Mittwoch, 2. Juli 2025

Begriffe ohne Anschauung, Anschauung ohne Begriff.

Sehhilfe                                      zu  Philosophierungen  

Der Grund-Satz - der Satz, auf dem das ganze Lehrgebäude gründet - der Kant' schen Kritischen Philosophie heißt Begriffe ohne Anschauung sind leer und An-schauungen ohne Begriff sind blind. Zusammengenommen bedeuten sie beide: Wirkliches Wissen gibt es nur aus der Erfahrung. Da ist eine ganze Welt (!) drin enthalten. Das Unglück der westlichen Vernunft war, dass es diesem Gedanken bis heute nicht gelungen ist, tief in unser Bewusstsein zu dringen. Und zwar weil, wie vor Kant, die Begriffe zu hoch und die Anschauung zu gering veranschlagt werden. Dem muss endlich abgeholfen werden.

Unsere Sinne zeigen uns an, was in Raum und Zeit vorkommt. Was nicht in Raum und Zeit vorkommt, ist nicht wirklich. Denn unsere Sinne haben sich entwickelt, um uns anzuzeigen, was in Raum und Zeit vorkommt.
5. 6. 22 

 

 

Dienstag, 1. Juli 2025

Lässt sich Lucian Freuds Malerei rechtfertigen?

    zu Geschmackssachen

Vorab: Kunst bedarf keiner Rechtfertigung. Wer malt und musiziert, bedarf nieman-des Erlaubnis oder auch nur Duldung; nicht, solange er niemanden in seiner Privat-sphäre berührt.

Wer aber 'Kunst macht', tut es eo ipso nicht für sich, sondern für ein - und sei es virtuelles - Publikum. Den Unterschied macht die Distanz. Auch ein Maler ganz sich rein anschaulich in eine Szene verlieren und seinen Pinsel ganz dem Anblick überantlassen. Sobald er aber malt, um es zu zeigen, braucht er schon für sich selbst einen vertretbaren Grund. Dass die ästhetische Qualität selber ein hinreichendes Motiv sei, hat sich im neunzehnten Jahrhundert zumindest in der Avantgarde durchgesetzt, die es seither überhaupt erst gibt.

Das Ästhetische ist Sache des Geschmacks. Die Währung, die in Geschmacksdin-gen gilt, ist das Gefallen. Gefallen hat einen Fluchtpunkt, auf den alle seine Urteile ausgerichtet sind: Das Schöne. Sein Gegenteil ist nicht, wie man meinen könnte, das Hässliche, sondern das Unansehliche, Gewöhnliche und Langweilige. Dem gegen-über hat das Hässliche durchaus Relief und kann in mannigfaltiger Weise zum Schönen in Kontrast gestzt werden und Gefallen finden.  

Es ist eine Frage des Verhältnisses. Und dies, weil es im menschliehen Bereich nicht nur Schönheit, sondern viel mehr Hässliches gibt. Schönheit ist keine Sache von all-täglichen Verrichtungen. Schönheit bedarf der Reflexion. Nicht in dem Sinne, dass sie es sei, "die Schönheit schafft". Sondern in dem Sinne, dass es eines Willensakts bedarf, um sich vom Alltagsgeschäft los zu reißen und zu zweckfreiem Betrachten zusammen zu raffen: dass er sich willentlich in den ästhetische Zustand versetzt.

Der Künstler, dem das bewusst ist, darf einem - ihm in der Regel nicht vorab be-kannten - Publikum ruhig ein bisschen was zumuten, und ein Publikum, dem er bekannt ist, wartet sogar darauf.

Sind Julian Freuds fette Fleischberge ästhetische Phänomene, die es wert sind, der Öffentlichkeit vorgeführt zu werden? Hässlichkeit ist wie Schönheit ein ästhetisches Datum, es fragt sich nur, wie erheblich es ist. Nachdem die Kunst sich eine längere Zeit - meist mehr aus ideologischen als ästhetischen Motiven - darauf konzentriert hat, Hässliches darzubieten, kann sie sich zum Beispiel darauf konzentrieren, im un-erheblich-Gewöhnlichen Schönheiten aufzusuchen. Hässlich ist im Alltag so viel Mehr als schön, dass es nicht eben erheblich wirkt und als solches dargestellt zu werden verdient. 

Dass in der europäischen Kunst seit den fünfziger Jahren das Wohlgestalte über-wogen hätte, kann man nicht sagen, und man musste sich nicht genötigt finden, dagegen anzuschrillen. Dass Freud nie aufgehört hat, gegenständich und gar fi-gürlich zu malen, war antizyklisch genug. Sein Freund Francis Bacon hatte es vor-gemacht, doch gegen den musste er sich behaupten. Für einen Künstler ein ver-ständliches Motiv, aber rein privat und jedenfalls nicht ästhetisch.

Es ist hier wohlverstanden nicht die Frage, ob Freud das durfte. Das ist sowieso keine ästhetische Frage. Die ist vielmehr, ob es erheblich genug ist, dass ich mich aufgefordert fühlen müsste, mich damit 'auseinanderzusetzen', auch wenn es mir nicht gefällt. Das tut es nämlich nicht. 

Das ist die öffentlich bekannte Seite von Freuds Malerei. Viel weniger bekannt, aber wohl nicht we-niger an der Zahl, sind seine Landschaften und "Pflanzen- und Blumenporträts". In der Machart sind sie kaum weniger pingelig-genau als die Aktbilder, aber gehören in eine andere Welt. Es ist die altbe-kannte Schönheit im Kleinen und nicht Zauber des Hässlichen. Es ist stille Anschauung und ganz und gar nichts Besonderes. Mir gefällt es gut, und für meinen Geschmack ist es Kunst genug. Aber natür-lich war es nicht das, womit er seine künstlerische Stellung behauptet hat. Ich schmeichle mir mit der Vorstellung, er habe es gemalt, um sich von den Scheußlichkeiten zu erholen.
JE 











 

 

Begriffe verrechnen und Vorstellungen nachbilden.

Egal, welcher Ausdrücke er sich bedient: Wer sagt, dass sich etwas ändert, unter-scheidet eo ipso zwischen einer Substanz, die so heißt, weil sie den Phänomenen zugrunde liegt, und einer Azidenz - die so heißt, weil sie hinzu kommt. Die Wörter mögen ihm fehlen, aber dass er unterscheidet, macht seine Vorstellung aus: nämlich von etwas, das geschieht. Das muss man verstehen; das, was ist, bräuchte man nur anzuschauen.

Was man aber als Substanz und was man als Akzidens auffasst, ist freilich eine Fra-ge der Perspektive. Die Idee, das Ewige Werden sei das eigentlich zu Grunde Lie-gende, stand fast am Anfang der Philosophiegeschichte. Sie hatte zum Preis, das Werden als bloßen Schein, nämlich als Ewige Wiederkehr auffassen zu müssen. Mit andern Worten: Werden und Vergehen als Substanz und das scheinbar Bleibende als Akzidenz aufzufassen, ist pragmatisch unergiebig. 

Doch damit ist eigentlich alles gesagt. Pragmatisch ergiebig, nämlich für Schlussfol-gerungen (und womöglich die Lebensführung) brauchbar ist dies: Veränderung ist sinnvoll nur als Folge absichtsvoller Tätigkeit aufzufassen (weshalb unsere animi-stisch gesonnenen Vorfahren hinter allem Geschehen willensgegabte Subjekte an-nahmen). Das war der historische Ausgangspunkt der Vernunftentwicklung, er führte zur Ausbildung des Kausalitätsprinzips als harter Kern der Vernunft, und schließlich in der Transzendentalphilosophie zu seiner kritisch-dialektischen Über-windung.

Dem Verfasser des Obigen sei gesagt: Mit dem Definieren und semantischen Dre-hen und Wenden von Begriffen lässt sich gedanklich nicht viel ausrichten. Es ist ohne Ende und klingelt lediglich im Ohr. Es geht um das, was man sich vorstellen kann, will, muss. 

Bei den Begriffen kann man nach Belieben immer wieder vor und zurück und zu den Seiten. Bei den Vorstellungen ist es anders. Da kann eine nur aus einer anderen hervorgehen, doch andersrum kann man - und muss daher auch - nur die andere als der einen vorausgesetzt denken. Mit andern Worten, das Vorstellen hat eine Rich-tung: Es geht vom relativ Unbestimmten zum relativ Bestimmteren; es kommt neu-er Sinn hinzu. Während die Begriffe einander erschöpfen. An den Begriffen ist näm-lich die tätige Seite ausgelöscht, während zum Vorstellen immer der Vorstellende und sein Tun hinzugedacht werden. 

Kommentar zu 'Nichts ist so beständig wie der Wandel.' JE 24. 5. 19

 

Nachtrag. Begriffe kann man in Tabellen setzen und gegeneinander verschieben wie Schachfiguren. Die erzählten Vorstellungen der Andern muss man zu anschaulichen Bildern erst wieder umformen. Und da die Anderen ihre angeschauten Bilder erst zu Wörtern umgeformt haben, um sie mitteilen zu können, öffnet das anschauliche Rückbilden der Phantasie ein weites Feld der Ausdeutung. Die Begriffe sind dage-gen bestimmter, die Vorstellungen waren - und werden wieder - farbiger. Was Stärke des einen und was Vorzug der andern ist, hängt von den Umständen ab.
JE 

Begriffe ohne Anschauung, Anschauung ohne Begriff.

Sehhilfe                                         zu  Philosophierungen     Der Grund-Satz - der Satz, auf dem das ganze Lehrgebäude gründe...