Freitag, 30. September 2022

Die Frühzeit des Kupferstichs im Städel.

aus FAZ.NET, 29. 9. 2022                                                                   Noch Surrealisten wie Dalí und Ernst kopierten aus Schongauers „Antonius, von Dämonen gepeinigt“ von  1470.                                                                                                           zu Geschmackssachen

Wo Künstler über Jahrhunderte grüßen
Schwarzweißfernsehen auf Papier: Eine Schau im Frankfurter Städel geht der unterbeleuchteten Frühgeschichte des Kupferstichs bis Dürer nach.

von Stefan Trinks

Wahrscheinlich hat der nun in Rente gehende langjährige Kurator des Kupferstichkabinetts Frankfurt, Martin Sonnabend, recht mit seiner Vermutung, dass die Technik des Kupfer-stichs bald ihren sechshundertsten Geburtstag feiern kann. Wohl schon um 1430 erfunden, revolutionierte die in Kupferplatten gegrabene und zu Hunderten vervielfältigte Linien-Tiefdrucktechnik in mehrerlei Hinsicht die Kunst. Ein einmal – zugegebenermaßen aufwendig – graviertes Bild konnte nun massenhaft reproduziert werden und so papierdünn wie federleicht zu wohlfeilen Preisen in alle Welt versandt werden.

Eine der frühen Aufgaben des Kupferstichs waren Spielkarten: „Vogel-Zwei“ von Meister ES (tätig um 1440/1450–um 1467) aus dem „Größeren Kartenspiel“, um 1463–1467


Soziologisch entstammen die Metallgraviermeister häufig dem Metier der Goldschmiede, historisch stößt die neue Kunst auf Papier deshalb auf riesige Nachfrage, weil inzwischen die sogenannte Devotio moderna die traditionelle Verehrung von Heiligen und der Muttergottes ausschließlich in Kirchen abgelöst hat. Im privaten Rahmen ist es ab 1400 völlig üblich, sich eines der kleinen Papierkunstwerke als – oft teilkoloriertes – Andachtsbild an die Wand zu hängen, in ein Buch einzulegen oder gar stets mit sich zu tragen. Zweitens bilden die im Vergleich zur mühseligen und erheblich teureren Ölmalerei wesentlich freieren Papierminiaturen auch die ersten Genredarstellungen, die das zeigen, was ein reiches städtisches Bürgertum sehen wollte: Wimmelbilder mit zahllosen verspielten Details der Habseligkeiten der Interieurs, die sich nicht auf den ersten Blick „leersehen“, sondern über mehrere Runden hinweg gepflegte Konversationsstücke zum Herumreichen in humanistischen Diskussionen wie auch zünftigen Zechereien bilden.

Man riecht es duften: Martin Schongauers „Weihrauchfass“.


Und drittens sind die meist im Bogenformat verbleibenden, also kleinformatigen Werke, Gebrauchsbilder im Wortsinn – viele von ihnen waren Vorlagen in Werkstätten für Gesellen, weshalb die Masse von ihnen auch nicht überlebt hat. Dem dritten Städel-Inspektor Johann David Passavant gelang es, Hauptwerke des Kupferstichs in den zwanzig Jahren seiner Tätigkeit anzukaufen, die nun in der Ausstellung des Frankfurter Kupferstichkabinetts „Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst“ zu sehen und teils nur in zwei oder drei Exemplaren erhalten sind, teils sogar weltweit Unikate darstellen.

Mein lieber Freund und Kupferstecher


Ebenfalls pragmatisch ökonomische Gründe hat die Entwicklung von Monogrammen im fünfzehnten Jahrhundert. Nicht erst Dürer signiert ab 1500 mit seinem AD aufgrund der massenhaften portugiesischen Raubkopien seiner Grafiken; schon sein großes Vorbild Martin Schongauer in Colmar und weitere große Meister der Schwarzen Kunst wie ES, FVB, PM, W oder IM (Israhel van Meckenem) verkürzten ihre Namen. Die als Vorlagen vervielfältigten Werke sollten mit ihrem Urheber verbunden bleiben, um die Hemmschwelle des Kopierens zu vergrößern. Die Ironie dabei ist, dass damals bekannte Größen heute nur noch mit ihren anonymen Initialen bekannt sind und man selbst einem der größten unter den frühen Kupferstechern, dem „Meister ES“, keinen realen Namen mehr zuordnen kann. Da es aber schwierig ist, Schrift seitenverkehrt für das Drucken in das Kupfer zu gravieren, lag es arbeitsökonomisch nahe, den Namen auf zwei, maximal drei Buchstaben zu schrumpfen. Eine weitere Ironie bildet der Fakt, dass IM Israhel van Meckenem, mit über siebenhundert Kupferstichen einer der fleißigsten seines Metiers, vor allem mit Nachstichen wie Schongauers Weihrauchfass und Bischofskrümme berühmt wurde, wobei er letztere durch noch mehr Prunk übertraf.

Israhel van Meckenems (ca. 1440/1445–1503) nach der Vorlage des Hausbuchmeisters gestochener „Kampf zweier Wilder Männer zu Pferde“, um 1480

Die Stammeltern als technische Herausforderung.

Auftakt wie auch logisches Ende der Schau bildet Dürer mit seinem Kupferstich „Adam und Eva“ von 1504. Er zählt nicht von ungefähr zu den vier „Meisterstichen“ des Künstlers, weil er im Grad der Beherrschung der Technik sämtliche Herausforderungen bündelt. Denn was Dürer in seinem Meisterstich vorführt, ist die meisterliche Beherrschung der Imitation der gesamten belebten und unbelebten Welt. Er vermag die Natur vollgültig nachzustellen. Alle Oberflächen, sei es das Katzenfell oder die Haut der beiden Nackten, sind berührungswürdig, Proportionen und Anatomie von Mensch und Tier ohnehin. Dabei ist die Technik des Kupferstichs als Strukturierung von schwarzen Linienmustern zu weißen Papierflächen eine überaus abstrakte, denn um die dreidimensionale Plastizität der Körper zu erzeugen braucht es neben den Konturlinien auch stimmig „impressionistische“ Schraffuren und Oberflächenstrukturen. Das nackte Stammelternpaar scheint von der gesamten Tierwelt umgeben, anders aber als bei Noah und seiner Arche zeigt Dürer die Tiere nicht paarweise, vielmehr als Konterparte: die fette Katze, die bereits viele Mäuse im Magen zu verdauen scheint, postiert er lauernd gegenüber einer weiteren Maus. Mit ihrem Schwanz umwindet die Katze das Bein der Eva wie die Schlange der Versuchung den Baum.

anz zwischen Bändern: Israhel van Meckenems „Der Gaukler und die Frau“ aus der Folge des Alltagslebens, um 1490.


Obwohl vor dem Sündenfall noch Frieden herrschen sollte unter den Tieren, wirkt es, als wolle Dürer mit dem gespannten Auflauern der Tiere andeuten, dass alles nur auf den Startschuss des lapsus humani generis wartet. Einzig der Steinbock auf dem Felsvorsprung weit hinten ist für sich und blickt friedlich in die Natur. Er ist ein direktes Zitat des Stichs „Versuchung Christi“ des LCz (lange für den Bamberger Lorenz Catzheimer gehalten), der Dürer in Nürnberg vielfach inspiriert hat. Solches Grüßen der Künstler über die Jahrhunderte hinweg kann nur ein außergewöhnlich reicher Bestand wie jener des Frankfurter Kupferstichkabinetts aufzeigen.

Der muskulöse Stammvater ist der antike Apoll von Belvedere, die Eva eine umgewandelte römische Venus: Albrecht Dürers Meisterstich „Adam und Eva“ von 1504.


Am fesselndsten ist dieses Reisen von Formen über Städte und Länder hinaus auf dem größten bildmäßigen Kupferstich des fünfzehnten Jahrhunderts, Schongauers Kreuztragung: Filmisch rollt sich der Horrortrupp vom wüstenheiß grell überblendeten Jerusalem rechts im Tal hin zu der grau verschatteten Schädelstätte Golgotha ab. Exakt über Christi Haupt, der an einer Felsstufe stürzte, verfinstert sich der Himmel. Fast zweihundert Jahre später greift Rembrandt die dramatische Lichtregie in seiner wichtigsten Grafik, dem Hundertguldenblatt der Kreuzigung auf. Der besondere Stolz seiner Grafiksammlung waren: Schongauers Stiche.

Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst. Städel, Frankfurt; bis 22. Januar 2023. Der Katalog kostet im Museum 39,90 Euro. 

 Nota. - Weil uns eine schwarz-weiß gedruckte Zeitung gewöhnlicher vorkommt als ein Kunstband in Kupfertiefdruck und weil wir selber zuerst mit einem Linien ziehenden einfarbigen Stift gekritzelt haben, erscheint uns die Zeichnung als die elementarste Form der bildlichen Darstellung. Im Kunstunterricht erfährt man vielleicht zwar, dass Die Linie erst in der Renaissance zu Rang und Würden gekommen ist. Aber dass dem Normalmen-schen zuvor die Linie nicht einmal als ein ästhetischer Grundbaustein aufgefallen ist, liegt daran, dass es sich um eine gewaltige Abstraktionsleistung handelte, als Schwarzweiß-Zeichnungen nicht mehr, wie zuvor, von den Malern als bloße Vorarbeiten für Öl- und Tempera-Bilder, sondern von einem größeren Publikum als eigene Kunstwerke wahrge-nommen (und erworben) wurden.

Dass war das Verdienst einer technischen Errungenschaft - des Kupferstichs. Ab einem bestimmten Punkt ist die Vereinfachung die höhere Kunst als die Perfektion. In der chine-sischen Kunst ist das vor Ewigkeiten bemerkt worden, und die brauchten dafür nicht einmal den Umweg über Wand- und Tafelbilder. 
JE

Donnerstag, 29. September 2022

Das sicherste Mittel, ihn zu weiterem Zocken zu verleiten...


...wäre, jetzt zurückzuweichen.






Meloni.

                                                           zu öffentliche Angelegenheiten

Faschismus ist nicht eine Form, die man über diesen oder vielleicht auch jenen Inhalt stülpen kann. Faschismus war ein Phänomen des 20. Jahrhunderts: Als in Folge der russischen Revolution und des halbverlorenen Krieges der italienische Staat zerrüttet und die Arbeiterbewegung zwar stark, aber zu revolutionärer Offensive nicht fähig war, trat ein längst bekannter Uomo nuovo in das Vakuum, indem er das desorientierte Kleinbürgertum und das anarchisch gewalttätige Lumpenproleratiat gegen die Schwatzbude und das raffende Kapital auf die Straße zog.

In Europa war die Entscheidung zwischen Revolution und Konterrevolution noch nicht gefallen, aber der kampflose Sieg Mussolinis hatte sie ein gutes Stück vorangetrieben. Faschismus wurde populär als ein "dritter Weg" zwischen kapitalistischer Krise und Diktatur eines Proletariats, das sich zur Ergreifung der politischen Macht nicht zusammenraffen konnte. Das Desaster trat elf Jahre nach Mussolinis Sieg ein, als in Deutschland die Nationalsozialisten zur Herrschaft kamen.

Herrschen konnten sie nicht, indem sie bloß die Spitzen der politischen Personals austauschten. Rechtsstaat und repräsentative Ordnung mussten abgeschafft und dem siegreichen Pöbel der öffentliche Raum als Beute hingeworfen werden.

Der Kernpunkt war aber: die Auslöschung der Arbeiterbewegung, um das Gespenst der Roten Revolution ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Der Nationalsozialismus verfolgte dabei einen höheren Zweck: das Ergebnis des Ersten Weltkrieges umzukehren, und Mussolini, der allein nicht einmal mit Abessinien fertigwurde, kroch gern unter Hitlers Schild. Totalitär wurde der Faschismus als totale Mobilmachung für den Zweiten Weltkrieg.

Und nicht zu vergessen: Möglich wurde die Katastrophe durch den Verrat derer, die am ehesten zum Widerstand berufen waren und die ersten Opfer wurden: die Führungen der Arbeiterbewegung. Von der Sozialdemokratie war nichts anderes zu erwarten, nachdem sie erst den Krieg unterstützt und dann der Konterrevolution die Tür geöffnet hatte. Darum war eine Kommunistische Internationale entstanden, die nach dem Versagen der KPD im Oktober 1923 rasant zum willigen Instrument Stalins und seines bürokratischen Machtkartells wurde, das den "Sozialismus in einem Land" zu einem Totalitarismus eigener Art ausbaute.

*

Nichts davon ist in Europa heute gegeben, nicht einmal in Italien. Zu allererst: Die Zeit, als die Treuesten der Treuen noch immer leiser sagen konnten, wir leben in der Epoche der Weltrevolution, ist ein für allemal vorbei. Schon das Reden von einer Arbeiterbewegung wäre ohne Sinn. Was es gibt, ist eine Krise des Systems der politischen Parteien, wie es sich in den Jahrzehntes nach dem Vertrags von Jalta etabliert hatte. Das macht das Regieren weniger bequem als zu Zeiten des Kalten Kriegs, als die Welt noch in Ordnung war. Aus den folgenden Fährnissen sind nicht erst die Fratelli d'Italia hervorgegangen, sondern zuvor die Cinque Estelle und Salvinis Lega, na, und der unverwüstliche Cavaliere höchstselbst.

Unter diesem Gesichtspunkt ist gar nicht Melonis Erfolg das wichtigste Ergebnis der italienische Wahlen, sondern der atemberaubende gemeinsame Absturz von Salvini und Berlusconi: Die wollten die Italiener ganz und gar nicht mehr, und dass man der pp. Linken das Staatsruder besser auch nicht anvertraut, hatten sie oft genug bewiesen. Alle denen gegenüber erscheint nun Meloni als eine Nuova Donna; ganz jungfräulich allerdings auch sie nicht.

Es geht erstmal alles weiter wie gehabt.





Mittwoch, 28. September 2022

Systematikers Cancel Culture.


aus nzz.ch, 28. 9. 2022

Philosophen schließen einen Kollegen von einer Tagung aus, weil er ein Manifest unterschrieben hat, das Vernunftkriterien nicht standhält.
Bei der deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie darf nur referieren, wer eine tadellose Lebensführung vorweisen kann. Was das heißt, entscheidet der Vorstand
.

von Maria-Sibylla Lotter

Heute gelten Philosophen auch nur als Menschen. Lang ist es her, dass die Philosophie eine der Weisheit gewidmete Lebensform war, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckte. Oder doch nicht? Der Vorstand der Gesellschaft für Analytische Philosophie (GAP) verlangt neuerdings von deren Vortragenden den Nachweis einer tadellosen Lebensführung nach einem Katalog von erkenntnisbezogenen Tugenden, den sich zwei Vorstandsmitglieder ausgedacht haben. Wer den nicht erfüllt, «muss draussen bleiben», haben sie in der «Deutschen Zeitschrift für Philosophie» erklärt.

Ein Witz? Mitnichten. Wer heute zu einer Podiumsdiskussion der GAP eingeladen wird, muss damit rechnen, dass nicht nur seine fachlichen Beiträge, sondern auch seine politischen Lebensäusserungen daraufhin geprüft werden, ob sie tugendhaft sind. Das erstreckt sich sogar auf Unterschriften unter die geistigen Ergüsse anderer. Wer einen untugendhaften Aufruf unterschreibt, und wer hätte nicht schon irgendwann in seinem Leben irgendeinen Bullshit unterschrieben, den man lieber nicht durchliest – für den Weltfrieden?, das Klima?, gegen Transphobie? –, muss draussen bleiben.

Der Erste, den das epistemische Tugendgericht zum Draussenbleiben verurteilte, war der Gründer der Gesellschaft für Analytische Philosophie selbst: Der international geschätzte Philosoph Georg Meggle wurde auf dem Kongress der GAP Anfang September von einem Kolloquium zur Wissenschaftsfreiheit wieder ausgeladen. Meggle verfügt über eine hohe fachliche Reputation. Er hat sich wie kein anderer deutscher Philosoph für die Streitkultur in Wissenschaft und Öffentlichkeit eingesetzt.

Nicht ganz so vernünftig

Anlässlich der Versuche von Behindertenverbänden in den 1990er Jahren, Vorträge des australischen Philosophen Peter Singer zu verhindern, war es ihm gelungen, die Protestierenden in einen offenen Austausch von Argumenten einzubinden, aus dem beide Seiten lernen konnten. Da von der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie damals keine Unterstützung gekommen war, hatte Meggle die Gesellschaft für Analytische Philosophie gegründet – ausdrücklich mit dem Ziel, die freie Debatte in den Wissenschaften zu verteidigen.

Warum also jetzt die Ausladung? Weil Georg Meggle 2021 den sogenannten Neuen Krefelder Appell «Den Kriegstreibern in den Arm fallen» unterschrieben hatte. Das war für den Vorstand der GAP nicht hinnehmbar, wie er in seiner Antwort auf Proteste von Fachkollegen gegen die Ausladung erläuterte: «Im gegebenen Fall liegt [...] auf der Hand, dass der besagte Text epistemische Standards unter allen plausiblen Präzisierungen verfehlt. Indem er die Verschwörungstheorien des Great Reset und der Nine-Eleven-Verschwörung propagiert und sich hinsichtlich der Pandemiepolitik ausgerechnet auf die notorische Desinformationsquelle der ‹World Doctors Alliance› beruft, verletzt er eklatant die Forderung der epistemischen Rationalität, die Überzeugungsbildung hinreichend von den verfügbaren Belegen abhängig zu machen.»

In der Tat. Wer den Appell kennt, kann sich nur an den Kopf fassen. Wie kommt ein so anspruchsvoller Denker wie Georg Meggle dazu, seine Unterschrift unter ein wirres querdenkerisches Anti-Nato-Pamphlet zu setzen? Doch die Erfahrung zeigt: Appelle werden selten unterschrieben, weil man den Inhalt nach sorgfältigster Prüfung aus rationalen Gründen völlig bejaht. Unterschriften sind manchmal auch Resultat einer emotionalen Anwandlung. Wer wird nicht gelegentlich von undifferenzierter Wut auf den Gang der Welt überwältigt und sucht nach Vereinfachung?

Auch die Vernunft ist eine Sklavin

Von Menschen in all ihrem Treiben wissenschaftliche Rationalität und Exaktheit zu verlangen, kann nicht gutgehen. Der Gesetzgeber wusste das glücklicherweise: Unser Recht auf Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum erstreckt sich im Unterschied zur Wissenschaftsfreiheit auch auf Blödsinn. Selbstverständlich sollte man in einer Demokratie gegenseitig Rationalität einfordern, sonst kann sie nicht funktionieren – da kann man dem Vorstand der GAP nur zustimmen. Aber eine Unterschrift unter einem wirren Pamphlet ist kein Grund, das Gespräch mit einer Person abzubrechen. Umso weniger, wenn sie so viel für eine rationale Debattenkultur geleistet hat wie Meggle.

Warum glaubt man, ausgerechnet den Gründer der GAP wegen politischer Irrationalität vom Gespräch ausschliessen zu müssen, als hätte er die Pest und könnte ansteckend sein? Vielleicht weil man unrealistische und irgendwie auch unmenschliche Erwartungen an die Rationalität einzelner Denker hegt. David Hume, der Philosoph der schottischen Aufklärung, kannte das Phänomen. Er führt es auf eine in der menschlichen Vernunft angelegte Selbstüberschätzung zurück: Der Philosoph, sagt Hume, glaubt die Dinge rein rational zu beurteilen. Im Unterschied zu seinen Mitmenschen, bei denen er sieht, dass ihre Erklärungen dazu dienen, das zu rechtfertigen, wonach ihr Herz strebt

In Wirklichkeit, so Hume, ist die Vernunft jedoch bei allen die Sklavin der Affekte. Philosophen machen da keine Ausnahme. Neuere empirische und neurologische Untersuchungen stützen diese These. Muss man deswegen an der menschlichen Vernunft verzweifeln? Keineswegs. Denn die Vorurteile und Verwirrungen anderer Menschen können wir erkennen, nur die eigenen nicht. Die anderen können einem aber auf die Sprünge helfen.

Die menschliche Vernunft, heisst das, funktioniert nicht monologisch, sondern nur im freien Austausch mit anderen, wie schon Kant feststellte. Unser geistiger Horizont verengt und erweitert sich mit der Debattenkultur. Deshalb sind wir auf Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum und auf eine freie, tabulose Debatte in den Wissenschaften angewiesen. Eine Unterschrift unter einem wirren Traktat sollte nicht Anlass eines Ausschlusses vom Gespräch sein. Sie sollte Anlass für eine kontroverse politische Debatte werden.

Vor zwanzig Jahren, bevor die Menschen immer tugendhafter wurden, wäre die Unterschrift ausgerechnet des Ehrenpräsidenten einer Philosophengesellschaft unter einem wüsten Appell Stoff zum Tratsch und für Witze gewesen – aber Anlass für die öffentliche Zurechtweisung des Kollegen und seine Ausladung von einem Kongress? Daran hätte man nicht im Traum gedacht. In diesem lange vergangenen Zeitalter nahm man es mit Humor, dass Menschen auch Blödsinn verzapfen. Oder unterschreiben. Und man ging selbstverständlich davon aus, dass Philosophen Interessantes zu Kolloquien beitragen können, auch wenn sie nur Menschen sind.


Maria-Sibylla Lotter ist Professorin für Ethik und Ästhetik an der Ruhr-Universität Bochum


Nota. - Ein Philosoph darf einen ungesunden Lebensstil pflegen und sogar einen sexisti-schen Witz erzählen, wenn er nicht grad auf seinem Pult steht oder einem Podium sitzt. Und umgekehrt ist ein öffentlicher Entertainer nicht schon zu weltpolitischen Betrachtun-gen qualifiziert, weil er sich einen Philosophen nennt.

Im übrigen bin ich angetan davon, dass wir in Deutschland eine Universität haben, die den Mut aufbringt, Ethik und Ästhetik beim selben Lehrstuhl anzusiedeln. Dies umso mehr, als die Professorin, die ihn besetzt, das Wort Humor in einem thematischen Zusammenhang gebraucht. Bochum, du hast meinen Glückwunsch!
JE



Dienstag, 27. September 2022

Friedrich Gilly begründet Spreeathen

aus Tagesspiegel.de, 25. 9. 2022                                                                                             zu Geschmackssachen

Vordenker und Vorabeiter für Schinkel
Das neue Preußen, klassisch klar: Das Knoblochhaus zeigt die Entwürfe von Friedrich Gilly


Von  Bernhard Schulz

Kometengleich verliefen Leben und Laufbahn von Friedrich Gilly. 1772 geboren, schloss er bereits als 18-Jähriger die Architektenausbildung ab und trat in den preußischen Staatsdienst ein. Ausgedehnte Studienreisen folgten. Mit 27 Jahren wurde er zum Professor für Optik und Perspektive an der neubegründeten Bauakademie berufen. Im selben Jahr 1799 hatte er geheiratet. Doch jäh brach seine Lebenskurve ab. Der Anfang 1800 geborene Sohn starb noch im Säuglingsalter, und von der Kur, die Gilly im Juli antrat, kehrte er nicht mehr zurück. Er verstarb am 3. August 1800 in Karlsbad an Tuberkulose, der Krankheit aus ungesunden Gemäuern

„Kubus, Licht und Schatten“

Ganz im Gegensatz dazu, nämlich in die biedermeierliche Behaglichkeit des Knoblochhauses, ist jetzt die kleine, aber geradezu übervolle Ausstellung eingepasst, die unter dem Titel „Kubus, Licht und Schatten“ an das Werk des Baumeisters erinnert. Gebaut hat der jüngere Gilly – sein Vater David war ebenfalls Architekt – fast nichts. Es lag noch vor ihm; eine glanzvolle Zukunft als einem Erneuerer der Baukunst. So sahen ihn die bestürzten Zeitgenossen, so wurde sein Bildnis gleich nach seinem Tod von Schadow in Marmor verewigt. So verstand ihn vor allem der junge Karl Friedrich Schinkel, der durch einen Entwurf Gillys für ein Denkmal Friedrichs des Großen zum Beruf des Architekten bestimmt wurde.

Dieses Blatt von 1796 mit dem Entwurf eines gewaltigen Denkmalsbauwerks für den zehn Jahre zuvor verstorbenen Preußenkönig machte auf der Jahresausstellung der Berliner Kunstakademie Furore. Da war ein junger Baumeister, der – indem er an das schon im Untergang begriffene alte Preußen erinnerte, ein neues, klassisch-klares Preußen heraufbeschwor – jenem Geist verwandt, der die französische Revolutionsarchitektur dieser bewegten Tage beflügelte.


Öffnungszeiten:
Knoblochhaus, Poststraße 23, bis 16. Oktober; Di-Do 12-18, Fr-So 10-18 Uhr


Das immerhin ein Meter dreißig breite Blatt, das einen griechischen Tempel auf weit ausgreifendem Unterbau zeigt, wie er auf dem Leipziger Platz hätte stehen sollen, wurde unversehens zum Vermächtnis Gillys. In einer eigens konstruierten Vitrine sorgsam geschützt, ist das Blatt das Hauptwerk der Ausstellung im Knoblochhaus, einer der Außenstellen der Stiftung Stadtmuseum. In Bleistift und Feder angelegt und farbig aquarelliert, kann das empfindliche Papier nur alle paar Jahre aus seinem Lagerschrank im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen hervorgeholt werden.

Die Ausstellung ist auf zu kleinem Raum gedrängt, um den weiteren Arbeiten Gillys zu angemessener Wirkung zu verhelfen. Gilly war ungemein produktiv; nur ist eben nichts gebaut worden, von einem antikischen Familiengrab abgesehen. Die Ausstellung, erarbeitet von Jan Mende, ist gleichwohl in fünf Kapitel gegliedert und bezieht Gilly in die Gedankenwelt seiner Zeit ein, die von Griechen-Verherrlichung, Licht-Metaphorik, aber auch von Gotik-Mystizismus bewegt war. So hat Gilly ein Hochofen-Gebäude gezeichnet, einerseits frühindustriell-fortschrittlich, andererseits bedrohlich wie ein Tor zur Unterwelt.

Im frühen 20. Jahrhundert erlebte Gilly eine Renaissance, als seine kompromisslosen Konstruktionen die frühe Moderne begeisterten. Ihren Nachhall finden die Zeichnungen von Pfeilern, Kuben und Pylonen in den Entwürfen eines Peter Behrens oder Mies van der Rohe.

Inwiefern es sich dabei um ein produktives Missverständnis handelt, ist eine andere Frage; Gilly war Lehrer für Perspektive und legte seine Blätter als bloßes Studienmaterial an. Was er selbst hätte bauen wollen, war klassisch-antikisch-monumental, von dorischer Härte, aber von der Romantik der „Zauberflöte“ umweht. In Schinkel fand Gilly seinen kongenialen Vollender und schließlich Weiterdenker.







Montag, 26. September 2022

Ägyptische Malerei.

aus spektrum.de, 26. 9. 2022                                                                          zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien

»Bildliche Narrativität»

Eine analysierte Art des Sehens
Die altägyptische Kunst ist leicht zugänglich, da man durch ihren Naturalismus einen schnellen Zugang zum Inhalt bekommt. Doch die Bildwerke enthalten oft weitaus mehr Details. Eine Rezension

von Robin Gerst

Das ägyptische Neue Reich (etwa 1550–1070 v. Chr.) ist bekannt für seine vielen Monumente. Noch heute sprechen die Reliefs der Tempel von den Taten der Herrschenden. Diese Mode färbte auf die Oberschicht ab, die ihr Leben und den Tod mitsamt den Meriten in aufwändigen Malereien an den Wänden ihrer Gräber verewigen ließ.

Deren Bildsprache und Inhalte sowie die Techniken und die Mechanismen, mit denen Geschichte und Geschehen wiedergeben wurden, untersucht der Ägyptologe Frederik Rogner. Das Buch stellt die aufbereitete Promotionsarbeit des Autors dar. Das sollte man im Hinterkopf behalten, denn Stil und Anspruch des Werks richten sich eher an ein Fachpublikum: Einige Passagen fallen sehr komplex und theoretisch aus. Methodisch verwendet der Ägyptologe Techniken der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte. Mit diesen entwickelt er Modelle, die er nutzt, um die Flachbilder in den Privatgräbern der Elite des Neuen Reichs zu beschreiben. Anschließend untersucht er die Bilder und die verwendeten Erzähl- und Gestaltungstechniken, die er letztlich mit den Darstellungen in Tempeln und Königsgräbern vergleicht.

Vor allem der methodologische Abschnitt ist nicht einfach zu verstehen. Hier setzt der Verfasser ein gewisses Maß an Vorwissen sowohl in der Ägyptologie wie in den Medienwissenschaften und der Kunstgeschichte voraus. Eingängiger ist der Abschnitt, in dem er die Mechanismen vorstellt, mit denen die antiken Künstler Bildinhalte wirksam machten. Hier fühlt man sich direkt angesprochen und blättert gerne das eine oder andere Mal zurück oder vor, um die kleinen Gestaltungstricks der Maler zu reflektieren: Bewegung bei Erntearbeiten, Perspektive durch Versatz oder Räumlichkeit durch bildübergreifendes Zeichnen. Ebenfalls interessant sind die Abbildungen von konkreten Ereignissen, etwa Reisen oder Ehrungen. Ähnlich wie in einem Comic werden hier Handlungen mit identischen Akteuren in Bildfolgen dargestellt.

In mehr als 200 Illustrationen – mal Gesamtansichten aus den Gräbern, mal Ausschnitte einzelner Bilder – sind diese in Szene gesetzt. In den zugehörigen Textabschnitten erörtert Rogner dabei sowohl die Technik der Herstellung als auch die mediale Wirkung auf den Betrachter. In vielen Fällen ist es erstaunlich, wie einfach sich bestimmte Effekte erzielen lassen und wie unreflektiert das manchmal bei einem selbst automatisch geschieht.

Rogner gelingt es, den Blick auch auf kleine, ansprechende Details zu lenken: etwa wenn Varianz in einer Gruppe von Menschen erzeugt wird, indem einige Männer Bartstoppeln oder eine Halbglatze haben. Interessant ist etwa, wie viel lebendiger und dynamischer die Bilder wirken, wenn etwa bei sitzenden Personen ein Fuß unter dem Rock hervorschaut oder der Bauch Falten wirft.

Das faszinierte nicht nur den modernen Betrachter. Offenbar wurden die Gräber auch in der Vergangenheit besucht und rezipiert, denn es wurden antike Graffiti gefunden, die auf die Bilder Bezug nehmen.

So geschieht es, dass der Leser seine eigene Betrachtungsweise überdenkt und sich damit auseinandersetzt, wie Bilder im Neuen Reich wirken. Dies lässt sich allerdings ebenso auf andere narrative Systeme der Archäologie übertragen.


Sonntag, 25. September 2022

Wie Oktopusse ihre acht Arme koordinieren.


aus welt.de, 25. 0. 2022             Eine Kalifornische Zweipunktkrake schnappt sich eine Garnele                     zu Jochen Ebmeiers Realien
Wie Oktopusse ihre acht Arme koordinieren

Mit ihren acht Armen können sich Oktopusse nicht nur elegant vorwärts bewegen, sondern auch äußerst geschickt Dinge in ihrer Umgebung greifen und manipulieren. Äußerlich gleicht ein Arm dem anderen – benutzt werden sie aber anscheinend sehr zielgerichtet.

Von Anja Garms

Bei der Jagd passen Oktopusse den Einsatz ihrer acht Arme an die jeweilige Beute an. Krabben, die nur langsam fliehen, überwältigen die Tiere meist mit dem eher gleichzeitigen Einsatz mehrerer Arme – teils springen sie auf die Beute wie eine Katze auf eine Maus

Ihre Arme setzen sie hingegen bei der Jagd auf schnell flüchtende Garnelen gezielter und nacheinander ein, wie ein Team von US-Forschernim Fachmagazin „Current Biology“ berichtet. Der von vorne betrachtet jeweils zweite Arm auf der rechten und linken Körperseite habe eine dominierende Funktion.

Wenn man sich einen Oktopus nur kurz anschaue, wirkten die Bewegungen normalerweise nicht wiederholbar, erläutert Studienleiter Trevor Wardill. „Sie zappeln herum und sehen in ihren Erkundungsbewegungen einfach seltsam aus.“ Für die genauere Analyse der Bewegungsabläufe filmten die Forschenden nun Kalifornische Zweipunktkraken (Octopus bimaculoides) in einem Aquarium.

Sie setzten entweder Weißbeingarnelen oder Winkerkrabben dazu und beobachteten, wie die Kraken die Beute aus ihrem Versteck heraus überwältigten. Die Wissenschaftler konnten drei Annäherungsstrategien der Kraken unterscheiden: Die Tiere näherten sich aus dem Hinterhalt heraus, verfolgten die Beute oder schlichen sich vorsichtig an diese heran.

Garnelen werden aus dem Hinterhalt überwältigt

Wie die Analyse zeigte, wurden Garnelen eher aus dem Hinterhalt oder nach dem Anschleichen attackiert, Krabben häufiger verfolgt. Als Nächstes analysierten die Forscher die eigentliche Attacke und wie die vier Armpaare – die Forscher nummerierten die Arme jeweils auf der rechten und linken Körperseite von eins bis vier durch – dabei eingesetzt werden.

Die langsameren Krabben wurden häufiger durch den gleichzeitigen Einsatz von zwei bis sechs Armen überwältigt. Der jeweils zweite Arm dominierte dabei. Die schnelleren Garnelen wurden vorsichtiger und gezielter angegriffen – häufig zunächst mit dem zweiten Arm. Sobald dieser Kontakt mit der Beute hatte, sicherten die Kraken ihren Fang mit den beiden benachbarten Armen.

Die Arme der linken und rechten Körperseite seien grundsätzlich gleichberechtigt, berichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter. Der Einsatz hänge oft mit dem Sichtfeld zusammen: Würden Beutetiere mit dem linken Auge wahrgenommen, würden bei einem Angriff eher die Arme der linken Körperseite genutzt.

Die Analyse zeigte weiter, dass die Kraken bei der Jagd nur einen kleinen Teil aller theoretisch möglichen Armkombinationen einsetzten. Sie scheine ihre Arme also tatsächlich sehr gezielt zu benutzen. Das Gehirn von Oktopussen und anderen Kraken ist erstaunlich leistungsfähig. Sie bewältigen etwa sogenannte Irrgarten-Probleme in Experimenten effizienter als die meisten Säugetiere.

Freitag, 23. September 2022

Die Anglisierung Britanniens.


aus derStandard.at, 21. 9. 2022        Helm eines frühmittelalterlichen angelsächsischen Fürsten        zu öffentliche Angelegenheiten

Neue Aufschlüsse über die größte Zuwanderung der britischen Geschichte
Die bisher umfangreichste Studie zur Populationsgeschichte des frühen Mittelalters erhellt, wie stark der Zuzug nach England tatsächlich war

Ungefähr dreihundert Jahre nachdem die Römer England verlassen hatten, schrieben angelsächsische Gelehrte wie Beda Venerabilis (672/3–735) über die Angeln und Sachsen und deren Einwanderung nach Großbritannien. Forschende vieler Disziplinen, darunter Archäologen, Historiker, Linguisten und Genetiker, haben seitdem darüber debattiert, welches Ausmaß dieses Migrationsereignis tatsächlich hatte, wie sich die zuwandernden Angelsachsen zusammensetzten und welche Folgen die Migration hatte.

Bisher ging man davon aus, dass die Angelsachsen – ein germanisches Sammelvolk – ab dem 5. Jahrhundert Großbritannien allmählich besiedelten. Ab der Mitte des 6. Jahrhun-derts war die angelsächsische Kultur auf der Insel bereits dominant. Und als sogenannte angelsächsische Periode wird die Zeit britischer Geschichte von etwa 450 bis 1066 ange-sehen, als schließlich die Normannen das Land eroberten.

75 Prozent Migrationshintergrund

Neue genetische Untersuchungen zeigen nun, dass diese Zuwanderung im Frühmittelalter tatsächlich enorm war: Im genannten Zeitraum dürfte die Bevölkerung in Ost- und Südengland zu etwa 75 Prozent aus Einwandererfamilien bestanden haben, deren Vorfahren aus Kontinentaleuropa stammen, aus an die Nordsee grenzenden Regionen, einschließlich der heutigen Niederlande, Deutschlands und Dänemarks. Diese Familien vermischten sich mit der damals in Großbritannien lebenden Bevölkerung – von Region zu Region und von Gemeinde zu Gemeinde jedoch in unterschiedlichem Maße.

Das ist das Hauptergebnis der bisher umfangreichsten Studie zur Populationsgeschichte im frühen Mittelalter, die ein interdisziplinäres Team von Genetikern und Archäologinnen unter der Leitung des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und der University of Central Lancashire am Mittwoch im Fachblatt "Nature" publizierte. Für die Untersuchung sind die Überreste und das Erbgut von über 400 Individuen aus dem damaligen Großbritannien sowie Irland, Deutschland, Dänemark und den Niederlanden analysiert worden. 



Anhand der Ergebnisse ist es den Forschenden nun gelungen, eine der größten Bevölkerungsumwälzungen der nachrömischen Zeit detailliert zu beschreiben. "Wir haben 278 alte Genome aus England und hunderte aus Kontinentaleuropa analysiert und konnten faszinierende Einblicke in die Bevölkerungsgeschichte und die Geschichte einzelner Menschen aus der Zeit nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs gewinnen", sagt Joscha Gretzinger, Erstautor der Studie. "Wir haben jetzt nicht nur eine Vorstellung vom Ausmaß der Migration, sondern auch davon, wie sie Gemeinschaften und Familien beeinflusst hat."

Stammbaum über vier Generationen

Nach ihrer Ankunft vermischten sich die Einwanderer mit der einheimischen Bevölkerung. In einem Fall, einem angelsächsischen Gräberfeld aus Buckland bei Dover, konnten die Forschenden einen Stammbaum über mindestens vier Generationen hinweg rekonstruieren und den Zeitpunkt bestimmen, zu dem sich zugewanderte und einheimische Personen vermischt hatten. Diese Familie wies ein hohes Maß an Vermischung beider Genpools auf. Insgesamt fanden die Forschenden auf den untersuchten Friedhöfen sowohl einheimische als auch migrantische Elitebestattungen.

Dem 70 Autorinnen und Autoren umfassenden interdisziplinären Team ist es gelungen, archäologische Daten mit den neuen genetischen Erkenntnissen zu verknüpfen. So konnten sie beispielsweise zeigen, dass Frauen mit Migrationshintergrund häufiger mit Grabbeigaben, insbesondere mit Schmuckgegenständen wie Broschen und Perlen, bestattet wurden als Frauen einheimischer Herkunft. Interessanterweise waren Männer, die mit Waffen bestattet waren, etwa gleich häufig migrantischer oder einheimischer Herkunft.

Erhebliche lokale Unterschiede

"Wir entdeckten teilweise erhebliche Unterschiede, wie sich diese Migration auf die Gemeinschaften auswirkte", sagt Duncan Sayer, Archäologe an der University of Central Lancashire und einer der Hauptautoren der Studie. "An einigen Orten sehen wir deutliche Anzeichen für eine aktive Integration zwischen Einheimischen und Einwanderern wie im Fall von Buckland bei Dover oder Oakington in Cambridgeshire. In anderen Fällen jedoch wie in Apple Down in West Sussex wurden Menschen mit eingewanderten und solche mit einheimischen Vorfahren getrennt voneinander auf dem örtlichen Friedhof bestattet. Vielleicht ist dies ein Beleg für eine gewisse soziale Abgrenzung beider Gruppen voneinander an diesem Ort."

Anhand der neuen Daten ist es dem Team außerdem gelungen, die Auswirkungen dieser historischen Migration auf die heutige Zeit zu untersuchen. So stammen nur rund 40 Prozent der DNA heute lebender Engländer von diesen frühen kontinentaleuropäischen Vorfahren ab, während etwa 20 bis 40 Prozent ihres genetischen Erbes möglicherweise aus dem heutigen Frankreich oder Belgien stammen. Die Forschenden vermuten, dass zumindest ein Teil davon auf die normannische Eroberung ab 1066 zurückgeht. Sie könnte aber auch das Ergebnis jahrhundertelanger Mobilität über den Ärmelkanal hinweg gewesen sein. (red, 21.9.2022)

Putins Erbe: Was zurückblieb von der Sowjetgesellschaft.


aus nzz.ch, 21. 9. 2022

Die russische Wirtschaft taumelt, und die Bürokraten und Apparatschiks wollen es nicht wahrhaben. 
Doch das Scheitern des Putin-Modells ist eine gute Nachricht
Die Sanktionen und das Kriegsregime sind ein weiterer Meilenstein auf dem langen Abstieg Russlands.


von Christian Steiner

Wer schadet hier eigentlich wem? Für Wladimir Putin ist klar: Die Europäer begehen mit ihren Sanktionen regelrecht «wirtschaftlichen Selbstmord». Nun ja. Nach mehr als einem halben Jahr Krieg mit Sanktionen und Gegensanktionen kann man konstatieren, dass sich der Schaden in Europa wohl in Grenzen hält. Die Wirtschaft wächst, und man wird den Winter auch ohne russisches Erdgas überstehen.

In Russland hingegen kann man gerade beobachten, wie sich ein vormals in die globalen Wertschöpfungsketten eingebundenes Land abkapselt. Im Kleinen ist das in den Bars zu spüren: Whiskey-Importe sind um die Hälfte zurückgegangen. Derzeit versuchen Händler in Kneipen und Klubs leere Flaschen von ausländischen Spirituosen aufzukaufen, um diese wieder zu befüllen und an den Mann zu bringen. Man könne sich glücklich schätzen, wenn einen diese Produkte nicht krank machten oder töteten, heisst es in der Boulevardzeitung «Moskowski Komsomolez».

Wenn ausländische Unternehmen Russland verlassen, schmerzt das doppelt

Doch es fehlt nicht nur an importierten Gütern. Hunderte von ausländischen Firmen haben das Land verlassen und ihr Russlandgeschäft aufgegeben. Mit ihnen verschwinden nicht bloss die Markennamen und Produkte, sondern auch viel Wissen darüber, wie man Geschäfte führt. Die ausländischen Besitzer brachten moderne Managementtechniken ins Land und haben für mehr Kontrolle gesorgt. Die nun eher schlecht als recht zusammengezimmerten Nachfolgefirmen können das so nicht.

Zu den bekanntesten Unternehmen, die gehen, zählt Ikea. Der schwedische Möbelbauer war mehr als nur ein Geschäft. Mit seinen Produkten wurde die sowjetische Wohnung «entrümpelt», sie galten im Land als Statussymbol und Zeichen des neuen Wohlstands Anfang der 2000er Jahre. Der Weggang der Schweden stellt für Russland eine Zäsur dar, die die Menschen in ihrem Alltag merken.

Alles kein Problem? Das meint zumindest die russische Strafvollzugsbehörde. Die Gefängnisse kündigten grossspurig an, dass sie der Bevölkerung ihre geliebten Billy-Regale zurückgeben würden. Die Behörde meint im vollen Ernst, Ikea ersetzen zu können: «Die Möbel, die wir herstellen, sind von besserer Qualität und billiger», so lassen sich die Gefängniswärter in einem Zeitungsartikel zitieren. Doch mehr als ein frommer Wunsch ist das nicht.

Was wie ein Scherz klingt, ist derzeit die schöne neue Welt der russischen Wirtschaft. Je stärker die ausländischen Sanktionen wirken, desto verkrampfter klingen die Durchhalteparolen der Bürokraten und Günstlinge im Kreml. Wie die Papageien wiederholen sie, wenn ein westliches Unternehmen das Land verlässt: «Sollen sie doch! Wir können das selber sowieso besser, günstiger und schöner.»

Doch anders als die grossen Worte vermuten lassen, ist Russland nicht auf dem Weg in eine glorreiche Zukunft, sondern zurück ins 20. Jahrhundert mit Autos ohne Airbags, Flugzeugmodellen, die schon längst ausgemustert wurden, und anderen Scheinlösungen. Dafür aber aus russischer Produktion. Es ist gerade die Zeit der Grossmäuler und des Sichdurchwurstelns. Doch wer es wagt, dies auszusprechen, befindet sich schon längst im Ausland, muss schnellstens dorthin flüchten oder stürzt, wie der Chef des Konzerns Lukoil, der sich erdreistete, den Krieg zu kritisieren, unter mysteriösen Umständen aus einem Fenster.

Es fehlt an allen Ecken und Enden

Die Produktion im Land ist stark zurückgegangen, weil die Unternehmen keine Komponenten importieren können. Dies zeigt beispielhaft die Automobilindustrie, die 80 Prozent weniger Fahrzeuge als noch vor einem Jahr herstellt. Die Firmen werden derzeit noch angehalten, nicht zu viele Menschen zu entlassen, weil dies zu sozialen Spannungen führe.

Doch auch der Export harzt. Die metallurgische Industrie läuft mit halber Kraft. Zwar könnten die Werke mehr produzieren, doch da sie den Stahl nur in Russland verkaufen können, fehlen ihnen die Abnehmer. Die Europäer kaufen nichts mehr, und der Schwenk nach Osten verläuft sehr langsam. In der Metallurgie sind über eine halbe Million Menschen tätig. Viele von ihnen arbeiten in Monostädten, die nur einen einzigen grossen Arbeitgeber kennen. Verlieren viele von diesen Arbeitern ihren Job, droht Ungemach.

Die einzige Antwort, die man in Russland auf die Sanktionen hat, ist mehr Staat und mehr Dirigismus. Verlässt eine Firma das Land, springt fast immer Väterchen Staat ein. Dies schaltet auch noch das letzte bisschen an Innovationskraft aus. Diese Unsicherheit spüren auch die Konsumenten. Die Russen haben in den Überlebensmodus geschaltet. Es wird weniger eingekauft, und man versucht sich möglichst auf noch Schlimmeres vorzubereiten. Die Detailhandelsumsätze sind auf das Niveau von 2008 zurückgegangen.

Was für Putin aber noch schlimmer sein muss, ist, dass der Westen endlich sieht, dass die russische Wirtschaft unter seiner Ägide zu einem Scheinriesen geworden ist. Von weitem betrachtet, wirkt die alte Supermacht mit all ihren Rohstoffen und 140 Millionen Konsumenten wie eine grosse Wirtschaftskraft. Doch wer näher hinschaut, erkennt nur den verblichenen Glanz der Vergangenheit, viel Korruption, Misswirtschaft und eine spezielle Art des Staatsdirigismus. Das grosse Russland hat in der Weltwirtschaft bloss das Gewicht Südkoreas, und es fehlt an einer Idee für die Zukunft.

Das grosse Problem ist, dass Putin auch keinen Plan braucht. Neben dem Ausgeben von Durchhalteparolen macht der Kreml das, was er muss, um an der Macht zu bleiben. Dies bedeutet, dass die sogenannten Silowiki bei der Stange gehalten werden. Diese Kaste aus hochrangigen Vertretern von Militär, Geheimdiensten und Polizei darf sich weiter am Staatseigentum bedienen, Bestechungsgelder kassieren und unliebsame Konkurrenz ausschalten. Solange das Geld für den Sicherheitsapparat reicht, wird sich die Putin-Regierung an der Macht halten können. Den Preis zahlen die einfachen Menschen.

Ebenfalls unter die Räder kommen die sogenannten Oligarchen. Diese werden von den Sanktionen des Westens hart getroffen, ihre Vermögenswerte im Ausland wurden konfisziert, und ihre Geschäfte leiden unter der Isolation. Und Putin? Er zuckt bei den Geschäftsmännern mit den Schultern. Denn diese sind das grösste Missverständnis in der ganzen Geschichte.

Der Begriff Oligarch ist ein Trugschluss

Anders als die Silowiki sind die sogenannten Oligarchen blosse Mitläufer oder Profiteure. Schon allein der Begriff Oligarch ist ein Trugschluss. Wären sie wirklich Oligarchen, dann besässen die Reichen die Macht, den Präsidenten zu stoppen und seinen Krieg sofort zu beenden. Dass dies nicht geschieht, zeigt: Die Milliardäre sind bloss von Putin geduldete Marionetten. Ohne die Macht, auch nur das Geringste zu ändern.

Doch ohne die marktwirtschaftlichen Methoden der ausländischen Firmen und mit einer korrupten Staatswirtschaft entwickelt sich Russland zu einem zweiten Iran – abgeschnitten vom Westen, mit einer autarken Wirtschaft, einer ärmeren Bevölkerung und technologisch rückständig im Vergleich zu den führenden Ländern der Welt oder dem Potenzial, das Russland hätte, wenn es einen anderen Weg gewählt hätte.

Schon allein die «neuen» Freunde von Russland zeigen, wie schlecht es um die Wirtschaft steht. Wer sich mit den Herrschern von Nordkorea, Iran oder Venezuela oder den Taliban umgibt, ist nicht nur in schlechter Gesellschaft, sondern auch in einer schlechten Position für die Zukunft.

Da hilft es auch nicht, dass man in Russland auf Rettung aus China setzt. Die Machthaber in Peking sind zwar gerne beim Säbelrasseln gegen den Westen dabei. Wenn es aber um die eigene Kasse geht, dann sind die Chinesen kühle Rechner. Aus Russland werden zwar gerne Rohstoffe zu vergünstigten Preisen gekauft. Doch dafür allzu offensichtlich die Sanktionen zu brechen, sind auch die chinesischen Unternehmen nicht bereit.

Der Abstieg ist ein Mahnmal

Und dennoch ist der langsame Abstieg der russischen Wirtschaft eine gute Nachricht. Hier kann man sehen, was passiert, wenn man sich vom Westen abkapselt und auf Kleptokratie und Staatswirtschaft setzt. Das Land befindet sich seit langem auf diesem Weg. Die Sanktionen und das Kriegsregime sind eine Verstärkung. Russland wird noch schneller zu einer Rohstoffwirtschaft – und diesmal mit einer geringeren Anzahl an Abnehmern.

Der langsame Abstieg Russlands ist ein Mahnmal an alle, die nicht glauben, dass Werte wie Freiheit, Wettbewerb, Rechtssicherheit und Marktwirtschaft mehr als bloss hohle Phrasen sind. Diese Errungenschaften haben unseren Wohlstand erst möglich gemacht. Planwirtschaft, Korruption und Günstlingswirtschaft bringen einem bloss Leid und Stagnation. Russland lernt das gerade auf die harte Tour.

Nota. - Was hat sich geändert seit dem Untergang der Sowjetunion? Spötter werden sagen: dass das Einparteiensystem nicht mehr in der Verfassung steht. Viel ist das nicht...

Man könnte hinzufügen: Zur herrschenden bürokratischen Kaste des Realexistierenden gehörte jeder, dem sie Mitgliedschaft in der KPdSU gelungen war. Und über allem lastete ein Politbüro, mit dem es nicht vorwärts noch zurück ging. Doch nein: Zurück ging es rasant - mit der Wirtschaft. Der friedliche Wettbewerb der Systeme hatte die Sowjetproduktion zu Tode gerüstet. Da wurde das System preisgegeben, um die Substanz zu wahren.

Ohne eine gewaltige Umschichtung im Personal war das nicht zu machen. An die Stelle des greisen Politbüros, wo keiner mehr an den morgigen Tag denken konnte, musste ein dynamischer Haudegen treten mit einer verschworenen Bande im Gefolge. 

... wird fortgesetzt...


Am Beginn der Wissenschaft steht das Staunen.

                                                                zu Philosophierungen Anfang der Philosophie sei das Staunen, heißt es sei...