.10.2022

Ein Klassiker wird wiederentdeckt

Die Galerie Max Hetzler bringt den britischen Bildhauer Anthony Caro zurück auf die Bühne.


Von Christiane Meixner


Aus heutiger Perspektive wäre Anthony Caro wohl der nachhaltigsten Künstler überhaupt. Kein Schrottplatz war vor dem Briten sicher, wo immer er hinkam, wollte er ihre Adressen wissen und setzte seine teils monumentalen Skulpturen aus stählernen Resten zusammen, die außer ihm niemand mehr wollte. Räder, Schienen, T-Träger und andere industrielle Formen: Man entdeckt eine ganze Menge davon in Caros Werk, sobald man die Herkunft seiner Materialien durchschaut



Andererseits gab es in jüngerer Vergangenheit wenig Möglichkeiten, die Arbeiten des berühmten Bildhauers zu studieren, der 1987 von Queen Elisabeth zum Ritter ernannt und später auch Mitglied im Order of Merit wurde. 2019 baute die Gemäldegalerie Caros üppige Installation „The Last Judgement Sculpture“ aus 25 riesigen Elementen auf. Sonst aber scheint Zeit über die schweren Stahlfiguren des zweimaligen Documenta-Teilnehmers etwas hinweggegangen. Ein Kapitel viriler Kunstgeschichte, das bloß noch selten aufgeschlagen wird.



Also startet die Galerie Max Hetzler eine Wiederentdeckung mit Plastischem aus sechs Dekaden. Von frühen, wegweisenden Arbeiten wie „First National“ (1964) bis zum späten Schwergewicht „Terminus“, das 2013 in Caros Todesjahr entstand und in dem sich sein Schaffen quasi noch einmal visuell stapelt und einkapselt. Sämtliche Exponate stammen aus dem Londoner Anthony Caro Centre, dessen Direktor Paul Moorhouse auch die Ausstellung aufgebaut hat. Ein Glück, denn Moorhouse war lange Kurator an der Tate Gallery und bringt neben seiner Erfahrung im dialogischen Aufbau einer Ausstellung ein profundes Gespür für Caros Lebenswerk mit.



Sein Gang durch die Ausstellung, die neben Skulpturen auch Zeichnungen aus verschiedenen Phasen enthält, lässt den Künstler plötzlich wieder zeitgemäß erscheinen. Wegen der Konsequenz, mit der Caro seine Materialien recycelte, natürlich. Aber auch, weil sich in den abstrakten Formen etwas spiegelt, das Moorhouse für essentiell bis in die unmittelbare Gegenwart hält. Es sei der amerikanische Star-Kritiker Clement Greenberg gewesen, erklärt er, der Caro in den Vereinigten Staaten von der figürlichen Sprache abbrachte. Sie hatte der Künstler noch in den 1950er-Jahren als Assistent von Henry Moore gelernt, befand sich aber damals in einer Krise. Mit Greenberg sprach er über die Strömungen in anderen New Yorker Ateliers – und Caros Befreiungsschlag mündete in kompletter Abstraktion, wie sie „First National“ zeigt: Eine Skulptur aus gelben Stäben und einer stählerne Fläche, die zwischen zwei grünen Vertikalen ruht. Was nicht heißt, dass es hier keine Bezüge zur menschlichen Figur mehr gibt. Moorhouse dreht und wendet sich vor der Arbeit, streckt einen Arm und kickt das Bein nach vorn. Ob man die Parallelen sieht? Caro, sagt er, habe Bewegungen, die Zustände des Körpers studiert und festgehalten. Nur nicht mehr in Gestalt von Körperteilen, sondern reduziert auf dynamische Gesten in Stahl.



Schweißend bewegte sich der Künstler Richtung Avantgarde. Eine zentraler wie bedeutender Vertreter moderner Bildhauerkunst. Daran zweifelt niemand, denn Sir Anthony Caro zählt zum Kanon des 20. Jahrhunderts, dessen ästhetische Schöpfungen bis heute Einfluss auf die Kunstproduktion haben. Dennoch darf man seine frühen, nahezu schwerelos wirkenden Experimente mehr schätzen als die Wucht des Spätwerks. Je souveräner Caro wird, desto mächtiger formuliert sich sein gestalterischer Wille. Schließlich kommt das Interesse an der Architektur hinzu, der Dialog zwischen Mensch und Umfeld. Ersterer fühlt sich vor Kompositionen wie „Magnolia Passage“ (2005/6) unendlich klein und fragil. Aber vielleicht entspricht dies genau der Absicht, die Caro als alter Mann im Sinn gehabt hat: Respekt vor der Größe des Universums.

Anthony Caro - Six Decades  - 2022 

Galerie Max Hetzler, Potsdamer Str. 77-78; bis 29. Oktober, Di–Sa 11–18 Uhr




wird noch kommentiert...


Donnerstag, 20. Oktober 2022

Im Kosmos schon wieder was Neues.


aus welt.de, 19.10.2022              Das 16.000 Lichtjahre von der Erde entfernte Objekt "G299" ist der Überrest einer Supernova vom Typ Ia

Präzise Vermessung des Universums verschärft kosmologisches Rätsel
Astronomen ermitteln die bislang präzisesten Daten zu Zusammensetzung und Ausdehnung des Universums. Doch die aus Sternenexplosionen errechneten Werte sorgen für ein weiteres Rätsel. Ist ein bislang unbekanntes physikalisches Phänomen im Spiel?

Von Rainer Kayser

Woraus besteht das Universum – und wie schnell dehnt es sich aus? Auf diese Fragen hat ein internationales Forschungsteam die bislang genauesten Antworten ermittelt. Dazu werteten die Astronomen Daten von über 1500 Sternexplosionen in bis zu 10,7 Milliarden Lichtjahren Entfernung aus. Das Problem: Das so ermittelte Tempo der kosmischen Expansion steht in deutlichem Widerspruch zu einem mit einer anderen Methode ermittelten Wert. Das deute auf die Existenz eines bislang unbekannten physikalischen Phänomens im jungen Kosmos hin, schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt „Astrophysical Journal“.

Im Rahmen des Projekts Pantheon+ hat das Team den zeitlichen Verlauf der Helligkeit von Sternexplosionen eines bestimmten Typs gesammelt und ausgewertet. Wenn ein Stern wie unsere Sonne seinen nuklearen Energievorrat vollkommen aufgebraucht hat, endet er als Weißer Zwerg. Nur noch etwa so groß wie die Erde, kühlt ein solcher Sternen-Überrest über Jahrmilliarden hinweg langsam ab. Bildet ein solcher Weißer Zwerg jedoch ein Doppelsystem mit einem zweiten großen Stern, so kann er diesem Materie – hauptsächlich Wasserstoff-Gas – entreißen.

Irgendwann hat ein Weißer Zwerg dann so viel frischen Wasserstoff angesammelt, dass es zu einer thermonuklearen Explosion kommt – einer Supernova des Typs Ia. Solche Explosionen sind für Astronomen äußerst wertvoll, denn sie leuchten alle gleich hell auf. Wie hell eine solche Supernova am irdischen Himmel leuchtet, hängt deshalb nur von ihrer Entfernung ab. Aus der beobachteten Helligkeit der Sternexplosion können Astronomen also die Entfernung der Supernova berechnen.

Ausgestattet mit dieser kosmischen Messlatte können Himmelsforscher durch die Beobachtung vieler Supernovae in unterschiedlichen Entfernungen bestimmen, woraus das Universum besteht und wie schnell es sich ausdehnt. Die Daten von Pantheon+ bestätigen zunächst einmal mit bislang unerreichter Genauigkeit das bisherige kosmologische Modell: Die Materie, aus der Sterne, Planeten und auch wir Menschen bestehen, macht nur einen verschwindend kleinen Anteil von etwa fünf Prozent des Kosmos aus. Dominiert wird das Universum von Dunkler Materie und Dunkler Energie. Die Dunkle Materie 
trägt etwa 29 Prozent zum Kosmos bei und sorgt dafür, dass Galaxien und Galaxienhaufen von der Schwerkraft zusammengehalten werden – allein die sichtbare normale Materie würde dazu nicht ausreichen. Ohne Dunkle Materie wären im Kosmos daher niemals Sterne, Planeten und auch kein Leben entstanden. Die Forscher vermuten, dass die Dunkle Materie aus bislang unbekannten Teilchen besteht. Doch alle Versuche, solche Teilchen aufzuspüren, blieben bislang ohne Ergebnis.

Kosmische Expansion beschleunigt sich

Noch rätselhafter ist die Dunkle Energie. Das Universum ist vor 13,8 Milliarden Jahren beim Urknall entstanden und dehnt sich seither immer weiter aus. Durch die Anziehungskraft der Materie sollte diese kosmische Expansion langsam abgebremst werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Sie beschleunigt sich. Als Ursache sehen die Forscher eine Art von innerer Energie des Raumes. Die Daten von Pantheon+ zeigen jetzt, dass diese Dunkle Energie sich im Verlauf der kosmischen Geschichte vermutlich nicht verändert hat, sie ist konstant.

Brisant ist die Antwort von Pantheon+ auf die Frage, wie schnell sich das Universum heute ausdehnt. Astronomen beschreiben die Ausdehnungsgeschwindigkeit mit der Hubble-Konstanten, benannt nach Edwin Hubble, dem Entdecker der kosmischen Expansion. Pantheon+ liefert für die Hubble-Konstante einen Wert von 73,4 mit einer Unsicherheit von nur noch 1,3 Prozent.

Es gibt jedoch eine zweite, unabhängige Methode, die Hubble-Konstante zu bestimmen. Sie basiert auf einer genauen Untersuchung der kosmischen Hintergrundstrahlung – einer Art Strahlungsecho des Urknalls – und liefert einen Wert von 67,4 mit einer Unsicherheit von 0,7 Prozent. Die Zahlenwerte geben an, um wie viele Kilometer der Abstand zweier Objekte, die 3,26 Millionen Lichtjahre - ein Megaparsec - auseinander liegen, pro Sekunde zunimmt.

Der Unterschied zwischen den beiden Werten wird als Hubble-Spannung bezeichnet. Bislang gab es unter Forschern immer noch die Hoffnung, dass der Unterschied sich schlicht als statistischer Fehler erweist. Doch mit den neuen Daten von Pantheon+ ist die Wahrscheinlichkeit dafür auf weit unter ein Zehntausendstel Prozent gesunken.

„Wir hatten gehofft, mit unseren Daten eine mögliche Lösung für das Problem zu finden“, sagt Co-Autor Dillon Brout vom Harvard Smithsonian Center for Astrophysics in den USA. „Stattdessen müssen wir viele verbliebene Erklärungen verwerfen und die Unterschiede sind ernster als je zuvor.“ Die Hubble-Spannung deute auf eine neue Physik im jungen Kosmos hin – und inzwischen gibt es dazu viele theoretische Überlegungen. „Aber diese Theorien müssen erst noch dem wissenschaftlichen Prozess standhalten“, so Brout – sich also durch weitere Beobachtungsdaten überprüfen lassen.


Nota. - Reelle Wissenschaft hat nur einen Weg: das, was an Tatsachen bekannt ist, zu einer Theorie zusammenzuführen und die Theorie durch Beobachtung sei's der Natur, sei's künstlicher Experimente zu überprüfen, um sie zu widerlegen, zu präzisieren oder zu bestätigen - und durch weitere Beobachtungen auszubauen. Anschauung ohne Begriff ist blind.

Im hier gegebenen Fall wird die Wissenschaft für eine Weile wohl spekulieren und vielleicht auch raten müssen, aber anders gehts nicht. Doch manchmal kommt es auch vor, dass die schließlich gefundene Lösung auf mehr Fragen antwortet, als eingangs gestellt waren.
JE

Sonntag, 16. Oktober 2022

Ist gleich gleich gleich?


aus spektrum.de, 16.10.2022                                                                                  zu Philosophierungen

Was bedeutet Gleichheit?
Das Gleichheitszeichen spielt eine zentrale Rolle in der Mathematik. Aber wann sind zwei Dinge wirklich identisch?

von Florian Freistetter

So gut wie alle mathematischen Disziplinen bauen auf der so genannten Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre auf. Dabei handelt es sich um einen Satz von Axiomen, die beschreiben, was wir unter dem Begriff »Menge« verstehen, und ihre Eigenschaften festlegen. Dazu gehört auch das Extensionalitätsaxiom, das sich so formulieren lässt:

 

Der abstrakte Ausdruck besagt, dass zwei Mengen A und B genau dann gleich sind, wenn sie dieselben Elemente enthalten. Klingt ja irgendwie auch logisch; wie sollte man sonst Gleichheit definieren?

Die Angelegenheit wird allerdings komplizierter, wenn man einen anderen Blick darauf wirft. Sind zum Beispiel die zwei Funktionen f(x) = 2x + 4 und g(x) = 2(x + 2) gleich? Für einen beliebigen Zahlenwert von x liefern beide Abbildungen ein identisches Ergebnis. Die äußere Form der Gleichungen ist aber definitiv verschieden.

Die Frage, wie man Gleichheit interpretiert, ist relevanter, als man angesichts der abstrakten mathematischen Logik denken könnte. Denn die unterscheidet sich durchaus von der menschlichen Logik. Für uns macht es einen Unterschied, in welcher Form etwas präsentiert wird, selbst wenn das, was beschrieben wird, dasselbe ist.

Noch konkreter wird das Problem, sobald man die Mathematik verlässt. Man könnte zum Beispiel zwei Modelle betrachten, welche die Auswirkungen von Schutzmaßnahmen angesichts einer Pandemie beschreiben. Das erste gibt an, dass die Maßnahmen 40 von 100 Menschen schützen. Modell 2 liefert das Resultat, dass 60 von 100 Personen trotz aller Vorkehrungen erkranken können. Oder wenn man es ganz und gar boulevardesk formuliert: Im ersten Fall werden 40 Prozent gerettet; im zweiten müssen 60 Prozent dran glauben. Welches Modell ist besser?

Auf die richtige Präsentation kommt es an

In diesem einfachen Beispiel lässt sich schnell erkennen, dass es keinen Unterschied gibt. So wie die beiden vorigen Funktionen stellen auch die zwei Modelle nur verschiedene Wege dar, um ein und dasselbe Resultat zu beschreiben. Das Framing ist jedoch ein anderes: einmal positiv und einmal negativ. In der reinen Mathematik spielt das keine Rolle. Wenn die Wissenschaft in der echten Welt mit ebenso realen menschlichen Entscheidungen in Kontakt kommt, kann die Präsentation jedoch sehr relevant sein.

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Das wurde unter anderem 1998 in einer Studie untersucht, in der Probanden den Geschmack von Hackfleisch bewerten sollten. In allen Fällen bekamen die Testpersonen das gleiche Fleisch, einmal wurde es allerdings mit dem Label »25 Prozent Fett« versehen und einmal mit »75 Prozent mager« – was rein mathematisch natürlich keinen Unterschied macht. Dennoch empfanden die Leute den Geschmack des »mageren« Produkts als besser und weniger fettig.

Versuchen Sie es selbst: Wem würden Sie tendenziell lieber Fördergelder geben? Einer Forschungsgruppe, deren Experimente zu 60 Prozent erfolgreich sind? Oder einer Gruppe, die eine Misserfolgsrate von 40 Prozent aufweist? Es bedarf einer bewussten Anstrengung, hinter das Framing auf die nackten Fakten zu blicken – unsere menschliche Psychologie steht einer objektiven Beurteilung oft im Weg.

Aus mathematischer Sicht ist die Frage nach der Gleichheit eindeutig geklärt. Wir Menschen lassen uns aber täuschen. Diese Möglichkeit der Manipulation wird in der Politik, der Werbung und vielen anderen Bereichen unseres alltäglichen Lebens gerne genutzt. Die Mathematik mag abstrakt erscheinen – doch wenn es darum geht, durch die Vernebelungstaktiken von Propaganda und Reklame zu blicken, schadet es nicht, ein wenig Ahnung von Formeln zu haben.


Nota. - Da steht der Elementarfehler gleich im ersten Satz. Wenn alle Elemente gleich sind? Nein. Nicht zum Beispiel, wenn ihre Stelle im Raum nicht dieselbe ist. Die ist aber kein Element von ihnen, sondern allenfalls vom 'Raum'. Ist aber ihre Stelle im Raum dieselbe, so sind sie nicht einander gleich, sondern schlicht und einfach ein und dasselbe. Ihnen ein Gleichheitszeichen hineinzupressen wäre nicht irreführend, sondern geradezu falsch: Es gibt keinerlei Grund, sie in sich von sich zu unterscheiden.

Anders gesagt: Von realen Dingen kann der Eingangssatz gar nicht handeln, denn wenn sie wirklich zwei sind, befinden sie sich nicht am selben Ort, und ihre Elemente mögen gleich sein, aber nicht 'dieselben'. Der Satz kann nur von Gedachtem handeln, denn das befindet sich weder hier noch dort. Und übrigens auch nicht in der Zeit: Von der wird durch die Formulierung sind von vornherein abgesehen.

Es geht überhaupt nicht um Reales, sondern nur um Logik. Im logischen Raum von Elementen zu reden, ist aber höchst problematisch. Es unterstellt, dass im Denkraum harte Bedeutungskerne wie Bausteine vor aller Operation gegeben sind - nämlich räumlich als Menge. Man könnte aber meinen - ich zum Beispiel meine es -, dass denken, wenn es wirklich geschieht, ein Handeln ist, durch das und in dem 'Elemente' - z.B. wer oder was, erfahrene oder erdachte - überhaupt erst 'in Erscheinung treten'.

Unterm Titel Logik wird stillschweigend eine ontologische Inhaltsbestimung unterschoben - "manipuliert" -, und es mag aussehen, als sei Logik schon Philosophie. Aber sie ist nicht deren Material und nicht einmal deren Voraussetzung, sondern lediglich ein verfahrens-technisches Hilfsmittel. Was es aber ist, womit verfahren wird, wovon die Rede ist, was gemeint ist, scheint nicht auf. Das sind aber Vorstellungen, die die Logik lediglich definiert und ins Verhältnis setzt. Davon handelt Philosophie. Formeln können dabei nur irreführen.
JE


Samstag, 15. Oktober 2022

Sie lauert überall...


 

Sozialverbände würdigen Initiative #IchBinArmutsbetroffen

Von dpa, Badische Zeitung, Sa, 15. Oktober 2022 um 07:57 Uhr


... um bei nächster Gelegenheit auch dich zu betreffen.





Donnerstag, 13. Oktober 2022

Wissenschaft und Moral und Recht.

aus spektrum.de, 8. 10. 2022                                                                                                        zu öffentliche Angelegenheiten

von Matthias Warkus

Als der Genter Chemieprofessor August Kekulé 1861 einmal an seinem Schreibtisch einnickte, erschienen ihm im Traum tanzende Kohlenstoff- und Wasserstoffatome sowie ein Ouroboros, eine mythische Schlange, die sich kreisförmig krümmt und in den eigenen Schwanz beißt. Der Traum, so hat Kekulé zumindest behauptet, brachte ihn zur entscheidenden Einsicht in die ringförmige Struktur des Benzolmoleküls – einer der großen Durchbrüche in der Geschichte der organischen Chemie.

Diese Anekdote war früher populärer als heute, aber Sie kennen sie vielleicht auch noch aus dem Chemieunterricht. Sie kann als beispielhafte Geschichte eines wissenschaftlichen Einfalls gelten. Andere legendäre Erzählungen sind mehr oder minder vergleichbar: Archimedes von Syrakus, der die Badewanne zum Überlaufen bringt (»Heureka!«) oder Isaac Newton, der den Apfel fallen sieht. Kekulés Geschichte ist aber deswegen so interessant, weil sie sich im Reich des Traums, der Fantasie und des Fantastischen abspielt. Von einer Schlange zu träumen hat nichts mit der Praxis chemischen Experimentierens zu tun.

Einfälle kann man auch ganz spontan haben, ohne Badewannen, Äpfel oder Träume. Ein geflügeltes Wort in der philosophischen Wissenschaftstheorie ist, dass es reichen kann, einfach morgens einen besonders guten Kaffee zu trinken oder sich gedankenverloren zu rasieren. Der springende Punkt, der aus einem Einfall Wissenschaft macht, ist nicht, dass man ihn überhaupt hat, sondern dass man versucht zu begründen, warum an der Idee etwas dran ist.

Nach dem einflussreichen Wissenschaftstheoretiker Hans Reichenbach (1891–1953) unterscheidet man zwischen dem so genannten Entdeckungskontext (context of discovery) und dem Begründungskontext (context of justification) einer Theorie. Das eine hat mit dem anderen nach klassischer Vorstellung nichts zu tun: Auf eine Theorie kommt man halt irgendwie, und sei es im Traum – die Begründung ihrer Geltung ist etwas ganz anderes. Um zu überprüfen, ob die These vom ringförmig konfigurierten Benzol haltbar ist, versucht man nicht, Kekulés Einschlafsituation zu reproduzieren, in der Hoffnung, dass dann wieder der Ouroboros auftaucht. Stattdessen begründet man aus dem bereits vorhandenen Chemiewissen heraus, wie das mit dem Ring funktionieren könnte. Oder man benutzt zum Beispiel ein Röntgendiffraktometer, um experimentell »nachzuschauen«.

Mit dem Unterschied zwischen Entdeckungs- und Begründungskontext hat sich die Wissenschaftstheorie seit etwa 1930 intensiv beschäftigt, unter anderem, um ihren eigenen Gegenstandsbereich genauer abzustecken. In der Regel geht man nämlich davon aus, dass es für das Entdecken von Theorien keine Gesetzmäßigkeiten gibt und es auch keinen methodischen Vorschriften genügen muss: Es ist sozusagen ein anarchischer und moralfreier Prozess, und eine Theorie darf nie danach bewertet werden, wie genau sie entdeckt wurde. Für das Begründen von Theorien hingegen gibt es methodische Vorschriften – beispielsweise die Regeln, nach denen mathematische Beweise geführt werden, oder die verschiedenen Vorschläge dafür, nach welchen Kriterien konkurrierende theoretische Erklärungen für experimentelle Messungen in den Naturwissenschaften verglichen werden sollten.

Ganz allgemein spricht man in der Philosophie – auch außerhalb der Wissenschaftstheorie – statt von Entdeckungs- und Begründungskontext von Genese und Geltung. Bei philosophischen Erkenntnissen lässt sich häufig genauso wie bei anderen wissenschaftlichen Theorien zwischen dem Weg ihres Zustandekommens und dem Weg ihrer Begründung unterscheiden. Die Vorstellung, dass die Genese gar keine Rolle spielen und es lediglich um die Begründung, die Geltung gehen sollte, steht jedoch nicht unwidersprochen. Berühmt ist beispielsweise die Kritik Friedrich Nietzsches (1844–1900) an geltungsbasierten Vorstellungen von Moral. Für ihn entscheidet sich, vereinfacht gesagt, der Wert eines moralischen Urteils an seiner Genese: daran, welche Art von Person auf welche Weise und mit welchem geschichtlichen Hintergrund zu diesem Urteil gekommen ist.


Nota. - Lieber Herr Warkus, ein moralisches Urteil ist weder die Entdeckung eines Natur-gesetzes noch die Überprüfung der Gründe, aus denen es Geltung gebietet. Moralische Urteile haben keine Gründe. Sie gelten qua Einfall und sind evident. Es wird so 'entdeckt', als ob es immer schon gegolten habe. Und wenn sein Entdecker ein Ehrenmann ist, wird er spätestens nach Ermahnung einräumen, dass es wegen des Vorgangs seiner 'Entdeckung' lediglich für ihn selber 'gilt'. 

Sollte er dennoch der Versuchung nicht widerstehen, seinem Gewissen - so nennt man das nämlich - subjektübergreifende Geltung zuzuschreiben, würde man ihn nicht ehrenhaft, sondern anmaßend und größenwahnsinnig nennen. 

Er hätte stattdessen nach Gründen suchen können, weshalb auch andere und womöglich alle Menschen seinem Urteil folgen sollten. Auf deren Gewissen kann er freilich nicht bau-en, denn es ist ihres und er kann es nicht kennen. Aber er könnte im gesunden Menschen-verstand nachsuchen und finden, dass es für jedermann von Vorteil wäre, wenn alle seinen Rat beherzigten. Er könnte sagen: Es ist ein Gebot der sozialen Klugheit, aus meiner Ge-wissensentscheidung ein allgemeingültiges Gesetz zu machen. 

Bliebe nur noch, den legitimierten Gesetzesgeber von der Vernünftigkeit seiner sozialen Erwägungen zu überzeugen. Da ginge es dann um Politik, und die fragt nach dem Recht für alle und nicht nach dem Gewissen der Einzelnen; das überlässt er den Konfessionen, und die sind im Rechtsstaat Privatsache.
JE

Samstag, 8. Oktober 2022

Wie der Krieg die Völker einander näherbrachte.

aus derStandard.at, 6. 10. 2022                                                                                         zu öffentliche Angelegenheiten

Söldner aus dem fernen Norden kämpften mit den Griechen gegen Karthago
Genome von Gefallenen einer Schlacht im 5. Jahrhundert v. u. Z. zeigen, dass einige Kämpfer aus Nordosteuropa, dem Kaukasus und Skythien kamen

Im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung (v. u. Z.) wurden die Menschen Europas zusehends mobiler. Handel und Kolonialisierung brachten fremde Kulturen miteinander in Kontakt, was allerdings auch zu militärischen Auseinandersetzungen führte. Eine internationale Untersuchung hat nun gezeigt, dass Konflikte umgekehrt auch Vertreter unterschiedlicher Völker einander nähergebracht haben: Die Genome von Gefallenen einer Schlacht zwischen Griechen und Karthagern belegen, dass im Jahr 480 v. u. Z. auf Sizilien auch Söldner aus Nordosteuropa, dem Kaukasus und der eurasischen Steppe im Einsatz waren.

Während des fünften Jahrhunderts v. u. Z. hatten Griechen aus der Ägäis und Phönizier von der Levante im gesamten Mittelmeergebiet Küstenhandelsposten und Kolonien gegründet. Bestimmte strategisch bedeutsame Orte gerieten dabei zum Zankapfel zwischen den Völkern; es ging vor allem die wirtschaftliche und territoriale Vorherrschaft. Militärische Auseinandersetzungen waren die Folge. Antike Historiker wie Herodot und Diodorus Siculus berichteten von zwei wichtigen Schlachten, in denen Phönizier aus dem nordafrikanischen Karthago die griechische Stadt (Polis) Himera angriffen.

Mit und ohne Hilfe von Verbündeten

Während der ersten Schlacht im Jahr 480 v. u. Z. verteidigte ein griechisches Bündnis zwischen Himera, Syrakus und Agrigento die Polis erfolgreich; aber als die Karthager 409 v. u. Z. auf Rache sinnend mit einer großen Söldnerarmee erneut vor den Toren der Stadt auftauchten, mussten die Himeraner weitgehend ohne Unterstützung kämpfen, und die Polis wurde zerstört und aufgegeben.

Details über die Protagonisten dieser Schlachten liefern nun – 2.500 Jahre später – Analysen der Genome, die man aus den Gebeinen der Gefallenen gewinnen konnte. "Diese Fallstudie beleuchtet Kriegsführung als Mechanismus für kulturellen Kontakt und positioniert Soldaten, insbesondere Söldner, als Überbringer von Ideen, Technologien, Sprachen und Genen über große Entfernungen", erklärte Ron Pinhasi von der Universität Wien.

Riesige Nekropole

Ausgrabungen in Himera an der Nordküste Siziliens haben seit den 1990er-Jahren über 10.000 Bestattungen und damit eine der größten griechischen Nekropolen überhaupt freigelegt. Darunter befinden sich mehrere Massengräber mit Skeletten, die Archäologinnen und Archäologen als getötete Soldaten der Schlachten des 5. Jahrhunderts v. u. Z. interpretiert haben. Es handelte sich praktisch ausschließlich um die Überreste von Männern jungen bis mittleren Alters, von denen einige typische Kampfverletzungen aufwiesen oder Pfeilspitzen in ihren Knochen stecken hatten. Man vermutet, dass mehrere geordnete, kleinere Massengräber die Gefallenen der siegreichen Armee von 480 v. u. Z. enthalten. Ein größeres Massengrab mit dichtgedrängten Personen wird den Gefallenen der Schlacht von 409 v. u. Z. zugeschrieben, die von den Überlebenden des karthagischen Angriffs vor der Aufgabe der Stadt offenbar in größerer Hast begraben wurden. Die nun im Fachjournal "PNAS" präsentierte Studie untersucht die genetischen Verwandtschaften dieser Soldaten und anderer zeitgenössischer Sizilianer, indem sie die Genome von 54 Individuen analysiert, die in Himera und anderen Stätten in Westsizilien ausgegraben wurden.

Von weit außerhalb des Mittelmeerraums

"Die Ergebnisse machen deutlich, dass die griechische Kolonialisierung in der klassischen Antike nicht nur zur Ausbreitung der ägäischen Völker im gesamten Mittelmeerraum führte, sondern auch einen breiteren Kosmopolitismus ermöglichte", sagte der Genetiker David Reich von der Harvard-Universität. "Während die Sizilianer des ersten Jahrtausends v. u. Z. größtenteils von der lokalen Bevölkerung aus der Bronzezeit abstammen, haben die Bewohnerinnen und Bewohner von Himera nicht nur ägäische und lokale sizilianische Vorfahren, sondern kommen auch von viel weiter her."

Die genetische Vielfalt der Soldaten übertraf die der Zivilbevölkerung von Himera sogar. "Wir waren erstaunt, unter den Soldaten der Schlacht von 480 v. u. Z. viele Individuen zu finden, die von weit außerhalb des Mittelmeerraums abstammen, etwa aus dem Kaukasus, Nordosteuropa und der eurasischen Steppe, einer Region, die in der Antike als Skythien bekannt war. Eine solch extreme genetische Vielfalt in einem einzigen Bestattungskontext ist beispiellos für diese Periode der klassischen Geschichte", sagt Erstautorin Alissa Mittnik vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (Leipzig).

Isotopenanalyse zum Vergleich

Die Archäologin Laurie Reitsema von der Universität von Georgia, ebenfalls Erstautorin, und ihr Team haben außerdem die stabilen Isotope der Bestatteten Himeras untersucht. Die Isotope von Elementen wie Strontium und Sauerstoff, die mit Nahrung und Wasser aufgenommen und in Knochen und Zähne eingebaut werden, geben Aufschluss darüber, wo ein Mensch aufgewachsen ist.

"Viele der Soldaten von 480 v. u. Z. hatten Isotopensignaturen von außerhalb Siziliens, was darauf hindeutet, dass sie erst als Erwachsene dorthin gereist sind", sagte Reitsema. "Als wir die Isotopenergebnisse mit den genetischen Ergebnissen verglichen, fanden wir eine frappierende Korrelation: Alle Soldaten mit genetischem Ursprung außerhalb des Mittelmeers waren auch eindeutig isotopisch ortsfremd. Mit den genetischen Daten wissen wir jetzt, wo sie wahrscheinlich geboren wurden."

Historische Autoren bestätigt

Die genetisch und isotopisch "fremden" Individuen waren gemeinsam in einer Reihe größerer Massengräber beigesetzt worden. Nach Ansicht der Forschenden untermauert das ihre besondere soziale Stellung. In historischen Quellen wird beschrieben, dass Syrakus, eine der Städte, die Himera zu Hilfe kamen, eine große Anzahl von Söldnern in seiner Armee beschäftigte. Die Wissenschafter sehen diese historischen Berichte durch Genetik, Isotopenanalysen und archäologische Belege bestätigt.

Im Gegensatz zur ersten Schlacht deuteten für das Massengrab der Schlacht von 409 v. u. Z., die Himera ohne Hilfe durch Verbündete verlor, weder Isotope noch Genetik auf eine fremde Herkunft der Gefallenen hin. "Die meisten Soldaten in der späteren Schlacht waren Nachkommen indigener Sizilianer und Migranten aus der Ägäis. Ehen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen scheinen in Himera die Norm gewesen zu sein", erklärte David Caramelli von der Universität Florenz, leitender Autor dieser Studie. (red,)

Montag, 3. Oktober 2022

Noch einmal: Donatello in Berlin.


aus nzz.ch, 2. 10. 2022

Donatello verband klassische Sinnlichkeit mit christlicher Moral und Humanismus
Die Berliner Gemäldegalerie feiert den Florentiner Meister. Im Fokus der Ausstellung steht sein Einfluss auf die Entwicklung der gesamten Kunst der Renaissance
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von Franz Zelger

Er ist allgegenwärtig in Florenz, in den Kirchen Santa Croce, San Lorenzo und Orsanmichele, im Palazzo Vecchio, in der Skulpturensammlung Bargello oder im Dom-Museum. Schon zu Lebzeiten genoss Donatello (1386–1466) als vielbeschäftigter Bildhauer weit über die Kulturmetropole am Arno hinaus hohes Ansehen. Auftraggeber aus ganz Italien bemühten sich um seine Werke, unter ihnen Cosimo de’ Medici und Papst Eugenius IV. Seine Spuren lassen sich in Siena, Neapel, Prato und Venedig verfolgen.

In Padua kommmen Touristen und Kunstinteressierte nicht an diesem Erneuerer vorbei: In der Basilika San Antonio, einem der meistbesuchten Heiligtümer Italiens, stehen sie Schlange, um seine dort aufgestellten Skulpturen zu bewundern. Die Piazza del Santo vor der Kirche wird beherrscht von dem in den 1440er Jahren entstandenen Denkmal des Condottiere Erasmo da Narni, genannt Gattamelata. Dabei handelt es sich um die erste freistehende Reiterstatue seit dem Standbild des römischen Kaisers Marc Aurel, der im Gegensatz zum realistisch erfassten venezianischen Söldnerführer als Potentat überlebensgross wiedergegeben ist.

Donatellos Spuren führen aber auch bis ins Londoner Victoria and Albert Museum oder in die Staatlichen Museen zu Berlin. Im Fokus der Ausstellung «Donatello. Erfinder der Renaissance» in der Berliner Gemäldegalerie steht neben der Vielschichtigkeit des Werks vor allem sein Einfluss auf die Entwicklung der gesamten Kunst der Renaissance, nicht zuletzt auch auf die Malerei. Zuvor noch nie gemeinsam gezeigte Skulpturen und Reliefs aus Marmor, Bronze und Terrakotta machen diese Schau zu einem Höhenweg.

Nicht nur lebte Donatello in einem Zeitalter einschneidender Erneuerungen. Er war selbst ein Bahnbrecher von erstaunlichem Erfindungsreichtum, wobei er der Kunst Impulse verliehen hat, die selbst für Michelangelo von Bedeutung waren. Er kenne kein Bild eines Menschen, bemerkte dieser nach Vasaris Überlieferung, das mehr Vertrauen erwecke als Donatellos «Markus». Wenn nämlich der Heilige so ausgesehen habe, wie ihn der Bildhauer darstelle, könne man dem Evangelisten glauben, was er in seinen Schriften festgehalten habe. Damit macht Michelangelo die Glaubwürdigkeit der Markus-Darstellung zum Kriterium ihres künstlerischen Ranges.

Donatello war der bedeutendste und vielseitigste Bildhauer der italienischen Frührenaissance. Im Gegensatz zum «weichen Stil» der höfischen Trecento-Kunst ging es ihm um greifbare Wirklichkeit, Unmittelbarkeit und individuellen Ausdruck. Er zögerte nicht, bei den tanzenden und singenden Mädchen und Knaben auf der berühmten Sängertribüne im Florentiner Dom die Mundstellungen ungeschönt so wiederzugeben, wie sie bei singenden Menschen erscheinen. Oder wie er das mittelalterliche Ideal ritterlicher Kraft im Dienst des Glaubens in der Gestalt des heiligen Georg in Orsanmichele zur Anschauung brachte: Energiegeladen bis zu der sich kräuselnden Stirn, steht die Figur in ihrer Nische, bereit zum Kampf mit dem Drachen.

Maria mit dem Kind (Pazzi-Madonna), um 1422.

Sein Realismus manifestiert sich besonders ausgeprägt in der hölzernen, farbig gefassten «Maria Magdalena» von 1453/55, bei der die Hinfälligkeit von Körper und Gesicht schonungslos wiedergegeben ist. Kaum ein Bildhauer hatte sich bis dahin in der Darstellung körperlichen Zerfalls so weit vorgewagt. Als hässliche, abgemagerte und ausgemergelte Gestalt negiert sie die «Angemessenheit» («convenientia»), die für jede Verbildlichung eines Heiligen galt. Dass diese Plastik kaum als anstössig empfunden wurde, lässt sich wohl mit den brutalen Busspraktiken jener Zeit erklären.

Donato di Niccolò di Betto Bardi, genannt Donatello, ist von 1404 bis 1407 unter den Mitarbeitern und Gehilfen der Werkstatt des Goldschmieds Lorenzo Ghiberti dokumentiert. Dieser hatte gerade den Auftrag erhalten, die beiden Flügel einer Bronzetüre des Florentiner Baptisteriums anzufertigen, eine Arbeit, die für Donatello richtungsweisend war, zumal in Bezug auf den Umgang mit Bronze.

Obwohl sich der Bildhauer von Ghibertis Formenwelt inspirieren liess, ging er schon bald seinen eigenen Weg in Richtung Realismus. Nachdem er die Werkstatt des Lehrmeisters verlassen hatte, arbeitete er an zwei wichtigen Aufträgen, einem Evangelisten Johannes, der für die Fassade des Florentiner Doms bestimmt war, und einer fast zwei Meter hohen Marmorskulptur des David, die dort auf einem Strebepfeiler der Chortribüne stehen sollte. Doch durch ihre hohe Platzierung verlor die Gestalt an Wirkung. Bald wurde sie eingelagert. Heute befindet sie sich im Bargello. Diesem Meisterwerk von 1409 blieb somit der Erfolg versagt.


Donatello & Michelozzo, Tanzende Spiritelli, von der Außenkanzel des Doms zu Prato, 1434–38

Anders der für die Betrachtung aus der Nähe bestimmte Bronze-DavidDonatellos Förderer Cosimo de’ Medici, Staatsmann, Bankier und Mäzen, der die Politik von Florenz jahrzehntelang lenkte und wesentlich dessen kulturellen Aufschwung förderte, gab ihn dem Künstler um 1435/40 in Auftrag. Als früheste freistehende Aktfigur nach der Antike gehört der junge grazile Held zu den bedeutendsten Skulpturen der italienischen Renaissance. Der knabenhafte Körper hat schon Vasari vermuten lassen, die von erotisierter Eleganz geprägte Gestalt sei nach einem lebenden Modell geformt. Es erstaunt nicht, dass ihre androgyne Aura auch andere Künstler inspiriert hat, so Andrea del Verrocchio, der ebenfalls einen Bronze-David schuf, Sandro Botticelli, dessen Merkur in seiner «Primavera»-Ikone Donatellos Skulptur zitiert, oder Giorgione in dessen Judith.

Vielseitiger Neuerer

In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gab es nur wenige Bildhauer, die sich so sehr für den Gefühlsausdruck interessierten wie Donatello. Seine Entwicklung spiegelt sich besonders deutlich in den Madonnen-Darstellungen. In den Frühwerken mimisch noch weitgehend emotionslos, wurden sie zunehmend gefühlvoller, bis hin zur zarten Melancholie im Relief der «Pazzi-Madonna» von 1422, eines Juwels der italienischen Renaissance. Maria hält ihren Sohn umfangen und schmiegt ihr Gesicht an seines. Die von Innigkeit geprägte Komposition hatte zahlreiche Repliken in der Bildhauerei wie in der Malerei zur Folge.  [s. o.].

Donatello war nicht nur ikonografisch ein Neuerer, indem er seine Madonnen in subtilen Nuancierungen vermenschlichte, er zeichnete sich ebenso durch Experimente technischer Natur aus, sei es bei der Perspektivkonstruktion oder dem Stiacciato. Darüber hinaus war er einer der Ersten, die ab den 1420er Jahren das antike Sarkophag-Motiv der nackten geflügelten Kinder, Spiritelli genannt, wiederbelebten. Er eignete sich dieses heidnische Motiv der «kleinen Geister» im übermütigen, ausgelassenen Tanz auf der Aussenkanzel des Doms von Prato sowie auf der Sängertribüne im Florentiner Dom an.

Auch durch die Breite seines Arbeitsmaterials nimmt Donatello eine Sonderstellung unter den Renaissance-Bildhauern ein: Holz, Sandstein, Marmor, Bronze, Terrakotta – Letztgenannte hatte er als aus der Antike übernommenes künstlerisches Material in der Werkstatt Ghibertis kennengelernt. Dabei ist technische Virtuosität bei Donatello nie ohne Funktion. Sie steht, unabhängig von der Technik, stets im Dienst der Emotionen.

In der Berliner Schau treten Werke Donatellos in einen Dialog mit Gemälden von Zeitgenossen wie Masaccio, Filippo Lippi oder Andrea Mantegna. Lippi, Fra Angelico und Domenico Veneziano rekurrierten unverkennbar auf Donatellos in den 1420er und 1430er Jahren entstandene Flachreliefs. Augenfällig ist das Vorbild Donatellos, primär seines Gewandstils, in Masaccios Polyptychon für die Karmeliterkirche in Pisa. Auch dessen vier Berliner Heiligenfiguren gemahnen trotz dem kleineren Format in ihrer Monumentalität und würdevollen Schwere an Donatellos freistehende Skulpturen für Orsanmichele und den Campanile des Doms. Und Masaccios Predellentafeln lassen an Donatellos subtilen Reliefstil denken. Auch Giovanni Bellini hat ihm zum Beispiel in seinem «Toten Christus von Engeln gestützt» die Reverenz erwiesen.

«Die Geschichte Donatellos ist zugleich eine Geschichte der Renaissance», heisst es in der Ankündigung der Berliner Gemäldegalerie für die herausragende Schau, die diskret, subtil didaktisch und ästhetisch reizvoll inszeniert ist. Der Florentiner, der klassische Sinnlichkeit mit christlicher Moral und Humanismus verband, war nicht der Erfinder der Renaissance, aber er folgte dem Entdeckungsdrang, der eines der wichtigsten Merkmale der Epoche war. Und er hat diesen entscheidend vorangetrieben.

Durch die Wiederbelebung antiker Motive und Gestaltungsweisen war er massgeblich daran beteiligt, dass diese Epoche die Bezeichnung Renaissance erhielt. Wegweisend waren seine individualisierten, lebensnahen Figuren, neue Themen, die er einführte, unterschiedliche Techniken, die er weiterentwickelte, die perspektivische Darstellung und die emotionale Ausdruckskraft. Seine Werke spiegeln letztlich ein neues Bild der Welt.


Donatello, Erfinder der Renaissance. Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, in Kooperation mit der Fondazione Strozzi und den Musei del Bargello, Florenz, sowie dem Victoria and Albert Museum. Bis 8. Januar 2023, anschliessend im Victoria and Albert Museum, London. Katalog E.-A.-Seemann-Verlag, Leipzig 2022, 344 S., zahlreiche Farbtafeln.


Nota. - Schönheit und Natürlichkeit benennt Giorgio Vasari als das Wesen des von ihm so getauften rinascimento. So besehen ist es nicht falsch, statt Giotto oder gar Cimabue Donatello als Begründer des Renaissance zu feiern. Denn Wiedergeburt wovon? Der griechischen Klassik ja wohl. Da war Donatellos Bronze-David allerdings ein Paukenschlag.
JE

Sonntag, 2. Oktober 2022

Warum auch die intelligenteste Maschine dümmer als eine Katze ist.


aus derStandard.at, 1. 10. 2022

Werden Roboter mit künstlicher Intelligenz die Menschheit auslöschen?
Computerwissenschafter Yann LeCun ist skeptisch

von Martin Stepanek

Die Beziehung von Menschen und künstlicher Intelligenz lässt sich gut in einem Facebook-Status auf den Punkt bringen: "Es ist kompliziert." Wir staunen, wenn Software bei Schach und deutlich komplexeren Brettspielen wie Go mühelos Großmeister besiegt. Wir fürchten, dass hochentwickelte Maschinen in Zukunft die Menschheit knechten oder gar auslöschen könnten. Und ärgern uns fünf Minuten später wieder, dass der Amazon- und Google-Algorithmus nur mehr Kühlschränke vorschlägt, obwohl man längst einen neuen gekauft hat.

Dass künstliche Intelligenz (KI) in einigen Bereichen enorme Fortschritte gemacht hat, ist unbestritten. In der Bilderkennung können Systeme zuverlässig beschreiben, was auf einem Foto zu sehen ist. Neben Menschen und Tieren können auch andere Objekte wie Möbel, Essen oder Pflanzen nur aufgrund eines Schnappschusses oder Fotoausschnittes bestimmt werden. Auch einzelne Individuen können die Systeme so wiedererkennen. In der Medizin wird das Verfahren in der Magnetresonanztherapie eingesetzt, um etwa Tumore und andere Veränderungen aufzuspüren und genauer klassifizieren zu können.

Ähnliches gilt für die Spracherkennung, die für digitale Helferlein wie Alexa, Siri oder Google Assistant essenziell ist und darüber hinaus Texte in hunderte, auch weniger bekannte Sprachen übersetzen kann. Die Ergebnisse sind zwar noch nicht perfekt. Durch das Füttern der Maschinen mit Milliarden Textbeispielen werden sie ähnlich wie bei der Bilderkennung aber stets besser. Dass Menschen unterschiedlicher Sprachen problemlos miteinander kommunizieren können, weil etwa ein Handy in Echtzeit übersetzt, ist längst nicht mehr Science-Fiction, sondern in greifbare Nähe gerückt.


  • Deep Learning - Bewusstsein ohne Reflexion?


Mitverantwortlich für die Fortschritte des vergangenen Jahrzehnts ist Yann LeCun. Der Informatiker, der seit 2013 Chef der KI-Forschung beim Facebook-Konzern Meta ist, gilt als einer der Pioniere im Bereich künstlicher neuronaler Netzwerke. Für seinen bahnbrechenden Zugang, Maschinen nach dem biologischen Vorbild des menschlichen Gehirns lernen zu lassen, wurde er gemeinsam mit den Forschern Geoffrey Hinton und Yoshua Bengio mit dem Turing Award, dem inoffiziellen "Nobelpreis der Computerwissenschaft", ausgezeichnet.

"Beim Thema künstliche Intelligenz gibt es einige Fehlannahmen und Missverständnisse", sagte LeCun am Rande eines Vortrags, der vergangene Woche auf Einladung des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Klosterneuburg stattfand. "Nur weil eine Maschine numerische Gleichungen lösen, komplexe Simulationen berechnen oder im Schach gewinnen kann, heißt das noch lange nicht, dass sie eine mit dem Menschen vergleichbare allgemeine Intelligenz besitzt", erklärt LeCun im Gespräch mit dem STANDARD.

Der fehlende Hausverstand

Ungeachtet ihrer Rechenkapazitäten fehle es auch den derzeit intelligentesten Maschinen an einer entscheidenden Fähigkeit: dem allgemeinen Verständnis, wie die Welt funktioniert und welche Konsequenzen ihre Aktionen auslösen. Selbst eine gewöhnliche Hauskatze sei darin deutlich besser. Menschen, aber auch Tiere würden zudem vieles sehr schnell, meist sogar nur durch Beobachtung lernen. Babys etwa würden bereits nach neun Monaten das Konzept der Schwerkraft verstehen und mit einem Jahr rational motivierte Aktionen setzen, um bestimmte Ziele zu erreichen.


Selbst eine Katze ist den derzeit existierenden intelligentesten Maschinen überlegen, wenn es um das Verständnis der Welt geht.


"Ich muss mit dem Auto auf einer Bergstraße nicht mehrmals in den Abgrund stürzen, um zu verstehen, dass hohe Geschwindigkeit in einer scharfen Kurve keine gute Idee ist. Um das einem selbstfahrenden Auto beizubringen, muss derzeit ein enormer Aufwand mit abertausenden Testfahrten betrieben werden", gibt LeCun ein weiteres Beispiel. So erfolgreich sich das maschinelle Lernen auf Basis von kuratierten Daten für bestimmte, eng gefasste Aufgaben erwiesen habe, habe das mit den effizienten menschlichen Lernprozessen und der daraus resultierenden Intelligenz wenig zu tun

Menschen würden nicht nur viele Zusammenhänge intuitiv verstehen, sondern könnten auch komplexe Aktionsabläufe mühelos durchführen. "Wenn wir den Bus nach Wien nehmen wollen, müssen wir nicht jeden Schritt zur Haltestelle, wie wir uns anziehen oder durch welche Tür wir das Gebäude verlassen vorab genau durchspielen. Mit der Planung einer solchen Sequenz tut sich eine Maschine jedoch sehr schwer", führt LeCun aus

Um neue Durchbrüche bei künstlicher Intelligenz zu erzielen, müssten Systeme selbstständig lernen können, ohne von Menschen betreut zu werden. Sie müssten quasi beim Lernen ein Selbstkorrektiv entwickeln und in der Lage sein, daraus ein Weltmodell zu abstrahieren. Auf Basis dessen könnten sie auch verstehen, welche Konsequenz ihr Handeln oder eine bestimmte Entscheidung habe.

R2-D2 statt Terminator

Müssen wir uns bei Gelingen dieses Plans nicht erst recht fürchten, dass hyperintelligente Maschinen die Menschheit ausschalten wollen? Für LeCun ist die Antwort klar: "Maschinen werden in ferner Zukunft so intelligent wie Menschen sein, aber sie werden nicht die Welt übernehmen."

Da man derzeit noch keine Ahnung habe, wie sich ein System mit menschenähnlicher, autonomer Intelligenz bauen lasse, sei die Frage zudem hypothetisch. Gelinge das, könne man Maschinen unveränderliche Zielvorgaben mitgeben, nach denen sie ihre Handlungen setzen – etwa dass sie alle auf den Schutz und das Wohl der Menschheit ausgerichtet seien.

"Ich stelle mir intelligente Systeme eher wie R2-D2 oder C-3PO und nicht wie den Terminator vor", scherzt LeCun auf entsprechende Nachfrage. Dass Maschinen Emotionen empfinden werden, steht für den renommierten Computerwissenschafter aber außer Frage: "Wenn eine Maschine vorhersagen kann, welche Abfolge ihrer Aktionen eine Zielvorstellung erfüllen oder enttäuschen wird, versteht sie auch das Konzept der Emotion."
  


Nota. - Die Maschine hat keinen Leib, 'der in der Welt ist', und besorgt sich ihre Infomatio-nen nicht selbst. Selbst - das ist der springende Punkt. Für jedes i-Pünktchen, das sie weiß, braucht sie - brauchte sie jedenfalls an ihrem Anfang - einen Programmierer außer ihr, der sie fütterte. Sie hat, so deep man die sich überlagernden Netzwerke auch staffeln mag, kein natürliches Gegenüber: so wie wir Menschen. Der Leib als Vermittlungsinstanz ist der Dreh- und Angelpunkt, der Reflexion allererst möglich macht: als derjenige, der Informa-tionen weitergibt, die er selber einholt. Anders ist ein Stellungswechsel nicht möglich. 'Mein' Ich aber kann 'sich' mal von 'meinem Körper' unterscheiden und mal 'auf seinen Stand-punkt stellen'. So und nur so kann 'ich mich auf mich selbst beziehen'. (Es ist nämlich nur, indem es zwischen den Dreien schwebt.)

Sie müssten also nicht nur unser Gehirn maschinell nachbauen, sondern den ganzen Men-schen: Frankenstein oder Mr. Hyde.
JE

Am Beginn der Wissenschaft steht das Staunen.

                                                                zu Philosophierungen Anfang der Philosophie sei das Staunen, heißt es sei...