Wahrscheinlich hat der nun in Rente gehende langjährige Kurator des Kupferstichkabinetts Frankfurt, Martin Sonnabend, recht mit seiner Vermutung, dass die Technik des Kupfer-stichs bald ihren sechshundertsten Geburtstag feiern kann. Wohl schon um 1430 erfunden, revolutionierte die in Kupferplatten gegrabene und zu Hunderten vervielfältigte Linien-Tiefdrucktechnik in mehrerlei Hinsicht die Kunst. Ein einmal – zugegebenermaßen aufwendig – graviertes Bild konnte nun massenhaft reproduziert werden und so papierdünn wie federleicht zu wohlfeilen Preisen in alle Welt versandt werden.
Soziologisch entstammen die Metallgraviermeister häufig dem Metier der Goldschmiede, historisch stößt die neue Kunst auf Papier deshalb auf riesige Nachfrage, weil inzwischen die sogenannte Devotio moderna die traditionelle Verehrung von Heiligen und der Muttergottes ausschließlich in Kirchen abgelöst hat. Im privaten Rahmen ist es ab 1400 völlig üblich, sich eines der kleinen Papierkunstwerke als – oft teilkoloriertes – Andachtsbild an die Wand zu hängen, in ein Buch einzulegen oder gar stets mit sich zu tragen. Zweitens bilden die im Vergleich zur mühseligen und erheblich teureren Ölmalerei wesentlich freieren Papierminiaturen auch die ersten Genredarstellungen, die das zeigen, was ein reiches städtisches Bürgertum sehen wollte: Wimmelbilder mit zahllosen verspielten Details der Habseligkeiten der Interieurs, die sich nicht auf den ersten Blick „leersehen“, sondern über mehrere Runden hinweg gepflegte Konversationsstücke zum Herumreichen in humanistischen Diskussionen wie auch zünftigen Zechereien bilden.
Und drittens sind die meist im Bogenformat verbleibenden, also kleinformatigen Werke, Gebrauchsbilder im Wortsinn – viele von ihnen waren Vorlagen in Werkstätten für Gesellen, weshalb die Masse von ihnen auch nicht überlebt hat. Dem dritten Städel-Inspektor Johann David Passavant gelang es, Hauptwerke des Kupferstichs in den zwanzig Jahren seiner Tätigkeit anzukaufen, die nun in der Ausstellung des Frankfurter Kupferstichkabinetts „Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst“ zu sehen und teils nur in zwei oder drei Exemplaren erhalten sind, teils sogar weltweit Unikate darstellen.
Mein lieber Freund und Kupferstecher
Ebenfalls pragmatisch ökonomische Gründe hat die Entwicklung von Monogrammen im fünfzehnten Jahrhundert. Nicht erst Dürer signiert ab 1500 mit seinem AD aufgrund der massenhaften portugiesischen Raubkopien seiner Grafiken; schon sein großes Vorbild Martin Schongauer in Colmar und weitere große Meister der Schwarzen Kunst wie ES, FVB, PM, W oder IM (Israhel van Meckenem) verkürzten ihre Namen. Die als Vorlagen vervielfältigten Werke sollten mit ihrem Urheber verbunden bleiben, um die Hemmschwelle des Kopierens zu vergrößern. Die Ironie dabei ist, dass damals bekannte Größen heute nur noch mit ihren anonymen Initialen bekannt sind und man selbst einem der größten unter den frühen Kupferstechern, dem „Meister ES“, keinen realen Namen mehr zuordnen kann. Da es aber schwierig ist, Schrift seitenverkehrt für das Drucken in das Kupfer zu gravieren, lag es arbeitsökonomisch nahe, den Namen auf zwei, maximal drei Buchstaben zu schrumpfen. Eine weitere Ironie bildet der Fakt, dass IM Israhel van Meckenem, mit über siebenhundert Kupferstichen einer der fleißigsten seines Metiers, vor allem mit Nachstichen wie Schongauers Weihrauchfass und Bischofskrümme berühmt wurde, wobei er letztere durch noch mehr Prunk übertraf.
Die Stammeltern als technische Herausforderung.
Obwohl vor dem Sündenfall noch Frieden herrschen sollte unter den Tieren, wirkt es, als wolle Dürer mit dem gespannten Auflauern der Tiere andeuten, dass alles nur auf den Startschuss des lapsus humani generis wartet. Einzig der Steinbock auf dem Felsvorsprung weit hinten ist für sich und blickt friedlich in die Natur. Er ist ein direktes Zitat des Stichs „Versuchung Christi“ des LCz (lange für den Bamberger Lorenz Catzheimer gehalten), der Dürer in Nürnberg vielfach inspiriert hat. Solches Grüßen der Künstler über die Jahrhunderte hinweg kann nur ein außergewöhnlich reicher Bestand wie jener des Frankfurter Kupferstichkabinetts aufzeigen.
Am fesselndsten ist dieses Reisen von Formen über Städte und Länder hinaus auf dem größten bildmäßigen Kupferstich des fünfzehnten Jahrhunderts, Schongauers Kreuztragung: Filmisch rollt sich der Horrortrupp vom wüstenheiß grell überblendeten Jerusalem rechts im Tal hin zu der grau verschatteten Schädelstätte Golgotha ab. Exakt über Christi Haupt, der an einer Felsstufe stürzte, verfinstert sich der Himmel. Fast zweihundert Jahre später greift Rembrandt die dramatische Lichtregie in seiner wichtigsten Grafik, dem Hundertguldenblatt der Kreuzigung auf. Der besondere Stolz seiner Grafiksammlung waren: Schongauers Stiche.
Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst. Städel, Frankfurt; bis 22. Januar 2023. Der Katalog kostet im Museum 39,90 Euro.